Die Jugend und ihre Neuen Medien

Die Mediennutzung von Jugendlichen hat stark an Bedeutung gewonnen und prägt ihren Alltag maßgeblich. Smartphones, Soziale Netzwerke, Streaming und Gaming sind fixe Bestandteile. Digitale Medien bieten Chancen für Kommunikation, Wissen und Kreativität, sie bergen aber auch Risiken wie Ablenkung, Suchtgefahr oder Vereinsamung. Ein bewusster Umgang wird daher immer wichtiger.
Im aktuellen Dossier beleuchten wir einige aktuelle Entwicklungen rund um diese Themen. Die Geschichten dazu ausgewählt, recherchiert und geschrieben hat Laurin Czaak (17, HAK-Schüler und Autor von economy).
Krisensicheres Sparen fürs Enkerl

Sie sind die Großeltern der heutigen Investmentklubs. Rüstig und sehr aktiv. Die rund 20.000 Sparvereine Österreichs stellen in der Finanzwelt nur ein Randphänomen dar, vomAussterben sind sie jedoch weit entfernt.
Sie treffen sich jeden Donnerstagabend um zu plaudern, zu essen, ein Glaserl Wein oderBier zu trinken und um zu sparen. Karl, Erika und Hermi gehören zum harten Kern eines35-köpfigen Sparvereines. Werd abei eine Stammtischrunde in einem rustikalen, ländlichenWirtshaus vor Augen hat, liegt völlig daneben. Keine rot-weißkarierten Tischtücher, keine Sparvereinskästen, die gefüttert werden. Stattdessen wird die wöchentliche Einzahlung aufs Vereinskonto von Hardrock-Rhythmen und dem Duft von Thunfisch-Tramezzini begleitet. Dass das Szene- und Veranstaltungslokal „Aera“ in der Gonzagagasse in Wien 1 einen Sparverein beherbergt, hat dieMitarbeiter der economy-Redaktion, die vis-à-vis vom „Aera“ beheimatet ist, belustigt und in ungläubiges Staunen versetzt.Doch jeden Donnerstagabend kann man sich davon überzeugen : Der „Sparverein Aera“ ist keine aussterbende Kuriosität, sondern eine lebendige Institution, die auf ein langes Bestehen zurückblicken kann.
Vom „31er“ ins „Aera“
Als Vereinspräsident fungiert SPÖ-Bezirksrat Karl Grasser, der sich neben Umwelt- und Verkehrsbelangen der Inneren Stadt auch um den Fortbestand des Sparvereines kümmert. Gemeinsam mit Gattin Erika hat Grasser vor 20 Jahren den „31er-Sparverein“ gegründet, benannt nach dem Gasthaus „Zum 31er“ am Schottenring, wo der Verein ursprünglich beheimatet war. „Wir sind damals von Niederösterreich nach Wien gezogen, und da hat mich die Anonymität der Großstadt schon einbiss’l gestört“, beschreibt Frau Grasser ihre Beweggründe, die zur Gründung des Sparklubs geführt haben. „Für uns war’s eine willkommene Gelegenheit, um Freunde und Nachbarn zu treffen und den Kontakt regelmäßig zu pflegen.“Ebenfalls seit Beginn mit von der Partie ist Hermi Kavale, die als Vereinskassierin fungiert.„In unseren Glanzzeiten hatte der Verein 77 Mitglieder – heute sind wir noch 35.“ Damals(1988) gab’s von der Bawag, die das Vereinskonto betreut, 3,75 Prozent Zinsen für das Ersparte.Heute ist der „31er“-Wirt imRuhestand und der Zinssatz von2,5 Prozent im Jänner auf 1,25Prozent (März) geplumpst. EinUmstand, den die buchführende Funktionärin achselzuckend zur Kenntnis nimmt. „Immerhin ist die Verzinsung für jederzeit behebbares Geld bei uns nach wie vor besser als für Einzelpersonen.“ Hermis eigentliches Bedauern gilt dem Mitglieder schwund und der Schließung des „31ers“,ist doch ihrer Meinung nach die derzeitige Location schuld daran, dass nur mehr ein kleiner Teil der Mitglieder regelmäßig zu den Vereinstreffen kommt.„Im ‚31er‘ war die Küche gut, und es war urgemütlich“, betont die Kassierin und wirft einen verächtlichen Blick in Richtung mondän gestylter Bar, wo eine Gruppe junger Menschenlebhaft über Österreichs Bildungsmisere diskutiert. Das Essen sei zwar auch im „Aera“ nicht schlecht, aber das Ambiente ist halt nicht grad das Ihre, gesteht Hermi.Pleite für Vereinslokal
Dabei ist es ohnehin fraglich, ob die Treffen auch weiterhin im „Aera“ stattfinden können. Denn das Vereinslokal ist pleite, ein Konkursverfahren läuft bereits. Wenn sich kein Käuferfür das Wiener Innenstadtlokal findet oder der neue Eigentümer kein Vereinsfreund ist, müssen sich die geselligen Sparefrohs erneut auf Herbergssuche begeben. Aber „wir geben nicht auf, wir sind ja flexibel“, gibt sich die Präsidentengattin optimistisch. Um auch wirklich flexibel zu bleiben, hat der Verein im Oktober des Vorjahres, also zu Beginn der weltweiten Bankenkrise, ein Lockangebot der Bawag abgelehnt. Die Bankversuchte dem Verein höhere Zinsen schmackhaft zu machen, unter der Bedingung, ein Jahrlang keine Auszahlungen durchzuführen. „Aber das wollten wir nicht. Wir schätzen doch gerade diese unkomplizierte Sparform sehr, bei der man ungebunden ist. Außerdem geht’s uns garnicht vorrangig um die Zinsen, sondern um den Spaß, den wir bei den Treffen haben“, betonen die Vereinsfunktionäre. Von der benachbarten Mindestpensionistin, die monatlich100 Euro fürs Enkerl einzahlt, bis zur jüngeren Tochter desArbeitskollegen erscheinen die meisten Mitglieder mehr oderweniger regelmäßig zu den Vereinstreffen. Der Rest überweist via Dauerauftrag. Eingezahlt werden im Schnitt zwischen 20und 100 Euro pro Monat. Der jährliche Auszahlungstag, der bei Mitgliedern und Bank angekündigt werden muss, findet Ende November statt, also rechtzeitig zum Start der Weihnachtseinkäufe. Das Gros der Mitglieder spart, um das Weihnachtsgeld aufzubessern, oder für eine Reise.Sparen im Betrieb
Einen erheblich höheren Anteil am österreichischen Sparguthaben erarbeiten aber jeneSparvereine, die in Betrieben angesiedelt sind. Eine Tradition, deren Wurzeln in der Arbeitebewegung zu finden sind und die von der Bawag gehegt und gepflegt wird. 4300 Sparvereine bestehend aus 300.000 Einzelsparern aus Betrieben, Ämtern und Pensionistenklubs zahlenregelmäßig auf ein gemeinsames Konto ein. „Das Sparvolumen war im Vorjahr immerhin1,15 Milliarden Euro schwer. Die Tendenz ist steigend“, verrät Christian Bammer, Vorstand des Verbands Österreichischer Sparvereine (VÖS), der 1966 alsDachverband aller Sparvereine der Bawag PSK gegründet wurde. Im Gegensatz zu den kleinen Gasthaussparvereinen erhalten Betriebssparvereine von der Bawag auch einen höheren Zinssatz für ihr Erspartes – der zeit sind es im Schnitt 2,5 Prozent.Diese betriebliche Sparform, die meist von Betriebsräten insLeben gerufen wird, erfreut sich laut Bammer wieder großer Beliebtheit. Diesen Trendbestätigt auch Wolfgang Svab, der Betriebsratsvorsitzende von Unilever in Wien. „Viele Kollegen, die sich ihre Bausparverträge oder Lebensversicherungen auszahlen lassen, bringen ihr Geld jetzt zu uns in den Betriebssparverein, weil es dort sicher und angesichts kontinuierlich sinkender Zinsen gar nicht so schlecht zwischen geparktist. Da kommen seit Beginndes Jahres immer wiederBeträge rein, die sich durch aussehen lassen können.“ Bammer erwähnt größere Betriebe, deren Sparvereinskonten einSparguthaben von einer Million und mehr aufweisen. Und werweiß, vielleicht gelingt einem davon ein ähnlicher Coup wie dem im Jahr 1923 gegründetenSpar- und Kreditverein derFreunde und Angestellten der Julius Meinl AG, aus dem Jahre später die noble Privatbank des Julius-Meinl-Clans hervorging.Ausgewählter Artikel aus dem Jahr 2009
Veränderung : Angst essen Seele auf

Erfolgreiches Change Management soll die Mitarbeiter nicht verunsichern, sondern will sie zu profitablen Innovationen motivieren. Ultra-coole Zampanos der Vorstandsebenen sind in diesem Prozess meist weniger gefragt.
In Zeiten wie diesen – also in Zeiten ständiger Veränderung – ein Top-Manager zu sein, ist kein leichtes Schicksal. Zugegeben, ein durchaus lukratives. Aber eben kein leichtes. Josef Ackermann weiß ein Lied davon zu singen : Seit vier Jahren ist er Chef der Deutschen Bank, vor Kurzem wurde er für eine weitere kurze Amtsperiode wiederbestellt. Die angloamerikanische Presse feiert ihn als Lichtgestalt, die International Financial Review kürte die Deutsche Bank unter seiner Führung zweimal zur „Bank of the Year“. Das deutsche Managermagazin hingegen wirft ihm knallhart vor, die Bilanzen seiner Institution „schöngerechnet“ zu haben. Und analysiert, wie Ackermann unter anderem mit gezieltem Verscherbeln von bankeigenem Familiensilber, mit Jobkürzungen und Aktienrückkäufen eine Eigenkapital-Rendite von 25 Prozent vor Steuern sowie einen gestiegenen Börsenkurs erzielen konnte. Nun, wie man zu Josef Ackermann auch stehen mag, ob positiv oder auch negativ : Er repräsentiert jedenfalls einen Typus von Top-Manager, der sehr erfolgreich mit schnellen Veränderungen umzugehen weiß. Der daraus den maximalen Vorteil für seine Aktionäre herauszuholen versteht. Den Typus des knallharten Change Managers, der nicht lange fackelt und genau dafür von Investoren und Börsianern gefeiert wird. Als populärer Sympathie-Träger hingegen kann er sich nicht mehr profi lieren, nachdem er als Mitangeklagter im Mannesmann- Prozess erneut vor Gericht muss. Und ob seine Aktivitäten eher mittelfristiges Blendwerk oder wirksame Strategie waren, wird sich wohl erst in Zukunft mit Sicherheit erweisen.
