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20. April 2024

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Nie mehr ohne Internet

Nie mehr ohne InternetPhotos.com

Die Teilnahme ist längst nicht mehr optional, Vordenker sind keine Nerds mehr, und Intelligenz im digitalen Raum wird demnächst so wichtig wie grundlegendes Rechnen: eine Bilanz der Kulturrevolution Internet.

Als das brasilianische Pärchen für ein paar Jahre in Italien wohnte, wurde der Computer alle zwei Wochen auf dem Esstisch platziert, die beiden machten sich ein bisschen feierlich zurecht, starteten die Videochat-Software Skype und aßen mit ihrer Familie, die einen Ozean und vier Zeitzonen weiter westlich am Tisch saß, zu Abend. Stefana Broadbent, Technologie-Anthropologin am University College London, nennt das „Demokratisierung von Intimität“: wenn sich Leute technologieunterstützt und mitunter mitten im Trubel des öffentlichen Lebens Zeit für Familie und Privatleben nehmen.
Dabei waren Broadbent und ihre Soziologenkollegen zuerst enttäuscht. Viele Internetnutzer haben Hunderte Freunde – auf Facebook, Chat-Listen und im Telefonbuch auf dem Handy. Wirklich persönlichen Kontakt pflegt der Großteil aber nur mit einer Handvoll Leute. Alles wies auf eine soziale Abkapselung hin, hervorgerufen durch das Internet. Doch dann fielen den Forschern die Situationen auf. „Vor 15 Jahren gab es während der ganzen Arbeitszeit keinerlei Kontakt mit dem Privatleben“, erläutert Broadbent im Juli auf der TED-Konferenz. Einzig Manager mit eigener Telefonleitung hätten die Freiheit privater Gespräche genossen. Die digitale Kommunikation führte hier Demokratie ein. Heute können auch Fabriksarbeiter ihr Handy für eine SMS zücken und Kontakt mit ihren Lieben herstellen. Und die einfache Familie, von der Broadbent erzählt, die aus dem Kosovo in die Schweiz flüchtete, frühstückt nicht nur alle zwei Wochen, sondern sogar jeden Tag mit ihrer Großmutter in der alten Heimat, ebenfalls via Skype.

Aus nichts wird alles
Das Internet hat die Medienbranche, die Musikindustrie und die Art, wie Freundschaften gepflegt werden, umgekrempelt. Es bringt Wissenschaftler über Grenzen hinweg zusammen, den Staat näher an seine Bürger heran und stellt den Bürger mittels Blogging seinem inneren Schriftsteller vor. Was zuerst Konsum-Web war, ist heute Mitmach-Web. Für jeden Lebensbereich sind online Tipps und Meinungen verfügbar, die sich sofort und zunehmend auch ortsbezogen abrufen lassen. Das Web ist Auskunftsbüro, Nervensäge, Zufluchtsort, allwissende Müllhalde, Lebensraum. Das Web ist überall.
Seit ein Intelligenzquotient für alles Digitale immer gefragter ist, werden Nerds kreative Vordenker genannt, die lediglich ein bisschen zu viel Zeit vor dem Computer verbringen. In seiner Frühzeit war das Internet nur einer technischen Elite zugänglich. Für den Laien schien es damals, auch wenn er im Netz „drin“ war, dass da kaum etwas war. Heute befindet sich fast kein Lebensbereich mehr außerhalb des Netzes. „Das alles passierte nicht über Nacht, aber es fühlt sich eindeutig so an“, schreibt Autor J. R. Okin in seinem Buch The Internet Revolution. Die umwälzende Veränderung wirft für Okin eine wichtige Frage auf: Gab es vorher eine Art Vakuum, in dem sich das Internet so stark ausbreiten konnte?
2010 schafft es das Internet jedenfalls, gemeinsam mit 237 Personen und Organisationen, unter die Nominierten für den Friedensnobelpreis. Seit mehreren Jahren setzen sich die italienische Redaktion des Technologiemagazins Wired und Nicholas Negroponte, Professor am Massachusetts Institute of Technology, für die Nominierung ein. „Das Internet kann als erste Massenvernichtungswaffe verstanden werden, die wir zur Vernichtung von Hass und Konflikten sowie zur Verbreitung von Frieden und Demokratie einsetzen können“, argumentiert Wired-Chefredakteur Riccardo Luna.

