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28. März 2024

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Es hat etwas gefehlt

Es hat etwas gefehlt© Bilderbox.com

Im dritten Teil zur Entschleunigung des Sommers lässt Shlomo die soeben zu Ende gegangene Fußball-WM Revue passieren und erörtert warum das frühe Aus von Deutschland nur ihn schmerzte, wieso Kroatien zumindest erster Weltmeister der Herzen geworden ist, warum Frankreich würdiger Meister der Welt wurde und wieso Russland als Veranstalter einen sehr guten Job gemacht hat.

(Christian Czaak) Wie nun bereits schon (immerhin) zwei Mal übermittelt, fahren wir während der Sommermonate die betriebliche Betriebsamkeit herunter und widmen uns Geschichten der menschlichen Betriebsamkeit, die ansonsten möglicherweise nur reduziert oder zumindest zu wenig, beziehungsweise zu gering beleuchtet werden - und daher entsprechend richtig, von der Basis über die Seiten bis zum Überbau, ausgeleuchtet gehören.

In der Fußball-Kantine
Im aktuellen Text mit neuerlichem Verwendungsverbot von Begriffen wie Optimierung, Effizienz, Konsolidierung oder (gar) Return of Investment (ROI) erinnert sich unser (neuerliche Anm.: extra konzipierter) Shlomo Abdullah an die Höhepunkte der nunmehr auch schon wieder abgelaufenen Fußball-WM und entdeckt dabei überraschenderweise auch mehrere Mittel- sowie einige Neben- wie Tiefpunkte. Er versucht hier nun entsprechend auch etwaige gesellschaftspolitische Ursachen zu ergründen und daher stellt sich auch diesmal die Frage: Kann das funktionieren?
Am Rückweg seines letzten Entdeckungsspazierganges (Anm.: Der mit den regelrecht epochal schillernden türkisfarbenen Schlingpflanzen...) muss Shlomo an das letzte WM-Spiel des deutschen Teams denken. Der Jugendfußball-Verein der burgenländischen Heimatgemeinde am Zweitwohnsitz von Shlomos Schwester Mariella hat das Spiel während des saisonalen Abschlussfestes in der Kantine übertragen und rund dreißig Kinder zwischen neun und elf Jahren sowie mehrere Väter waren anwesend. In der Schlussphase des Spiels nahmen die emotionalen Erregungszustände aller Anwesenden zu und jung wie alt outeten (deutsch: äußerten) sich als augenscheinlich mögliche Deutschland-Ha..., äh, Nichtfreunde.

Die Kleinheit des Landes und die Köpfe seiner Menschen
„Der kaun ned amoi an Hydranten überspü’n.“ „Deutschland ausse!“ „Ha, diesmal ist Schluss mit dem ewigen Glück!“ „Das sind bessere Badekicker.“ „Da sind ja wir noch besser!“ „Ausse, ausse, ausse mit da S... !“ Shlomo fühlt sich an seine eigene Jugend in der Wiener Vorstadt erinnert. Auf der Zweier-Stiege am Wiener-Sportclub-Platz an der Hernalser Alszeile am Fuße des Schafberges klang es spätestens kurz vor Schluss der jeweiligen Partie nahezu gleich und das war bitte gegen Ende der 1960-er. Aber hier im Burgenland und jetzt? Kinder von gutsituierten Landwirten, Managern, Tourismusbetriebsfamilien oder Richtern und Juristen sprechen Wiener Vorstadtdialekt? Das kann nur mit den Deutschen zu tun haben. Echt jetzt, weil bereits in der Volksschule wird hier, wie auch in Shlomos Weinviertler Heimatgemeinde die Antwort „römisch-katholisch“ auf die Frage nach dem Religionsbekenntnis von Familie und Kindern mit einem „Ah, sehr gut!“ kommentiert.
Shlomo denkt an einen Satz seiner einstigen Deutsch-Professorin - eine, nicht nur optisch strenge Dame mit Brille und hochgesteckten Haaren, mit schicken Kostümen und mit, für die damalige Zeit (in den frühen 1970-ern), hochhackigen Schuhen und als solch’ überaus weiblich-mütterliche Erscheinung, möglicherweise, Inhalt erster erotischer Gedanken und eventueller Träume pubertierender Burschen aus dieser Wiener Vorstadt. Aber weg vom Abschweifen und zurück zum bewussten, eventuell situationserhellenden Satz dieser Deutsch-Expertin: „Die Kleinheit des Landes (Anm.: Österreich) setzt sich, zumindest manchmal, dann auch in den Köpfen seiner Menschen fort.“