Motivation statt Härte
Dennoch : Trotz seiner Erfolgsbilanz würde Ackermann wohl von keinem Experten für unternehmerischen Wandel als Idealtypus für einen Change Manager gesehen werden. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil etwas stärker als im Bank-Sektor der finanzielle Erfolg des Unternehmens in vielen anderen Branchen auf Gedeih und Verderb von der Motivation, der Einsatzbereitschaft sowie dem Wissen und der Kreativität der Mitarbeiter abhängt. Für einen in steter Veränderung befindlichen Markt konkrete Produkte für den Markt entwickeln oder Dienstleistungen den Kunden probat anzubieten, das stellt spezifisch andere Anforderungen an gelungenes Change Management. Kühl kalkulierte Härte ist jedenfalls in diesem Kontext nicht die wichtigste Eigenschaft einer Führungskraft, die Veränderungsprozesse initiieren oder begleiten soll, weiß der deutsche Change-Berater Stefan Mühleisen : „Die Auslöser des Wandels in den Vorstandsetagen vernachlässigen regelmäßig ein elementares menschliches Grundgefühl, das in Zeiten der Veränderung zuschlägt : die Angst vor neuen, ungewohnten Arbeitsbedingungen und vor Überforderungen. Denn : Zwingend notwendige Entwicklungen brauchen alles andere als verunsicherte Mitarbeiter.“ Eine Kerbe, in die auch Herbert Weinreich, Lehrbeauftragter für Innovation und Change Management an der International Business School ZfU im Schweizer Thalwil schlägt : „Es sind hier Verhaltensweisen, Methoden und Organisationsstrukturen erforderlich, die nicht Ängste provozieren, sondern die lustvolle Auseinandersetzung fördern, Wandel, Unsicherheit und die damit verbundenen Lebensängste als Chance erleben zu lernen.“ Weinreich belegt seine etwas grün-naiv wirkende Aussage mit konkreten Fakten aus der industriellen Produktentwicklung : „Wir müssen bei der Begleitung von Bewertungsprozessen neuer Produktalternativen häufig feststellen : Je größer die innerbetrieblichen Verlustängste der Beteiligten sind, desto eher wird ihre Neigung erkennbar, sich in harmlose, leicht umzusetzende Produktverbesserungen zu flüchten statt an riskanten, aber attraktiven Innovationen zu arbeiten. Eine Fehlhaltung, die allzu oft die Zukunftschancen auf dem Markt leichthin verspielt.“Und der Verlustängste gibt es in einem Change-Prozess sehr viele : den Verlust an Status, an Image, an Spielräumen, an Aufstiegschancen, an Kompetenzen. Eine gelungenes Veränderungsmanagement muss genau hier ansetzen, betont Weinreich : „Um mutige Produkterfolge in unsicheren, dynamischen Märkten zu erzielen, ist mit angstauslösenden Paradigmen zu brechen. Denn : Eine Nullfehler-Kultur führt im Innovationsumfeld häufig zu einer Nullbock-Kultur. Ein Teufelskreis beginnt sich damit zu drehen, der oft zur Lähmung der Innovationskraft führt.“ Ein Unternehmen, das den inneren Wandel bewusst forciert, damit es für die äußeren Bedingungen schnell aufeinander folgender Marktbedingungen fit wird oder bleibt, benötigt daher unverzichtbar und auf allen Ebenen Führungskräfte mit einigen wichtigen Kompetenzen.
Der ideale Change Manager
Welche dies sind, analysierte wiederum eine aktuelle Studie von Capgemini : „Veränderungen erfolgreich gestalten. Change Management 2005“, bei der mit Veränderungsprozessen vertraute Führungskräfte systematisch und repräsentativ befragt wurden : Als Top-Priorität ergab sich dabei die Kommunikationsfähigkeit (64 Prozent), dicht gefolgt von Zielorientierung (49 Prozent), Konfliktfähigkeit, Motivationsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen (44 Prozent). Dieses Kompetenzprofi l macht deutlich, dass ein idealer Change Manager den Prozess gut zu begleiten versteht, indem er durch klare Informationen die skeptischen Attitüden immer wieder ausräumen kann. Dass er motiviert und dabei den Fokus auf die avisierten Ziele beibehält. Und keineswegs konfliktscheu agiert : gegenüber opponierenden Mitarbeitern – und auch gegenüber jenen Vorgesetzten, welche den Prozess aus diversen egoistischen Gründen zu lähmen versuchen. Zugleich macht die zitierte Studie klar, dass bei dem Idealbild eines Change Managers der Akzent eher auf „Change“ denn auf „Manager“ zu setzen ist : „Verantwortlich sind am Ende des Tages andere, was sich am nachrangigen Stellenwert von Entscheidungsfähigkeit (15 Prozent) und Delegationsfähigkeit (vier Prozent) zeigt. Nicht unwichtig sind hingegen Aspekte der Glaubwürdigkeit wie authentisches Auftreten (29 Prozent), Vertrauenswürdigkeit (27 Prozent) und fehlende Angst vor Hierarchien (25 Prozent).Last but not least : Ein weiterer interessanter Widerspruch wird offenkundig, wenn die Capgemini- Studie die real verwendeten mit den als wünschenswert erachteten Tools zum Change Management vergleicht : Während in der aktuellen Realität das gewohnte Instrumentarium wie Workshops, Projektmanagement, persönliche Kommunikation und Entwicklung der Führungskräfte mit deutlichem Abstand vorherrschen, rangieren in der Vorstellung der Befragten spezifisch andere wünschenswerte Instrumente ganz weit vorn. Denn : Als absolute Top-Prioritäten sehen die befragten Change Manager Visionsentwicklung und Lernende Organisation, beides Werkzeuge, die in der heutigen Business- Wirklichkeit wegen ihrer Komplexität eher noch sehr vereinzelt zur Anwendung kommen. Vielleicht sollte uns das Stichwort „Vision“ aufhorchen lassen : Kann es nicht sein, dass die Befragten (aus einer kosmischen Ahnung heraus) in der Tat den Schlüssel für die nächste und wirksamere Form des Change Management benannt haben ? Der Vordenker Luc de Brabandère, im Zivilberuf Vice President der Boston Consulting Group, scheint davon zutiefst überzeugt zu sein, wenn er analysiert : „Die Geschwindigkeit der Veränderung hat sich weiter beschleunigt. Um wirksam und schnell reagieren zu können, ist Kreativität enorm wichtig. Es genügt nicht mehr, nur innovativ zu sein. Natürlich sollte ein Unternehmen ständig Neuerungen vornehmen. Kreativität ist aber mehr : Sie setzt das Vorhandensein einer neuen Vision voraus – eine grundlegende Veränderung der Wahrnehmung, wie die Dinge sind und wie sie sein sollten oder könnten. Die Dinge müssen in einem völlig neuen Licht, aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Unternehmer verwechseln leider oft Innovation und Kreativität, weil sie zu viel agieren und nicht genügend über ihr Handeln nachdenken.“ Für den Strategieberater de Brabandère Grund genug, genau diesem für jede gelungene Veränderung maßgeblichen Kontext sein jüngstes Buch zu widmen : „The Forgotten Half of Change“. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Und ganz gewiss keine Mainstream Story wie der (mutmaßliche) Wandel der Deutschen Bank durch Josef Ackermann.
Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 04/2006
It‘s Time for a Change

Der anhaltende Wandel im heutigen Business bewirkt einen Zwang zur ständigen Erneuerung der Organisationsstruktur. Kosten müssen runter. Märkte ändern sich. Veränderungsprozesse, die irritieren können.
Die Zeiten werden rauer. Der Kampf um Marktanteile wird härter. Aber auch dynamischer : Wachstum und Rückgang wechseln in schnelleren Zyklen. Und als einzige Konstante bleibt uns bald wohl nur noch : die Veränderung. Man kann dies optimistisch betrachten : als täglich uns zuwachsende Fülle neuer Chancen, als erfrischenden Wandel, als Wind, der den penetranten Mief abgestandener Business- Konventionen wegfegt. Frei nach Goethes Faust : Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Oder aber man begegnet der permanenten Veränderung mit Skepsis : So schlecht war das Bisherige, das Gewohnte nun auch nicht. Und : Wie lange werden wir das durchhalten, wenn hinter jedem erfolgreich erklommenen Gipfel schon wieder der nächste Berg als Herausforderung auf uns wartet ? Vielleicht sollten wir besser das Erreichte absichern und genießen ? Notorische Pessimisten bemühen für ihre Sicht auf das Phänomen des ständigen Wandels gar den alten Mythos von Sisyphos : Kaum hat diese von den Göttern bestrafte Kreatur den schweren Stein den Hang hinauf geschleppt, rollt dieser prompt wieder zu Tale.
Und noch einmal – und wieder. Und noch einmal – und wieder : ein absurder Prozess, der den Zyklen der modernen Wirtschaft in Wahrheit nicht ganz unähnlich zu sein scheint, mutmaßt so mancher Zyniker. Wie dem auch sei : Veränderung ist jedenfalls angesagt. Der Veränderung kann man sich nicht ungestraft entziehen. Die Aktionäre fordern zwecks optimaler Kursentwicklung eine gloriose Zukunft. Der Druck des Marktes lässt die Firmen ständig einen kalten Hauch im Nacken spüren. Der globale Wettbewerb kennt keine Atempausen. Und um all dem erfolgreich zu begegnen, braucht fast jedes Unternehmen eine modernere Strategie, eine robustere Organisation, neue Produkte und Technologien. Und dies immer wieder. Und immer wieder. „Aus diesem Zwang zur Bewegung hat sich inzwischen ein eigenes Business entwickelt, die Gestaltung des Wandels. Oder – in vielen Ohren wohlklingender : Change Management.“ Ein Zitat aus der jüngsten und bislang genauesten Studie, welche sich unter dem Titel „Veränderungen erfolgreich gestalten. Change Management 2005“ mit den aktuellen Bedingungen und Konsequenzen des ständigen Wandels in der Wirtschaft kritisch auseinander setzt. Das Team rund um Martin Claßen, Vice President der Berater-Organisation Capgemini, konnte in präzisen Befragungen von repräsentativ ausgewählten 114 Führungskräften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowohl die Chancen als auch die Gefahren von Veränderungsprozessen erstmals erfassen.
Österreich tickt anders
Die erhobenen Fakten zeigen den enorm hohen Stellenwert, der von den befragten Führungskräften dem Change Management zugeschrieben wird : Für 84 Prozent ist dies aktuell ein wichtiges Thema. In einem Ausblick auf das Jahr 2010 hat sich dieser Stellenwert noch gesteigert : 96 Prozent der Befragten erwarten eine bedeutsame Rolle von Change Management. Als Ausreißer nach unten zeigt sich lediglich Österreich, wo derzeit noch jeder dritte Manager das Thema als weniger wichtig einschätzt. Ein Stellenwert, der sich jedoch in der Sicht auf die kommenden Jahre auch bei den österreichischen Führungskräften deutlich erhöht.Als besonders veränderungsbewusste Branchen erwiesen sich Energie/Versorger, Elektronik, Informationstechnologie sowie Banken und Versicherungen. So weit gespannt der Begriff „Change Management“ auch bleibt, die Anlässe und Gründe für Veränderungen in Unternehmen sind hingegen klar identifi — zierbar : Mit weitem Abstand (71 Prozent) ist Restrukturierung/Reorganisation die Hauptursache für „Change“, gefolgt von Kostensenkungsprogrammen/Rightsizing (42 Prozent) und einer veränderten Unternehmensstrategie (41 Prozent). Mergers & Acquisitions sowie veränderte Marktstrategie spielen mit 37 beziehungsweise 30 Prozent ebenfalls noch eine größere Rolle, dahinter wird nur noch die IT-Innovation sowie die Internationalisierung (jeweils mit 23 Prozent) als Anlass für gröbere Veränderungen im Unternehmen häufi ger genannt. Beim differenzierenden Blick auf die drei Länder zeigt sich erneut, dass Österreich „anders“ ist : Die Kostensenkung hat mit nur sieben Prozent eine sehr geringe Relevanz für Change-Prozesse, auch die Rolle von Mergers präsentiert sich weit unterproportional (21 Prozent). Im Kontrast dazu ist die Internationalisierung mit 36 Prozent ein extrem wichtiger Grund für gezielte Veränderung.