iPods anstatt Bomben
Dass man den Leuten nur Technologie und Konnektivität an die Hand geben muss und der Friede käme von allein, bezweifelt Evgeny Morozov, Journalist, Buchautor, Blogger und derzeit Fellow an der Walsh School of Foreign Service der Washingtoner Georgetown University. Morozov bezeichnet als Trugschluss und „iPod-Liberalimus“, „dass jeder einzelne Iraner oder Chinese, der zufällig einen iPod besitzt und liebt, gleichzeitig auch eine liberale Demokratie lieben sollte.“ Als Beispiel nennt er den Völkermord in Ruanda. Dort hätte sich der Hass erst so richtig durch Einmischung der örtlichen Radiostationen ausgebreitet. „Dass wir iPods anstelle von Bomben abwerfen sollten, würde einen eingängigen Titel für ein neues Buch von Thomas Friedman abgeben“, erklärte Morozov und meinte damit: Zu mehr eignet sich das Konzept nicht.
Vielmehr würden Diktatoren das Internet zu Propagandazwecken missbrauchen und es zu einem „Spinternet“ umbauen, eine Wortzusammensetzung aus „Spin“ (schnell drehen, wenden) und Internet. Damit seien die Regierenden oft erfolgreicher als mit Zensur allein.
Aus Morozovs Sicht taugt das Internet nicht einmal als Mobilisierungswerkzeug. Statt dass es junge Leute zu Protest und Mitgestaltung auf die Straße treibt, sei es „das Opium des Volkes“, das die Menschen brav in ihren Wohnzimmern festhält: „Auf jeden digitalen Abtrünnigen können zwei digitale Gefangene kommen“, formuliert Morozov.
Nicht von der Hand zu weisen ist freilich, dass das Internet den Zugang zu Informationen und Wissen vereinfacht. Geht es nach Vertretern der sogenannten Open Source Education, dann sind dank Web auch gleich die Tage mittelmäßiger, teurer Universitäten gezählt. Technologieautor Kevin Maney etwa ist überzeugt, dass günstigen Onlinekursen die Zukunft gehört, zumal es Unis keinesfalls für sich gepachtet hätten, Wissen zu vermitteln. Die Umsetzung ist, mit ein paar Ausnahmen, noch Zukunftsmusik. „Zurzeit gibt es noch keine MP3-Version eines Hochschulstudiums“, so Maney und spricht damit insbesondere die Verhältnisse in den USA an. So würde es einfach keinen Masterabschluss geben, der organisatorisch einfach zu erlangen, überall hoch anerkannt und gleichzeitig kostengünstig sei. Die Nachfrage steht für Maney allerdings außer Zweifel: Studenten würden traditionelle Unis genauso sicher aufgeben wie die Musik-CD.

Dunkles Zeitalter
Die nur noch digitale Aufbewahrung von Texten, über Audioaufzeichnungen bis hin zu Bildern und Video, führt zu einer neuen Vergänglichkeit. Zur langfristigen Aufbewahrung müsste sowohl die Langlebigkeit der Datenträger als auch ihrer Lesesysteme gewährleistet sein. Bei beidem hapert es.
„Die Schriftrollen vom Toten Meer, aus Pergament und Papyrus hergestellt, sind immer noch lesbar und sollen vor mehr als 2000 Jahren entstanden sein. Meine kaum zehn Jahre alte Diskette hingegen ist weitgehend nutzlos“, schreibt Computerwissenschaftler Kurt Bollacker im American Scientist über einen Datenverlust aus seiner Highschool-Zeit in den 80er Jahren. Er hatte auf mehreren 5 1/4-Zoll-Disketten ein Back-up angelegt. Einige Jahre später wollte er die Dateien auf seinen Computer kopieren, fand aber die Diskette mit dem Back-up-Programm nicht mehr. Da sich das Softwareunternehmen vom Markt zurückgezogen hatte, waren Bollackers Daten verloren.
Im großen Rahmen könnte ein solcher Verlust in eine Art digitales Mittelalter führen: sodass künftige Generationen keine Möglichkeit mehr haben, herauszufinden, was uns bewegte.
Bollacker argumentiert, dass uns bloß ein Stück Erfahrung mit den noch recht neuen, digitalen Datenträgern fehlt. Denn je älter das Medium ist (Pergament versus Diskette), umso haltbarer erweist es sich schließlich.

Economy Ausgabe 83-04-2010, 30.04.2010