Die Sprache der Wiener Vorstadt
Das hat was denkt sich Shlomo. Er selbst äußert sich, auch als grundsätzlicher Verteidiger von Außenseitern und Minderheiten, als Deutschland-Anhänger und wird ungläubig und erstaunt angesehen – von der Seite und von hinten, dann wagen sich Erste auch neben und leicht vor ihn. Shlomo spürt und sieht (sodann) die bohrenden Blicke und bekräftigt: „Ich mag das Deutsche-Fußballteam.“ Sozusagen als ergänzende Erläuterungsuntermauerung folgt: „Schaut’s euch doch die Bundesliga an. Absolut hochwertig! Und unsere? A bessere Bodbatie!“ Auch Shlomo kann noch die Sprache der, seiner Wiener Vorstadt. Auch nach fast zehn Jahren im niederösterreichischen Weinviertel. Egal, was heißt schon Weinviertel und zehn Jahre - auf jeden Platz dieser Welt und auch mit sechsundneunzig würde er seine Sozialisierung nicht vergessen. Niemals.
Aber woher kommt nun wirklich dieses grundsätzliche Deutschland-Bashing? Oder ist es einfach nur eine Reaktion auf die ja umgekehrt auch oftmals geäußerte Verspottung. Stichwort Ösis und so. Wobei, seit der neuen österreichischen Regierung und mehreren Artikel und Kommentaren in deutschen Leitmedien wie Der Spiegel, Die Zeit oder FAS (Frankfurt Allgemeine Sonntagszeitung) sowie Auftritten in televisionären deutschen Gesprächsschauen kann sich das schon verändert haben und einige Aktionen könnten nun sogar vorbildliche Wirkung haben. Allerdings nicht im fußballesterischen Sinne sondern im gesellschaftspolitischen. Womit Shlomo wieder die enge Verzahnung dieser beiden Bereiche bewusst wird.

Die Kleinen gegen die Großen
Fußball ist wie Politik und Politik ist wie Fußball. Und das trifft wiederum nicht nur auf Deutschland sondern auch auf Frankreich zu. Und auf Kroatien sowieso. Shlomo denkt an die medial aufgebauschten „Skandale“ rund um die türkisch-präsidialen Gespräche der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan und unfaire Schuldzuweisungen der deutschen Fußballmanager. Das wäre etwaig eine Erklärung für die Antipathie. Es muss aber doch anders begründet sein. In Frankreich haben die meisten Stars wie Mbappe, Dembele, Matuidi oder Pogba Migrationshintergrund und das ist medial nicht einmal eine Randnotiz. Wie auch immer, den WM-Titel hat sich Frankreich spielerisch verdient. Das frühe Ausscheiden Deutschlands hat ein spielerisches und dramaturgisches Loch aufgerissen. Shlomo hat das deutsche Team in Folge vermisst, ebenso wie die Brasilianer.
Die Kroaten (und auch die Russen) haben dieses Loch mit ihrer Leidenschaft nahezu geschlossen. Die Krönung wäre der Finalsieg und WM-Titel gewesen. In der Politik können die Kleinen gegen die Großen weitgehend nicht mehr bestehen, in der Wirtschaft dank des Internets immer öfter schon. Im Fußball und im Sport generell schon, da kann auch David gegen Goliath siegen und zumindest moralisch aus dem Spielverlauf haben das die sympathischen Kroaten bei dieser WM gemacht. Unvergesslich der nach dem Halbfinalsieg vor Glück weinende Dejan Lovren mit dem fingerformenden Herzen in die Kamera und die simple und wahrscheinlich gerade deshalb so mitfühlende Aussage des kroatischen Teamchefs Zlatko Dalic nach dem formal verlorenen Finale: „Ich wäre so gerne Weltmeister geworden.“

Die Piefkes und die Ösis
Für Shlomo sind die Kroaten die Weltmeister der Herzen. Und die Russen ein weltmeisterlicher Veranstalter, der mit entsprechend russischen Mitteln mögliche Krawallbrüder, vulgo Hooligans, bereits lange im Vorfeld landesweit und nachhaltig zum Verstummen brachte. Deutschland ist spielerisch verdient ausgeschieden, für das weitere Turnier war es trotzdem schade. Wenn genügend Zeit vergangen ist, wird Shlomo all das zumindest mit den Vätern der Weinviertler-Fußballjugend erörtern. Dem Vernehmen nach haben mehrere Väter zumindest auch für Kroatien die Daumen gedrückt, einige für Frankreich. Beim nächsten Turnier könnte dann Deutschland an diese Stelle rücken. Es sei denn Österreich wird doch noch zum David, dann kann Deutschland ruhig auch noch mal den (fallenden) Goliath spielen.
Und dann müssen die Piefkes zum Lachen tatsächlich in den Keller gehen und die Ösis dürfen sich wenigstens kurzfristig auf die Schenkel klopfen. Alles aber bitte nur sprichwörtlich. Shlomo hält inne, er erinnert sich an seine elterliche Vorbildwirkung. Luke und Helen, seinen Kindern, diese Begrifflichkeiten zu erläutern, könnte möglicherweise schwierig werden. Oder gar peinlich. Kinder vergessen nahezu nichts und probieren insbesondere neue Worterkenntnisse gerne in der Praxis aus. Auch Kasandra, Shlomos Frau, wäre mit Sicherheit nicht begeistert, höflich formuliert, und die entsprechenden Folgen will sich Shlomo lieber gar nicht erst ausmalen. Nicht jetzt, es ist Urlaubszeit. Lieber ein passender Song, gewidmet allen Vätern und allen Siegern wie Verlierern wenn sie von der getanenen Arbeit heim kommen.

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red/czaak, Economy Ausgabe Webartikel, 17.07.2018