Dennoch : So sehr diese Zahlen belegen, wie unvermeidlich sich die bewusste Gestaltung von Veränderung im aktuellen Business-Leben aufdrängt, so irritierend gering bleibt die derzeitige Erfolgsquote der initiierten Change- Prozesse. Das zeigt eine andere Untersuchung, durchgeführt von Dietmar Vahs, Professor für Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Esslingen, die nachweisen konnte, dass mehr als 50 Prozent der Veränderungsprozesse in Unternehmen nicht zum gewünschten Ziel führen. Auch die Capgemini-Studie ergab, dass unzulänglich durchgeführte Veränderungsprojekte einen durchschnittlichen Rückgang der Produktivität von 21 Prozent bewirken. Plastisch ausgedrückt : Jeder fünfte Mitarbeiter wird durch ein missglücktes Change Management zum Totalausfall.
Die Ursachen dafür sind vielfältig, so die befragten Führungskräfte : Sie reichen von unzureichender Information über laufende Prioritäten und erwartete Ergebnisse über ineffizientes Arbeiten aufgrund von Unkenntnis über den Veränderungsprozess bis hin zu bewusster Opposition, in letzter Konsequenz sogar zu entnervter Kündigung. Zudem offenbaren sich hier dezidiert nationale Eigenheiten : Deutsche Manager und Mitarbeiter reagieren gerne mit Opposition, Schweizer kündigen überproportional „gerne“ – und Österreicher zeigen sich demotiviert, wenn sie im Prozessverlauf unzulänglich informiert werden. Der Capgemini- Experte Martin Claßen bringt all diese Tendenzen ironisch auf den Punkt : „Change Management lebt davon, dass viele Menschen nicht so wollen, wie sie sollen.“ Warum wohl so viele „betriebliche Mitmenschen“ den vielfältigen Change-Prozessen eher negativ gegenüberstehen ? Weil sie in Summe von den Veränderungen am meisten betroffen sind. Die Mitarbeiter zu 91 Prozent, die Middle Manager zu 85 Prozent und das Senior Management zu 50 Prozent. Die Top-Ebene hingegen leitet den Wandel zwar ein, ist aber von den (bisweilen unliebsamen) Konsequenzen kaum berührt : Aufsichtsrat, Investoren, Personalvorstand, Geschäftsführer – allesamt werden mit einer Quote von weniger als zehn Prozent von den Auswirkungen der Veränderung tangiert.
Management-Stil fragwürdig
Sie agieren somit aus einer geschützten Zone heraus, ein kontraproduktives Faktum, das so manchen unglaubwürdig werden lässt, meint der Capgemini- Mann Claßen : „Es scheint immer mehr zum akzeptierten Management- Stil zu gehören, bei Veränderungsvorhaben die Interessen und Bedürfnisse der Belegschaft auszublenden. Investment Banker machen dies bereits seit Langem vor : Die Due Diligence etwa bei Akquisitionen kümmert sich um Bilanzen und Märkte, nicht aber um diejenigen, die später dann Synergien heben sollen.“ Nur logisch, dass die Ignoranz gegenüber den am meisten Betroffenen diese zu Negativhaltungen gegenüber Veränderungen animiert : Während vom CEO über den Vorstand bis hin zu den Investoren allesamt begeistert den Wandel einläuten, kippt die Stimmung bereits beim Middle Management in kritische bis ablehnende Grundhaltungen. Und schlägt bei den Mitarbeitern dann vollends in eindeutig negative Einstellungen um. Ein Sachverhalt, den die Autoren der Studie trocken kommentieren : „Wahrscheinlich lässt sich über Reformen leichter entscheiden, wenn man nicht davon betroffen ist.“ Der logische Schluss liegt wohl auf der Hand : Das heute übliche „Change Management“ benötigt wohl selbst einen deutlichen Wandel, damit seine ehrgeizigen Zielvorgaben auch mit Erfolg erreicht werden. Wie lautete doch Bill Clintons Wahlslogan ? It‘s Time for a Change !Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 04/2006
Musterschüler der Binnenschifffahrt

Österreich setzt moderne Kommunikationstechnologie ein, um den Güterverkehr auf der Wasserstraße anzukurbeln. Als erstes EU-Mitglied stellt das Donauland eine Infrastruktur zur Ortung der Schiffe bereit.
Alle zehn Jahre wird es ruhig auf der Donau. Zuletzt war sie 1996 so zugefroren wie im heurigen strengen Winter auch. Etwa drei Wochen warteten die Schiffführer der Güter- und Personenschiffe auf das Ende der Eiszeit. Abgesehen von der einen oder anderen Brille waren keinerlei Hilfsmittel notwendig, um festzustellen, dass natürliche Verkehrswege mitunter an natürliche Grenzen stoßen. In Zukunft soll moderne Technologie den Blick der Schiffführer schärfen, wenn offensichtliche und auch weniger offensichtliche Hindernisse ihre Wege kreuzen. Doris heißt das Flussinformationssystem (Donau River Information Services), das Österreich als erstes Land Europas einsetzen wird. Noch in diesem Quartal sollen alle 250 Binnenschiffe, die regelmäßig zwischen Aschach im Westen und Hainburg im Osten verkehren, mit Transpondern ausgestattet werden. Die Empfänger gibt es in zwei Varianten – mobil in einem Koffer oder fi x an Bord montiert. Sie ermöglichen die Ortung über Satellit (GPS, Global Positioning System). Testläufe starteten bereits im Jahr 2002 zwischen den Schleusen Freudenau und Greifenstein. Seit 2004 arbeitet die Via Donau – Österreichische Wasserstraßen- Gesellschaft daran, Basisstationen entlang des 350 Kilometer langen inländischen Donauabschnitts einzurichten.
Sanfter Einstieg
Um die flächendeckende Funkverbindung zu den jeweiligen Transpondern an Bord zu garantieren, waren insgesamt 23 Richtantennen notwendig. Bis auf eine konnten sie auf die bestehenden Mobilfunkmasten aufsetzen. Zwei Frequenzen sind für das standardisierte Übertragungsprotokoll AIS (Automated Identifi cation System) in Österreich freigeschalten. Für Aufbau und Integration der Infrastruktur erhielt der auf Schiff- und Luftfahrt spezialisierte IT- und Kommunikationslösungsanbieter Frequentis den Zuschlag. AIS kommt aus der Hochseeschifffahrt. „Dort sind seit 2002 Transponder für die Ortung der Schiffe ab einer Schiffsgröße von 300 Bruttoregistertonnen verpflichtend“, erklärt Marketa Zednicek von Via Donau. Das Unternehmen will einen „sanften Einstieg“ in eine Bestimmung, die mit Jänner 2007 auch in der österreichischen Binnenschifffahrt wirksam werden soll, sagt Zednicek. Dann wird die Oberste Schifffahrtbehörde die sogenannte „Trage- und Einschaltverordnung“ erlassen. Soll heißen : Sämtliche Personen- und Güterschiffe müssen sich mit einer eindeutigen Identifi kationsnummer (MMSI für Maritime Mobile Service Identifi cation) anmelden, sobald sie die österreichische Donau passieren. Das heurige Jahr steht im Zeichen der langsamen Eingewöhnung. Bislang hat lediglich die Behörde Doris im Einsatz. Um den Schiffführern den Einstieg in die Hightech-Welt zu erleichtern, stellt Via Donau die Transponder gegen eine Kaution zur Verfügung. Inklusive Montage kostet der Empfänger 3.000 Euro. Die Ortung aus dem Koffer kommt auf rund 5.000 Euro. Die transportablen Geräte werden an jene Schiffe verliehen, die nur selten die Donau passieren. Die EU fördert die Grundausstattung zu 50 Prozent. Nach der fi nanziellen Seite muss Via Donau nun eine mentale Hürde nehmen. Durch die Verknüpfung von verkehrsbezogenen Daten aus Telekommunikation und Informatik, kurz Telematik, wird der einzelne Verkehrsteilnehmer kontrollierbar. Der Angst vor zu viel Transparenz hält Via Donau-Chef Manfred Seitz den Sicherheitsaspekt entgegen : „Doris soll das Navigieren erleichtern und Unfälle vermeiden helfen.“Navigationshilfe
Grundlage für die Navigation sind digitale Donaukarten, die fl ächendeckend und kostenlos zur Verfügung stehen. Eine Software mit dem Namen Ecdis Viewer visualisiert die Karten. Die Koppelung mit dem Transponder positioniert die Verkehrsteilnehmer eindeutig auf der Donau. Alle zwei Sekunden werden die Daten aktualisiert, um ein möglichst sicheres Navigieren zu gewährleisten. Wassertiefen, Pegelstände, Eisberichte und andere Informationen werden von der nationalen Leitstelle über die Basisstationen zu den Transpondern übertragen. Hans-Peter Wegscheider, Leiter des Verkehrsmanagement bei Via Donau, gibt ein Beispiel für neuralgische Punkte entlang der Donau : „Die Schlögener Schlinge zieht sich wie ein S durch die oberösterreichische Berglandschaft. Wer reinfährt, sieht nicht, ob ein anderes Schiff entgegenkommt. Dieser Abschnitt ist besonders schwer befahrbar.“ Sprit sparen und verkürzte Wartezeiten an Häfen und Schleusen sind weitere Argumente für die smarte Doris. Wer sich noch nie mit Binnenschifffahrt beschäftigt hat, muss sich das etwa so vorstellen : „Heute funkt ein Schiffführer das Schleusenpersonal an und gibt durch, wie weit er entfernt ist“, erklärt Wegscheider. Um sicherzugehen, dass er gleich passieren könne, Gefahrgut darf etwa nicht gleichzeitig mit Passagierschiffen geschleust werden, stehe Flunkern an der Tagesordnung. „Durch die eindeutige Ortung mittels GPS auf der digitalen Karte sind Wettrennen zur nächsten Schleuse obsolet“, sagt Reinhard Vorderwinkler vom Verkehrsministerium. In Zukunft soll Doris nicht nur für mehr Sicherheit auf der Donaustraße sorgen, sondern auch die Logistikkette optimieren. Via Donau lässt Verlader und Logistikdienstleister über eine Weboberfl äche ins Informationssystem. Der Schiffseigner bestimmt, wen er autorisiert. Nachvollziehbarkeit von Gütern und damit die Einbindung in ein Flottenmanagement wird so möglich. Die automatisierte Zollabfertigung von Fracht und Personendaten stellt eine weitere künftige Anwendung dar. Unklar bleibt, ob die Schiffseigner beim Technologieschub mitspielen, denn allzu viele PC gibt es laut Marketa Zednicek auf den Schiffen nicht. „Sie können zwar geortet werden, sehen aber auf dem kleinen Display lediglich, dass sich etwas nähert – wie auf einem Radar“, klärt sie auf.Politik zieht mit
Wenn die Verkehrspolitik ihr ambitioniertes Ziel, die Auslastung des Gütertransports auf der Donau von zwölf auf 25 Mio. Tonnen pro Jahr bis 2015 zu verdoppeln, erreichen will, müssen laut Helmut Kukacka, Staatssekretär für Verkehr, rund 480 Mio. Euro in die Binnenschifffahrt fl ießen. So viel würde die Umsetzung der zehn Maßnahmenblöcke kosten, die der Nationale Aktionsplan Donauschifffahrt, kurz NAP, vorsieht. Mit der Präsentation dieser Musterarbeit hat „Österreich seine Hausaufgaben mehr als erfüllt“, steht für Kukacka fest. Dass auch sein Chef, Hubert Gorbach, hinter dem Vorhaben steht, demonstrierte er bei einem Treffen hochrangiger EUSchifffahrtsexperten in der Hofburg mit Seemannsknoten auf der Krawatte.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006
Einsparung auf Kosten der Anonymität

Der heimische Versicherungsriese Uniqa will für Autofahrer, die nur wenig mit ihrem Fahrzeug unterwegs sind und dabei auch weniger unfallträchtige Straßen benutzen, eine spezielle, wesentlich günstigere Versicherung auf den Markt bringen.
Hier sind Ersparnisse von bis zu 30 Prozent vorstellbar. Uniqa selbst geht von Einsparungen im zweistelligen Prozentbereich aus, nennt aber keine konkreten Zahlen. Wermutstropfen für potenzielle Kunden : Autofahrer, die sich für dieses Versicherungsprojekt entscheiden, werden dadurch komplett gläsern : Durch die im Auto eingebaute Datenbox kann das betreffende Fahrzeug genau lokalisiert werden. Und ohne diese Daten ist die präzise Abrechnung nicht möglich. Sie erfolgt über die schwarze Box in der Größe eines Modems, die die Daten über Satelliten mittels GPS übermittelt. Die Mehrkosten für die Dox schätzt Uniqa auf 100 Euro, die sich aber auf vier bis fünf Jahre verteilen würden. Messen lässt sich die Autonutzung durch die Kombination von Satellitennavigation, Handy und IT. Daneben soll die Datenbox auch als Notfall-System sowie als Diebstahl-Wiederauffi ndung fungieren. Technischer Partner beim Projekt ist der Computerkonzern IBM.
Sorgen um Datenschutz
Allerdings, räumt man bei der Versicherung ein, gebe es bei den befragten Kunden Datenschutz- Vorbehalte. „Jeder Dritte sagt, dass er ein Problem mit dem gläsernen Auto habe, was ihn davon abhalten würde, auf das vor dem Roll-out stehende Produkt umzusteigen“, sagt Andreas Kößl, Uniqa-Bereichsleiter Kfz-Versicherungen. Ungeachtet dessen sei eines klar : Ein solches Versicherungsprodukt sei technisch machbar, verweist er auf einen Langzeittest. In wenigen Wochen wird Uniqa höchstwahrscheinlich mit einer Erprobung bei mehreren hundert Testfahrern beginnen. „Wir reden schon mit Kooperationspartnern und auch schon mit Lieferanten“, sagt Kößl. Dennoch kann er nicht ausschließen, dass der Vorstand das Projekt doch noch stoppt. Das Interesse und damit die Akzeptanz der Kunden sei sehr hoch, sagt Kößl unter Berufung auf eine Befragung der Uniqa-Versicherungskunden. Er schätzt das Potenzial für das in der Pipeline befi ndliche neue Versicherungsprodukt auf 200.000 bis 250.000 heimische Autofahrer. Besonders Zweitwagenbesitzer hofft man, anwerben zu können. „Das sind oft teurere Autos, bei denen auch eine höhere Prämie fällig wird, die aber viele Monate in der Garage stehen“, sagt Kößl im Gespräch mit economy. Bei Zweitwagen liege die durchschnittliche Fahrleistung zwischen 3.000 und 4.000 Kilometern, im Österreichschnitt sind es 13.500 Kilometer pro Jahr. Die Höhe des Uniqa- Wenigfahrertarifs hängt von der gefahrenen Strecke ab und davon, wie viele Kilometer man zu welcher Tageszeit auf welcher Straße zurücklegt. Grundlage für die Preisgestaltung sind Unfallstatistiken, aus denen sich laut Uniqa ergibt, dass auf der Autobahn gefahrene Kilometer sicherer sind als jene auf Landstraßen. Das größte Unfallrisiko bestehe im Ortsgebiet, ebenso sei es in der Nacht signifi kant höher als am Tag. Das heißt : Am billigsten käme das neue Produkt für jene, die zwar tagsüber, aber außerhalb der Stoßzeit auf den Highways unterwegs sind. Ziemlich klar ist schon, wie die Rechnung ausschauen dürfte : Die Autolenker bekommen eine monatliche Abrechnung : Neben einer Grundgebühr zahlen die Versicherten ähnlich wie bei ihrem Mobiltelefon nach Kilometern, Straße und Tageszeit unterschiedlich gestaffelte Tarife. Norwich Union, das größte Versicherungsunternehmen in Großbritannien, bietet seit 2005 das kostengünstige Produkt „Pay as you drive“ an : Die Tarife hängen davon ab, wie viele Kilometer man zu welcher Tageszeit auf welchen Straßen zurücklegt. In Italien sind laut Uniqa neun Versicherer mit ähnlichen Produkten durchgestartet.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006
Gläserne Taschen

Schon heute ist der gläserne Autofahrer Realität. Mit Einführung der Pkw-Maut wird er auch mit einer gläsernen Brieftasche unterwegs sein, auch wenn das heiße Eisen Maut derzeit niemand angreifen will.
Die Autofahrer sind bereits heute indirekt total durchsichtig : Jedem Lenker, der mit der Kreditkarte zahlt oder mit dem Handy telefoniert, schaut der Große Bruder über die Schulter. Aber wenn die Pkw-Maut kommt, werden die Autofahrer noch stärker überwacht werden. Dabei stehen Datenschutz-Bedenken die Vorteile von mehr Sicherheit im Verkehr gegenüber. Auch wenn sich vor den anstehenden Nationalratswahlen niemand als Befürworter einer kilometerabhängigen Bemautung outen will, könnte es nach den Wahlen ganz anders ausschauen. Zumindest Experten und Lobbying-Organisationen denken schon derzeit über neue, verursachergerechte und ökologischere Finanzierungsformen für die Abdeckung der Kosten des Individualverkehrs nach. Während in Österreich das Thema Pkw-Maut fast ein Tabu darstellt, sind andere Länder da schon viel weiter, wie Autofahrer im europäischen Ausland schon seit Jahr und Tag erfahren müssen. Dort gilt : Nur wer zahlt, darf die Autobahn benutzen. Unangenehmer Nebeneffekt : Die Mautflüchtlinge verstopfen die Landstraßen. Dabei setzen die europäischen Länder auf unterschiedliche Mauteinhebung:Kilometerabhängige Mautsysteme gibt es in Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, Slowenien, Kroatien, Mazedonien sowie Griechenland. Die Vignette gibt es in der Schweiz, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Rumänien und Bulgarien ebenso wie in Österreich. Hierzulande löst das Wort Maut schon fast allergische Reaktionen aus. Überhaupt keine Freude hat man bei der für den Ausbau des hochrangigen Straßennetzes zuständigen Asfinag mit diesem Thema. Der zuständige Vorstand drohte gar mit einem Abbruch des Gespräches und ergeht sich stattdessen in den Vorteilen der Verkehrssteuerung durch die Asfinag. Ähnlich scheu gibt man sich im Büro des Verkehrsministers und Vizekanzlers Hubert Gorbach. Dort reagiert man auf das Thema Bemautung mit beredtem Schweigen, wohl auch, weil sich der selbsternannte Minister der Autofahrer mit Aussagen zur Maut nicht in die Nesseln setzen will. Unter Gorbachs Amtszeit werde es keine weitere Ausdehnung der Bemautung geben, so das Mantra eines Ministersprechers. Wie mehrfach selbst geäußert, strebt Gorbach einen Wechsel in die Privatwirtschaft an. Also sollten sich die heimischen Autolenker nicht darauf verlassen, dass die Maut nie und nimmer kommen wird.
Rotes Tuch für Schwarze
Auch die SPÖ kann sich mit einem Ersatz der Autobahn-Vignette nicht anfreunden. Die Oppositionspartei hat sich schon vor der Wahl festgelegt : Das Pickerl für Pkws bleibt, für Lkws soll die kilometerabhängige Maut von jetzt 22 Cent pro Kilometer auf 29 Cent aufgestockt werden. Die zusätzlichen Einnahmen (470 Mio. Euro pro Jahr) sollen laut Sozialdemokraten in den Eisenbahn-Ausbau gesteckt werden. Anders könne man den erwarteten Zuwachs der Truckerlawine in Österreich nicht in den Griff bekommen, begründet die SPÖ ihren Vorstoß, der bei einer Regierungsbeteiligung realisiert werden soll. Für die derzeitigen Koalitionäre ist eine Pkw-Maut fast ein rotes Tuch. Diese Bemautung sei „kein Thema“, sagte im vorigen August eine Sprecherin von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Schon zuvor hatte die Asfinag einen Bericht dementiert, dass sie bereits ein System für eine Pkw-Maut getestet habe. Also ruhen dementsprechende Pläne ganz tief in der Schublade, könnten aber – grünes Licht der Politik vorausgesetzt – sehr rasch umgesetzt werden. Über die für die Lkw-Maut errichtete Infrastruktur könnten in relativ kurzer Zeit auch Pkws abgerechnet werden. Dazu müssten die Autolenker wie die Laster eine Datenbox einbauen, in Österreich Go-Box genannt. Diese speichert als Teil des Telematik- Systems die Daten und übermittelt sie zur Verarbeitung und zur Verrechnung an die EDV. Dass die Front der Mautgegner aber weniger dicht ist als öffentlich behauptet, belegen Aussagen von Asfi nag-Vorstand Franz Lückler. Im November, also drei Monate nach dem Njet des Kanzlers, meinte Lückler, man führe intensive Diskussionen mit dem Eigentümer (sprich : dem Bund). Kaum gesagt, machte die Asfi nag selbst wieder einen Rückzieher. Einen komplett anderen Weg zur Abgeltung der externen Kosten des Automobilverkehrs schlägt Wilfried Puwein vom österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo vor, nämlich einen Aufschlag auf die Mineralölsteuer, der zweckgebunden in die Finanzierung des hochrangigen heimischen Straßennetzes fließen sollte.Man sollte statt höherer Mautgebühren den Sprit stärker besteuern, rät der Verkehrsexperte Puwein. Die Vignette, die jeder Lenker für die Autobahn-Benutzung blechen muss, sei ungerecht gegenüber Wenigfahrern und hätte ökologisch eine völlig falsche Lenkungswirkung. „Für einen großen, benzinfressenden Jeep zahlt man heute gleich viel wie für einen VW Lupo, der vier Liter auf 100 Kilometer verbraucht. Das ist kein Anreiz, Kraftstoff zu sparen, sondern viel eher, nicht auf den Autobahnen zu fahren und auf die Bundesstraßen auszuweichen“, sagt Wifo-Experte Puwein in einem Interview mit economy.
Einhebung kinderleicht
Zusätzlicher Charme eines Aufschlags auf die Mineralölsteuer (Möst): Es gibt nur wenige Zahlungspfl ichtige, denn die Möst wird von den Ölfi rmen eingehoben. „Die Einhebung ist am billigsten, denn dafür sind keine Installationen notwendig. Bei der normalen Einhebung über die Mautgalgen gehen gleich 30 Prozent der Einnahmen drauf“, gibt Puwein zu bedenken. Einziger Schönheitsfehler des Wifo-Vorschlags : Er wäre nur bei europaweit einheitlichen Mineralölsteuer-Sätzen umzusetzen. Während Österreich bezüglich Möst laut dem Verkehrsexperten ein Billigland ist, sei die Steuerbelastung auf Sprit in Deutschland oder Italien höher. „Luxemburg andererseits ist die Tankstelle Europas, da nimmt so mancher Laster einen größeren Umweg in Kauf“, so Puwein. Die Autofahrer werden schon heute über die Mineralölsteuer zur Kasse gebeten, lehnen die Autofahrerklubs Öamtc und Arbö eine kilometerabhängige Pkw-Maut entschieden ab. „Mit der Mineralölsteuer gibt es bereits ein viel besseres Konzept. Bei einer Bilanz der Vorteile und Nachteile gibt es doppelt so viele Argumente gegen die Maut wie dafür. Man sollte das Verursacherprinzip nicht auf die Spitze treiben“, sagt Öamtc-Verkehrswirtschaftsexpertin Elisabeth Brugger-Brandau. Dazu sei mit der Verbrauchsabhängigkeit der Besteuerung von Diesel und Benzin die geforderte ökologische Komponente bereits enthalten, meint der Öamtc. Noch ablehnender ist der Autofahrerklub Arbö. „Für uns ist eine Pkw-Maut ein rotes Tuch. Eine fahrleistungsabhängige Bemautung ist nur dann vorstellbar, wenn im Gegenzug alle anderen motorbezogenen Steuern abgeschafft werden“, sagt Arbö-Pressesprecherin Lydia Ninz. Dazu zählt sie auch die Normverkehrsabgabe (NoVA), die 2008 abgeschafft werden wird, weil die EU gegen Zulassungssteuern ist. Die Ausfälle durch die Streichung der NoVA dürften sich auf rund eine halbe Mrd. Euro belaufen. Dazu kommt die Versicherungssteuer, die sich im Jahr 2004 auf mehr als 1,4 Mrd. Euro belief. Der größte Brocken ist aber bei weitem die Mineralölsteuer, sie spülte im Jahr 2004 fast 3,6 Mrd. Euro in die Kasse des Finanzministers, für 2005 dürfte sie wegen der Eindämmung des Tanktourismus ausländischer Autofahrer und Verbrauchseinschränkungen wegen der derzeit hohen Spritpreise geringer ausfallen. Den Finanzminister freut jeder getankte Liter, denn auf die Mineralölsteuer wird überdies Umsatzsteuer fällig. Laut Arbö nahm der oberste heimische Säckelwart allein an Umsatzsteuern auf Sprit im Vorjahr 214 Mio. Euro mehr ein.Steuer statt Maut
Der Deal „Tausche Steuern gegen Maut“ bildet die Basis der weitreichenden Pläne der britischen Regierung. Auf der Insel ist die Besteuerung von Treibstoff vergleichsweise sehr hoch. In Großbritannien, dem europäischen Liberalisierungspionier, hat die Regierung beim Thema Pkw-Maut schon den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Das Transportministerium will spätestens im Jahr 2015 zur Reduktion der Verkehrsströme für die Straßenbenutzung je nach Tageszeit, nach Verkehrsaufkommen, aber auch nach der Art der Straßen (ob Autobahn oder Landstraße) eine darauf abgestimmte Maut umsetzen. Im Gegenzug werden alle Steuern gestrichen. Dadurch wird laut dem britischen Transportminister Alistair Darling die Hälfte der Autofahrer besser aussteigen als heute. Um die EU erst gar nicht auf den Plan zu rufen, ist die Maut als Steuer (Road Charge) konzipiert. Abgerechnet wird über Satellit wie beim deutschen System zur Lkw-Bemautung. Österreich setzt dagegen auf die Mikrowellentechnik, wo zur Abrechnung stationäre Mautgalgen eingesetzt werden. Die in Großbritannien diskutierten Mautsätze sind teilweise extrem hoch : Für eine Meile (rund 1,7 Kilometer) auf der vielbefahrenen Autobahn M 25 könnten zu Stoßzeiten 1,34 Pfund (rund 1,95 Euro) fällig werden, der Mindestsatz soll umgerechnet gut 1,7 Cent pro Kilometer betragen. Dieser britische Sonderweg wird auch dadurch erleichtert, dass auf den Straßen der Insel nur wenige ausländische Trucker unterwegs sind und auch der Faktor Transitverkehr komplett wegfällt. Detail am Rande : Ausgangspunkt der britischen Mautüberlegungen war es, die Straßen stau- und verstopfungsfreier zu machen. Aber auch in Österreich gibt es schon konkrete Vorstellungen zu Rahmenbedingungen und Auswirkungen eines Road Pricing für Pkw. Vorgerechnet wurde dies in einer vom Umweltministerium in Auftrag gegebenen Studie der TU Graz und der Universität Graz. Die Maut sollte auf Kilometerabhängigkeit umgestellt werden, so bald dies technisch möglich ist, sagt Werner Gobiet, der Leiter des Instituts für Straßen- und Verkehrswesen an der Grazer TU : „Auf lange Sicht wird Road Pricing für Pkw kommen, dieses System wird sozial verträglicher sein und besser die Kosten wahrheit abbilden. Die Vignette ist dafür nicht das richtige Mittel, sie ist nur ein Finanzierungssystem“, sagt Gobiet im Gespräch mit economy. Pkw-Road Pricing wirke in der Tendenz progressiv, sodass ärmere Haushalte dadurch in geringerem Ausmaß belastet seien als reichere. Frühestes Datum für eine Umstellung wäre das Jahr 2008, wenn das Galileo-Satellitenortungsnetz aufgespannt worden ist. Ausgangspunkt der Berechnungen der Studie ist ein fl ächendeckendes Pkw-Road Pricing. Insgesamt wurden mehrere Maut-Varianten untersucht (siehe Grafi k): von fünf Cent pro Kilometer nur auf Autobahnen und Schnellstraßen bis zu zehn Cent je Kilometer auf allen österreichischen Straßen sowie einem doppelten Satz in Hauptstädten zu Stoßzeiten. Die Einnahmen eines fl ächendeckenden, zeitlich differenzierten Road Pricing würden alles, was die Asfi nag durch die Vignette einnimmt, bei weitem übertreffen.Bis zu sechs Milliarden
Die Maut könnte je nach Variante bis zu mehr als sechs Mrd. Euro im Jahr einbringen. Selbst in der für die Autofahrer billigsten Variante würden fast zwei Mrd. Euro hereinkommen. Zum Vergleich : Im Vorjahr hat die Asfi nag mit der Autobahnvignette in etwa 300 Mio. Euro eingenommen. Zudem habe Road Pricing noch deutliche ökologische Lenkungseffekte, erklärt der Grazer Verkehrsexperte. Dadurch könnte der Verkehr um mindestens fünf Prozent und der Kohlendioxid-Ausstoß um 570.000 Tonnen sinken. Unerwünschte soziale Neben effekte wie die höhere Belastung von Pendlern könnten durch gezielten Einsatz der Einnahmen kompensiert werden. Geteilt sind die Meinungen in Österreich hinsichtlich des Themas City-Maut, das ist eine Gebühr, die bei Fahrt in innerstädtische Bereiche zu berappen ist. Während Gobiet von der TU Graz daran bemängelt, dass dadurch der stauanfällige innerstädtische Verkehr nicht steuerbar ist, spricht sich der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) dafür aus und lehnt zugleich generelles Road Pricing ab. „In London oder Stockholm nimmt der Verkehr durch die City-Maut um 15 bis 20 Prozent ab“, sagt Christian Gratzer vom VCÖ.Intelligenztest
Österreich hat den ersten Schritt zur Einführung telematischer Verkehrssteuerungssysteme schon hinter sich. Auf Tirols Autobahnen läuft ein Testbetrieb in Echtzeit. Dabei wird der Verkehr von der Asfi nag- Steuerungszentrale in Wien-Inzersdorf ferngesteuert. Über elektronische Anzeigetafeln kann direkt ins Verkehrsgeschehen eingegriffen beziehungsweise auf Unfälle oder Staus unmittelbar reagiert werden. Bis zum Jahr 2010 sollen alle heimischen Ballungsräume an das Asfi nag- Telematiknetz angeschlossen sein. Die Kosten für de Einführung der intelligenten Straße betragen 300 Mio. Euro. Laut Asfinag soll das neue System die Unfälle um bis zu 35 Prozent senken und mithelfen, 15 Prozent mehr Fahrzeuge auf die Highways zu bringen.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006
Indien und China als öliges Tandem

Die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Erde gehen künftig weltweit gemeinsam auf Ölsuche. Dieser Energiepakt ist ein weiteres Indiz für das Tauwetter zwischen den einstigen Rivalen Indien und China.
Während sich China und Indien beim Weltwirtschaftsforum in Davos getrennt von den Politikern und Investoren Rosen streuen lassen und auch getrennt um sie buhlen, haben die beiden einstigen geopolitischen Rivalen schon längst einen Schulterschluss vollzogen : Die beiden energiedurstigen Länder haben sich auf die gemeinsame weltweite Suche nach Öl verständigt. Aber auch beim Raffinieren, im Ölhandel sowie im Bereich Alternativkraftstoffe will man gemeinsame Sache machen. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis beide Länder, die noch im Jahr 1962 gegeneinander Krieg geführt haben, auch bei anderen strategischen Rohstoffen global gemeinsam auf die Pirsch gehen. Am Ende steht gar ein Käuferkartell, quasi ein Pendant zur Opec als Produzentenkartell. Möglich gemacht hat die Vereinbarung zwischen den zwei Supermächten auch das Tauwetter in den sensiblen und historisch extrem belasteten Beziehungen zwischen Indien und Pakistan, dem traditionellen Bündnispartner Chinas südlich des Himalaja.
Nun ist es fast zu einer Umkehrung der Bündnisse gekommen, auch weil sich die Regierung in Islamabad voll auf die Seite der USA gestellt hat, die ebenfalls versucht, ihre Präsenz in der Region auszubauen. Und beim Öl sind China und die USA heftige Konkurrenten, weil Peking ein Pipeline-Netz mit dem ölreichen Zentralasien schmiedet. Durch mehr als durch Entspannungspolitik geprägt sind dagegen die Beziehungen zwischen Indien und China, die sehr eng gewordenen ökonomischen Verflechtungen werden jetzt auf die Energie ausgeweitet. Da der Ölverbrauch von Indien und besonders von China sehr stark steigt, wird die Importlücke immer größer, weil beide Länder nicht gerade auf Ölbonanzas sitzen. Indien muss derzeit 70 Prozent des benötigten Öls aus dem Ausland importieren, Tendenz steigend. Im Falle Chinas sind die Nachfragezuwächse noch viel größer, das Reich der Mitte hat Japan als zweitgrößten Ölverbraucher der Welt überholt. Geht das Wachstum so weiter, hat China in 15 Jahren den weltgrößten Verbraucher USA überholt. Im Reich der Mitte wächst die Ölnachfrage sogar wesentlich schneller als das Wirtschaftswachstum. China hat 2004 mit sieben Mio. Fass (je 159 Liter) im Jahresabstand um 16 Prozent mehr Öl benötigt.Vor zehn Jahren konnte China seinen Bedarf annähernd selbst decken, jetzt macht die Inlandsproduktion nur noch die Hälfte der Nachfrage aus. Auch in Indien ist das Defizit zwischen Erzeugung und Verbrauch stark angewachsen. Konnte das Land 1994 noch 50 Prozent der Nachfrage selbst abdecken, sind es jetzt weniger als ein Drittel. Heute verbrauchen beide Länder zusammen schon fast zwölf Prozent der Weltnachfrage, Tendenz stark steigend. In 20 Jahren werden sie bis zu 85 Prozent ihres Öls importieren müssen. Hauptquelle für das von China and Indien zugekaufte Öl ist Saudi-Arabien. Die Saudis haben mit beiden Ländern eine strategische Partnerschaft geschlossen, die über den Energiebereich hinausgeht. Dabei geht es um wechselseitige Investitionen in Vermarktung und Raffinieren sowie um Düngemittelund Petrochemieprojekte.
Bis jetzt sind sich der chinesische Drache und der indische Elefant beim Kampf um neue Förderlizenzen weltweit sehr oft auf die Zehen getreten und mussten erleben, dass Offerte des einen nur dazu dienten, den Preis für den anderen künstlich in die Höhe zu treiben. Mit dieser Bieterkonkurrenz soll jetzt Schluss sein, die staatlichen Unternehmen der beiden Länder, die indische Oil and Natural Gas Corporation (ONGC) und die chinesische China National Petroleum Corporation (CNPC), wollen sich bei Bieterverfahren in Drittländern vorher absprechen. Laut Insidern wird das „ölige Duo“ beim Verkauf eines Joint Ventures von BP in Russland mitbieten. Dabei geht es um eine Investition von drei Mrd. US-Dollar (2,5 Mrd. Euro).
Indien setzt Initiative
Die Initiative für den öligen Deal war von Indien ausgegangen. Indiens ONGC hatte in den vergangenen Monaten gegen chinesische Konkurrenten mehrfach bei der Ausschreibung von Lizenzen und Ölgesellschaften den Kürzeren gezogen. In Kasachstan hatte zum Beispiel im August die China National Petroleum Corporation mit 4,18 Mrd. US-Dollar der ONGC Petro Kazakhstan vor der Nase weggeschnappt. Im September 2005 hatten die Chinesen die Inder in Ecuador ausgestochen. Schwerpunkte der CNPC-Expansion sind Aserbaidschan, Kanada, Kasachstan, Venezuela, der Sudan sowie Indonesien, Irak und Iran. Im Ausland haben die Chinesen gegenüber den Indern derzeit die Nase vorne. Ein wichtiges Auslandsengagement der CNPC ist Venezuela, wo die chinesischen Ölkonzerne zwei große Ölfelder ausgebeutet haben. Die Kooperation hat auch geopolitischen Hintergrund : Die Regierung in Caracas, die gegen die Interessen der USA agiert, sieht in der Volksrepublik China ein Gegengewicht zu Washington und eine Schutzmacht im UN-Weltsicherheitsrat. Die indische ONGC fokussiert ihre Förderaktivitäten im Ausland auf Russland und Vietnam, Syrien und den Sudan. Exploriert wird auch im Iran, im Irak, in Katar, in Myanmar (ehemals Burma), Libyen, Ägypten sowie der Elfenbeinküste, sogar in Kuba setzt die Auslandstochter ONGC Videsh die Bohrmeißel an.Stolze 1,7 Mrd. US-Dollar hat der Staatskonzern in Sachalin im russischen Fernen Osten in Öl und Gas investiert. Das gesamte Projekt Sakhalin‑1 ist mit annähernd zehn Mrd. Euro eine der größten ausländischen Direktinvestitionen in Russland, die ONGC hält daran 20 Prozent. Der private indische Rivale Reliance Industries ist bis dato im Jemen und im Oman in der Förderung präsent, exploriert wird darüber hinaus im Iran und in Saudi-Arabien. Es gibt bereits zwei Pilotprojekte indisch-chinesischer Erdöl- Kooperation : Die Partner haben im Dezember gemeinsam von Petro-Canada für 574 Mio. US-Dollar (484 Mio. Euro) einen 37-Prozent-Anteil an einem syrischen Ölfeld erworben. Auch im Sudan klappt die Zusammenarbeit bereits wie geschmiert. Dort erschließen die Chinesen das Greater-Nile-Ölfeld, die Inder halten 25 Prozent. Die heimische OMV hat der ONGC ihre Konzession verkauft und sich wegen des Bürgerkriegs aus dem Sudan zurückgezogen. Die CNPC und die ONGC dagegen müssen offenbar weniger Rücksicht auf Kritik an den Menschenrechtsverletzungen im Sudan nehmen.
Rivale für ölhungrige USA
Washington muss einen Schulterschluss Indiens mit China fürchten, denn das Reich der Mitte wird als ernstzunehmender Rivale im Ölgeschäft betrachtet. Im August 2005 ist der chinesische Ölkonzern CNPC mit einer feindlichen Übernahme des US-Konzerns Unocal am Widerstand der US-Politik gescheitert. Diese gescheiterte Übernahme ist ein Teil des Versuchs Chinas, die stetig steigende Nachfrage der Wirtschaft durch eine Diversifi zierung der Rohstoffquellen zu sichern. Im Energiesektor hat die Regierung in Peking den Bau von neuen Pipeline-Netzen quasi zur nationalen Priorität erklärt. Damit könnte sich das Reich der Mitte zu einer regionalen Energiedrehscheibe mausern. Die Voraussetzung haben die Chinesen mit dem Kauf von 60 Prozent der kasachischen Ölfi rma Aktobemunaigaz geschaffen. Diese hat eine 1.000 Kilometer lange Pipeline zwischen Atasu in Zentral-Kasachstan in die chinesische Provinz Xinjiang gelegt. Das Leitungssystem (Kosten : 700 Mio. US-Dollar) ist seit Jahresbeginn in Betrieb.Zentralasien im Visier
Mit der neuen Leitung hat China zugleich Zugriff auf die Förderanlagen von Petro Kazakhstan im zentralkasachischen Kumkol, das mit dem östlich gelegenen Atasu, dem Ausgang der neuen Rohrleitung, durch eine ältere Pipeline verbunden ist. Nun fehlen noch wenige hundert Kilometer, um die Verbindung zum Pipeline-Netz in Westkasachstan zu schließen, wo die größten Ölvorkommen der Region liegen. Dieses Projekt ist schon im Planungsstadium. Damit könnte China den USA einen Strich durch die Rechnung machen, die die Pipeline von Baku nach Ceyhan am türkischen Mittelmeer auch mit kasachischem Öl befüllen möchten, was bis dato nur auf dem Papier steht. Washington wollte mit der von ihm geförderten Ölleitung Baku-Ceyhan sowohl Russland als auch China als Transportländer ausbooten. Ebenso wie beim Öl wächst auch der Gasverbrauch in beiden Ländern stärker als der weltweite Durchschnitt und auch deutlich stärker als die jeweilige Produktion. Zugleich sind die inländischen Reserven alles andere als prall gefüllt. In China hat der Gasverbrauch zwischen 2003 und 2004 laut dem World Energy Report des Ölriesen BP um über 34 Prozent zugenommen, in Indien waren es bescheidenere sieben Prozent, das ist doppelt so viel wie der Gesamtmarkt. Mittelfristig müssen beide Länder viel mehr Gas importieren, entweder direkt über Pipelines oder als LNG in verfl üssigter Form. Zwischen den beiden Bevölkerungsriesen gibt es auch im Gasbereich gemeinsame Interessen, wenn auch grenzüberschreitende direkte Leitungsprojekte an der Himalaja-Grenze scheitern beziehungsweise ökonomisch nicht darstellbar sind. Indien hat angesichts des künftig weiter stark steigenden Gasbedarfs fünf große Leitungsnetze auf der Agenda, mit den Nachbarländern Bangladesh und Myanmar, wo auch die Chinesen in der Förderung tätig sind. Dazu gibt es das Projekt einer Gasleitung vom Iran über Pakistan nach Indien mit Baukosten von sieben Mrd. US-Dollar. Zudem wurde vereinbart, dass die Islamische Republik an Indien verflüssigtes Erdgas liefern wird, das Volumen des Geschäfts beläuft sich auf 22 Mrd. US-Dollar.
Geostrategische Visionen
Weitere Leitungsprojekte liegen auch schon auf dem Tisch, nämlich eine Leitung von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan (darüber haben die USA vor den Terroranschlägen daheim im September 2001 mit der Taliban-Regierung in Kabul verhandelt). Allerdings steht wegen der dem Iran drohenden UN-Sanktionen hinter den Gasprojekten nun ein noch dickeres Fragezeichen. Die USA hatten die Leitungspläne der Inder aus politischen Gründen schon von Anfang an abgelehnt.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006
Das neue Great Game

In der zentralasiatischen Region um das Kaspische Meer liegen die größten Energiereserven der Welt. Ende des 19. Jahrhunderts prägte der Dichter Rudyard Kipling für das Ringen um Vorherrschaft in Zentralasien zwischen dem britischen Empire und dem russischen Zarenreich den Begriff „The Great Game“. Heute sind wir mitten in einemWiederholungsspiel mit neuen Mitwirkenden.
„Amerika ist süchtig nach Öl, das oft aus instabilen Teilen der Welt importiert wird“, rief Bush und versprach, dass „bis zum Jahr 2025 die Ölimporte aus dem Nahen Osten zu 75 Prozent ersetzt werden“. Eine kleine Sensation, diese Worte eines Texaners, dessen Familie im Öl-Business steinreich geworden ist. Neben dem Ausbau alternativer Treibstoffe wie Ethanol soll das Energie-Angebot diversifiziert werden. Dass die USA ein Ende ihrer Ölsucht dringend nötig haben, zeigt ein Blick in die unverdächtige Weltenergiestatistik des Erdölmultis BP vom Juni 2005 : Wenn man die gesicherten US-Ölreserven an der derzeitigen Produktionsmenge misst, sind die USA in 9,6 Jahren zu 100 Prozent von Importen abhängig.
Zentralasien im Fokus
Europa ohne Eurasien droht diese Abhängigkeit schon zwei Jahre früher. Mit eurasischen Ölreserven käme man allerdings 21,6 Jahre aus, könnte man diese alleine ausbeuten. Der Nahe Osten kann dafür aus seinen Reserven noch 81,6 Jahre fördern. Statistisch gesehen hat die Erde noch für 40,5 Jahre Öl, sollten nicht neue Lagerstätten gefunden werden. „Auf lange Sicht“ führt also trotz der enormen Energiereserven in Zentralasien kein Weg an der Opec vorbei, meinen Pessimisten. Trotz allem geben die Ressourcen am Kaspischen Meer den Verbraucherländern Zeit, um Alternativen zu entwickeln und die Abhängigkeit vom Opec-Öl abzuschwächen, entgegnen Optimisten. Außerdem – man verweist auf den großen Ökonomen John Maynard Keynes – sind wir „auf lange Sicht“ sowieso alle tot. Ab der Öl-Krise 1973, als das Opec-Kartell die Produktion um fünf Prozent drosselte, wurde das Brechen der Abhängigkeit vom arabischen Öl zum großen strategischen Ziel. Der Ölpreis stieg von drei auf fünf US-Dollar pro Barrel (159 Liter), was zur größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg führte. 1974 erhöhte sich der Fasspreis auf rund zwölf US-Dollar. Von den heutigen geradezu gigantischen Preissprüngen war man damals noch weit entfernt. Doch es war klar, dass die Opec-Staaten als unsichere Kantonisten zu gelten hatten : Der Startschuss für das Rennen um neue Energieressourcen war gefallen. Das neue „Great Game“ konnte beginnen, gleichzeitig wurde die Ölförderung in Afrika, Südamerika und in Kanada intensiviert. Der britische Dichter Rudyard Kipling hatte den Begriff des „Großen Spiels“ in seinem Roman „Kim“ bekannt gemacht und damit den geopolitischen Machtkampf um Zentralasien im 19. Jahrhundert zwischen dem britischen Empire und dem Zarenreich beschrieben. Der Ausdruck „Großes Spiel“ selbst wird dem britischen Geheimdienstagenten Arthur Conolly zugeschrieben, der in Zentralasien spionierte, aufflog und 1842 umgehend von empörten Afghanen gehenkt wurde.Militärische Diplomatie
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 trat das Wiederholungsspiel in seine heiße Phase, und neue Mitwirkende drängten auf den Platz : Zu den Großmächten Russland und USA gesellten sich die Regionalmächte China, Iran, Türkei und Pakistan sowie transnationale Ölkonzerne, die in diesem Machtvakuum in gewohnt rauer Manier agierten. Die USA, und in ihrem Windschatten die multinationalen Ölkonzerne, gingen bei diesem Rennen um Ressourcen in Führung. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ließ George Bush seine Truppen aufmarschieren. In den postsowjetischen Republiken Georgien, Kirgisien und Usbekistan wurden Militärbasen errichtet, eine US-geführte Koalitionsarmee schlug nach intensiven Bombardements das fundamentalistische Taliban-Régime in Afghanistan binnen zwei Wochen nieder. Der Blitzsieg der US-dominierten Verbände ließ einige Militärexperten aber auch auf eine sorgfältige Vorbereitung des Feldzuges schließen, die lange vor 9/11 begonnen haben musste.Die Stationierung von US-Kampftruppen in ehemals sowjetischem Einflussgebiet veränderte die geopolitische Balanz nachhaltig. Mit ihrem „Krieg gegen den Terrorismus“ konnten die USA drei Fliegen auf einen Streich erlegen : Die Schlinge um den „Schurkenstaat“ Iran wurde fester zugezogen, der Sieg im Kalten Krieg über Moskau wurde einzementiert, und der wachsende Einfluss Chinas konnte zurückgedrängt werden. Von den USA umworben wurden Ex- Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Kasachstan, Georgien, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgisien. Diese Staaten werden bis auf Georgien von Autokraten regiert und sind von westlichen Demokratievorstellungen weit entfernt. Ein eigenwilliges Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, ethnische Spannungen und beginnender islamischer Fundamentalismus prägen die Lage. Der von den USA geführte Krieg im Irak verschärfte die Situation in der benachbarten Region. Die USA sind auf die Nutzung ihrer Militärbasen vor Ort angewiesen, es besteht Interesse an Stabilität, nicht am Ausbau der Demokratie. Neuer Ölrausch Ölgiganten wie Chevron Texaco, Exxon Mobil, British Petroleum, Royal Dutch Shell, Eni Agip, Statoil oder Total Fina Elf packte dennoch der voraussichtlich letzte große Ölrausch in der Geschichte der Menschheit. Sie bildeten unter Einbeziehung russischer Ölriesen konzernübergreifende Konsortien und begannen mit der Ölförderung. Zwar liegen die Schätzungen der Reserven im kaspischen Raum zwischen 35 und 150 Mrd. Barrel (bis zu 24 Billionen Liter) und klaffen somit weit auseinander. Aber das US-Energieministerium ging noch im Jahr 2005 davon aus, dass allein in Kasachstan und Aserbaidschan mindestens 120 Mrd. Fass zu fördern seien. Das Ölförderpotenzial der Region soll im Jahr 2010 bei 3,8 Mio. Barrel pro Tag liegen.
Die Erdgasvorräte werden auf sieben bis neun Billionen Kubikmeter geschätzt. Allein die US-Ölkonzerne haben bisher schon mehr als 35 Mrd. US-Dollar (29,1 Mrd. Euro) in neue Produktionsanlagen investiert. Alle Spieler des neuen „Great Game“ beschäftigt aber ein Problem : Die Öl- und Erdgasfelder am landumschlossenen Kaspischen Meer liegen tausende Kilometer von geeigneten Hochseehäfen entfernt. Deshalb sind Pipelines erforderlich, was seit Jahren blutige Konflikte nährt. Moskau, das sich als imperialer Gebieter über seinen „Hinterhof“ versteht, besteht auf Pipeline-Routen, die über sein Hoheitsgebiet im Nordkaukasus verlaufen. Vor diesem Hintergrund wird auch der brutale Militäreinsatz der Russen in Tschetschenien erklärbar. Einfluss auf die Öl- und Gasgeschäfte nehmen die russischen Konzerne Lukoil und Gazprom als verlängerter Arm des Kreml. Der Ölkonzern Lukoil ist in den wichtigsten Konsortien Aserbaidschans und Kasachstans vertreten, bleibt aber vor allem am Absatz des Erdöls aus seinen sibirischen Vorkommen interessiert. Beide Konzerne befinden sich in einem Interessenwiderspruch : Einerseits wollen sie vom Erdöl- und Erdgasgeschäft in der Region profitieren, andererseits fürchten sie die entstehende Konkurrenz. Politisch gesehen toleriert Moskau zwar vorerst die USPräsenz in der Region als „neue strategische Allianz gegen den Terror“. Die tatsächliche Motivation, an der Russlands Präsident Wladimir Putin kaum Zweifel aufkommen ließ, war, der Wirtschaft mittels ausländischem Kapital wieder auf die Beine zu helfen. Besonders ärgerte die Russen die Fertigstellung einer Pipeline von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Mai 2005, die russisches Gebiet umging. Der Bau dieser 1.700 Kilometer langen Rohrleitung kostete rund 3,8 Mrd. US-Dollar, die Leitung wird mit US-Unterstützung hauptsächlich von BP betrieben. Um sich gegen den US-Einfluss abzusichern, schloss Putin neue Sicherheitsverträge mit den Herrschern in Zentralasien. So eröffnete er persönlich in Kirgisien eine Militärbasis, die nur 50 Kilometer von der dortigen US-Airbase entfernt liegt. Auch Peking ist über die US-Präsenz im mehrheitlich muslimischen Zentralasien alles andere als glücklich. Es fürchtet, dass die muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang von den USA zu Aufständen verleitet werden. China veranstaltete deshalb erstmals Militärmanöver gemeinsam mit Kirgisien und verstärkte seine Beziehungen zu Usbekistan. Auf dem Erdgassektor liegen die Dinge ein wenig anders. Erstens ist Erdgas noch für mindestens 66,7 Jahre verfügbar, wenn man die gesicherten Reserven durch die derzeitige Jahresproduktion teilt. Die Fördermengen nehmen laut Weltenergiestatistik von BP aber dramatisch zu, da Erdgas im Gegensatz zu Erdöl emissionsärmer und damit umweltschonender ist. Zweitens sind nahezu vier Fünftel der gesicherten Erdgasreserven der Welt in Russland, dem kaspischen Raum und im Iran konzentriert, was theoretisch eine Ausbeutung erleichtert. Das Problem bleibt jedoch der Transport.
Die Verflüssigung von Erdgas – die Abkühlung auf minus 162 Grad Celsius, um es per Tanker transportieren zu können – rechnet sich noch nicht. Deshalb ist man wesentlich stärker als bei Öl auf Pipelines angewiesen, um die Verbrauchermärkte zu erreichen. Der Mangel an Leitungen führt auch dazu, dass man noch lange nicht die Produktionslimits erreicht hat. Schaltzentrale Kreml Europa benötigt jetzt schon mehr Gas als alle anderen Regionen der Welt zusammen. Und es bezieht sein Erdgas zu zwei Drittel aus Russland. Darin liegt ein beträchtliches Abhängigkeitsrisiko. Man muss Putin fast dankbar sein, dass er Europa durch seinen Gasstreit mit der Ukraine dieses Problem wieder bewusst gemacht hat : Ohne „Gospodin GasPutin“ ginge nichts mehr auf dem alten Kontinent. Im Fall der Ukraine hat Putin gezeigt, wie man Erdgas einsetzen kann. Noch im Sommer 2004 schloss Gazprom mit der Ukraine einen fünfjährigen Liefervertrag. Mickrige 50 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter Gas sollte Kiew zahlen. Nach der „orangen Revolution“ muss die Ukraine plötzlich rund 230 US-Dollar berappen. Andere Staaten wie beispielsweise der kreuzbrave Vasall Weißrussland mit dem irrlichternden Präsidenten Alexander Lukaschenko zahlen heute 46 US-Dollar, den baltischen Staaten wurde der Preis von 80 auf 120 US-Dollar erhöht. Ein Schelm, wer da mit Marktwirtschaft argumentiert. Für Europa gilt der Weltmarktpreis von 250 US-Dollar, Lieferschwierigkeiten sind in den letzten Jahrzehnten unbekannt. Einen Anlauf, um nicht völlig vom russischen Monopol abhängig zu sein, unternimmt derzeit die OMV. Unter anhaltendem Jubel der EU plant man die sogenannte Nabucco-Pipeline von der Türkei bis Österreich. Die 3.300 Kilometer lange Leitung soll 4,6 Mrd. Euro kosten.
Eine Machbarkeitsstudie liegt vor, die Trasse ist bereits festgelegt. Die Pipeline soll zentralasiatische Gasfelder mit Europa verbinden, erklärte OMV-Sprecher Thomas Huemer gegenüber economy , Finanzierungsmöglichkeiten würden derzeit überprüft. Spätestens im Jahr 2007 könnte der Bau begonnen werden. Die OMV würde dann als Betreiber eine Schlüsselrolle im Pipeline-Netzwerk spielen. Die Nabucco-Leitung sei als Ergänzung zu russischen Lieferungen geplant, deshalb verärgere man den Kreml nicht, ist Huemer sicher. Auch Russland könne sein Gas über die nicht ausgelastete Bluestream-Pipeline durch das Schwarze Meer einspeisen. Über Verträge mit Gasproduzenten und Vermarktern wollte Huemer nichts sagen : „Das wird erst bei Abschluss veröffentlicht.“ Der Wendepunkt Trotz allem gibt es keinen Zweifel, dass Erdöl und Erdgas endliche Güter sind. Der renommierte britische Geologe Colin Campbell, die „Kassandra der Ölindustrie“, steht einem internationalen Netzwerk von Wissenschaftlern (Aspo) vor, die vor dem Ende des Ölzeitalters warnen. Campbell prägte den Begriff „Peak Oil“. Demnach werde die weltweite Ölproduktion 2010 ihren Höhepunkt erreichen und dann konstant fallen, weil schlicht und einfach nicht mehr Öl vorhanden sei. Die Produktion werde bei explodierenden Preisen jährlich um mindestens 2,5 Prozent zurückgehen. „Der Ölpeak ist der größte Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“, warnt Campbell, der den derzeitigen Rückgang der Förderung in der Nordsee präzise vorausgesagt hatte. Jüngeren Generationen müsse man sagen, sorry, wir hatten die Party, ihr müsst jetzt aufräumen, lautet Colin Campbells Conclusio.
Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006
Goldene Nase für Doppelgänger

Plagiate haben immer Saison : Der „Plagiarius“ – ein Preis, der die dreistesten Produktkopierer auszeichnet.
Wenn der „Plagiarius“ vergeben wird, wimmelt es von Doppelgängern nur so. Denn der Preis wird Unternehmen verliehen, die auf besonders dreiste Art existierende Produkte nachbauen. Zu gewinnen gibt es Gartenzwerge mit goldener Nase.
Schäden in Milliardenhöhe
Die Hersteller kommen typischerweise aus Fernost. Verantwortlich für die Plagiate sind meist andere – nämlich die Auftraggeber. Dieser ist oft der europäische oder amerikanische Konkurrent, der ein Produkt beispielsweise in China oder Taiwan billig nachmachen lässt, um es in Europa zu vermarkten. „Es ist daher wichtig, die Wertschöpfungskette, alle am Prozess Beteiligten, zu überprüfen und gegebenenfalls abzumahnen“, so die Preisverleiher. Die Europäische Kommission schätzt, dass sieben bis zehn Prozent des Welthandels Fälschungen und Plagiate sind.
Der weltweite Schaden wird auf 200 bis 300 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Mehr als 200.000 Arbeitsplätze werden gleichzeitig vernichtet. Die Bekämpfung dieser Wirtschaftskriminalität hat sich der Verein „Aktion Plagiarius“ auf die Fahnen geschrieben. 1977 entdeckte Professor Rido Busse, Designer und Gründer von Busse Design Ulm, zu seiner Überraschung auf einem Messestand in Hongkong ein exaktes Plagiat der von ihm entworfenen Briefwaage 8600 der Firma Soehnle- Waagen – angeboten zu einem Bruchteil des Originalpreises, aber auch in deutlich schlechterer Qualität. Das Original war 1965 von Soehnle auf den Markt gebracht worden. Verkaufspreis im Laden : 26 deutsche Mark. Der Hersteller aus Hongkong bot das Plagiat billiger an : sechs Stück für 24 Mark ! Die Ähnlichkeit der Produkte war rein äußerlich. Statt hochwertigem ABS-Kunststoff verwendete der Plagiator Polypropylen, was die Wiegegenauigkeit beträchtlich beeinflusste. Soehnle erwirkte eine einstweilige Verfügung. Der Plagiator musste die Waage von seinem Messestand entfernen und sich verpflichten, den Vertrieb zu unterlassen. Allerdings hatte er da schon über 100.000 Stück verkauft. Nach zwei Monaten bot ein anderer Hongkong-Exporteur dasselbe Modell auf dem deutschen Markt an – wieder einstweilige Verfügung, wieder Unterlassungserklärung. Doch nur wenig später kam bereits der nächste Plagiator nach Europa. Busse beschloss, durch die Vergabe eines Negativpreises die Öffentlichkeit sowie den Gesetzgeber auf den Missstand aufmerksam zu machen und über negative wirtschaftliche Auswirkungen von Fälschungen aufzuklären. So kam es, dass der „Plagiarius“ jährlich auf der Frankfurter Messe „Ambiente“ verliehen wird. Symbol ist der schwarze Zwerg mit der goldenen Nase. „Für den Plagiarius 2006 gab es nicht weniger als 60 Einreichungen“, führt Christine La croix vom Verein „Plagiarius“ im Gespräch mit economy aus. Wer einen der wenig begehrten Preise abstaubt, wird sich erst am 10. Februar weisen. Der Preis stößt mittlerweile auf großes Medieninteresse.Dem Preis folgt die Strafe
Einige Plagiatoren würden ihr unfaires Verhalten zugeben und suchen eine Einigung mit dem Original-Hersteller – durch Zahlung einer Lizenzgebühr, Entfernung des Plagiats vom Markt oder Schadenersatzzahlung. Seit 1977 haben sich die Bedrohungsszenarien durchaus gewandelt. „Waren es früher nur handliche, greifbare Produkte, die in Plagiats- Ausführungen auf den Markt kamen, ist die Palette heute viel breiter“, erklärt Lacroix. „Es gibt Produkte, die wir gar nicht zur Preisverleihung mitnehmen können – wie ganze Maschinen oder Anlagen.“ Gleichzeitig geht es vermehrt um das Abkupfern geistigen Eigentums. Unter den Einreichungen fi ndet sich unter anderem der Quellcode einer Software. Plagiatoren kopieren nur erfolgreiche Produkte, für die Nachfrage besteht, und sparen sich so die Kosten für Forschung und Entwicklung sowie fürs Marketing. „Häufi g verwenden sie billige Materialien, sodass die Qualität deutlich schlechter ausfällt und der Käufer nicht lange Freude am vermeintlichen Schnäppchen hat. Je nach Produkt kann die schlechte Qualität sogar lebensbedrohliche Auswirkungen haben“, so der Verein „Plagiarius“. Letzteres treffe bei Medikamenten, Ersatzteilen oder Spielzeug zu.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 02/2006
Naïve Hacker und wuchernde Würmer

Seinerzeit agierten die „Code Warriors“ meist noch aus lauteren Motiven. Und heute ? Ein kurzer historischer Streifzug.
Wer weiß das schon : So mancher der heutigen Superstars der Computerszene begann seine Laufbahn als – Hacker ! Darunter der junge Bill Gates, aber auch der spätere Apple-Gründer Steve Jobs, der die hackerische Manipulation der Telefon-Systeme blendend beherrschte. Dennochhatte keiner der beiden etwas Abgrund-Böses im Sinn : Für Gates stand eher die sportliche Ambition als Programmiergenie im Vordergrund, und der damals noch „arme“ Steve Jobs senkte solcherart seine Telefonkosten. Zudem beendete der kurz danach einsetzende Mega- Erfolg der ganz legalen Art ihrer beider Hacker-Karriere.
Ein unfreiwilliger Zerstörer
Zweifelhaften Ruhm hingegen erwarben sich alsbald ganz andere – und fallweise sogar unfreiwillig. So löste im Herbst 1988 ein hackender US-Student namens Robert Morris jr. vom Keyboard seiner universitären Unix-Workstation aus (mit einigen simplen Befehlszeilen) die erste ausgedehnte Virenkatastrophe aus. Das kleine Programm, seither als Prototyp eines „Internet-Worm“ berühmtberüchtigt, legte binnen weniger Stunden Ausbreitungszeit empfi ndliche Teile des US-Internet kurzerhand lahm. 3.000 Systeme waren davon direkt betroffen, 250.000 Rechner gefährdet. Die prominentesten Opfer : Nasa, Pentagon, die Élite-Universitäten Stanford, Cornell und Berkeley. Der Schaden belief sich auf zig Mio. Dollar. Morris’ Wurm (eigentlich ein „gutartiger“ Computervirus) wies nämlich einen winzigen, aber folgenschweren Programmierfehler auf, durch den er sich in den Systemen, in die er eindrang, wie wild vermehrte. Folge : Die „angesteckten“ Computer „hängten“ sich aus Überlastung „auf“, Großrechner- Netzwerke lagen tagelang brach. Dabei empfand sich Morris als „edler Hacker“, er wollte bloß zeigen, dass die Unix-Server des Internet schwere Sicherheitslücken aufwiesen. Dennoch : Er wurde zu Gefängnis und einer satten Geldstrafe verurteilt. Heute wirkt jedwede idealistische Naivität, die noch Gates, Jobs oder sogar Morris bewegte, längst deplatziert : In den „Netzwerken des freien Meinungsaustausches“ tummeln sich gefährlich wirkungsvolle Gesellen, welche aus egomanen oder finanziellen, aus destruktiven oder omnipotenten Motiven agieren.
Der Sicherheitsexperte Rob Clyde, Mitbegründer von Axent Technologies, analysiert, dass sich in der Zwischenzeit rund 30.000 Sites der hackerischen Sache verschrieben haben, das Gros davon mit dubiosen bis hin zu kriminellen Ambitionen. Und potenzielles Angriffsziel ist jedermann : So kam selbst der Branchengigant Microsoft durch eine Hacker-Attacke gehörig ins Schleudern, berichtet die USBranchen- Insiderin Amy Hart : Am 14. Oktober 2000 erhielt ein Angestellter von Microsoft eine E‑Mail mit einem harmlos wirkenden Attachment. Dieses enthielt jedoch ein kleines Programm, welches sich automatisch im System installierte und einen Outsider-Zugang zum PC des Mitarbeiters und dessen Passwörtern öffnete. Eine ärgere Panik, etwa durch ein Übergreifen dieser Mechanismen auf das interne Netzwerk von Microsoft, konnte gerade noch verhindert werden. Nur Bill Gates reagierte gelassen, denn ihm war zuvor schon klar gewesen : Das Internet hat seine jugendliche Unschuld längst verloren.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 02/2006
Phishende Netzpiraten

Die Musik-Industrie bezeichnet die Downloader der Tauschbörsen gern als digitale Freibeuter – und macht sie damit zu Helden. Die professionellen Daten-Räuber hingegen sind anders : hinterlistig, effektiv, anonym.
Als die Analysten des US-Marktforschers Jupiter Research im Herbst 2005 ihren „European Music Consumer Survey“ der Öffentlichkeit präsentierten, dürften einige ihrer Kernaussagen in den Vorstandsetagen der Musik-Industrie für heftige Diskussionen gesorgt haben : Der Branche drohe eine „demografische Zeitbombe“, denn unter Europas Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren beträgt der Anteil der Tauschbörsen-Benutzer beachtliche 34 Prozent. Und wenn es der Musik-Industrie nicht gelingen sollte, so der Jupiter Analyst Mark Mulligan, den Jugendlichen ihr illegales Handeln abzugewöhnen, indem man ihnen kostenpflichtige Download- Angebote schmackhaft machen kann, würde die Branche einen vorhersehbaren und nachhaltigen Schaden erleiden.
Eine Metapher, die hinkt
Nun, die Dimension, die sich in diesen Zahlen offenbart, dürfte die eine oder andere Führungskraft der Musik-Industrie nachdenklich gestimmt haben : Hatte doch gerade ihre Branche diese ansehnliche Benutzerschar von Napster, Grokster und Kazaa bislang unter dem Pauschalbegriff „Netzpiraten“ als leichtsinnig bis bösartig handelnde Rechtsbrecher gebrandmarkt. Und damit, wie sich jetzt herausstellt, ein gutes Drittel ihrer jugendlichen Hoffnungskunden kurzerhand in das verbale Umfeld von grenzlegalen Hackern, destruktiven Crackern und heimtückischen Daten-Dieben gedrängt. Aber auch die Metapher selber hinkt und könnte sich für die Musikbranche noch als Schuss ins eigene Knie erweisen : Die Piraten, den meisten nur aus Filmen wie „Freibeuter der Meere“ oder „Fluch der Karibik“ ein Begriff, gelten vielfach als romantische Helden, als kühne Outlaws, die ein gerechtes und freies Leben führen wollen. Dass sie zu diesem Zwecke die mächtigen und korrupten Spanier oder Portugiesen ihrer reichen Goldschätze be raubten, wird nicht unbedingt negativ gesehen, sondern mit einer Art „Robin-Hood-Gesinnung“ identifiziert und nonchalant entschuldigt. Eine im jugendlichen Massenbewusstsein gängige Analogie, die David Mc- Candles im 2001 erschienenen Buch „Netzpiraten. Die Kultur des elektronischen Verbrechens“ auf den Punkt bringt. Die Auseinandersetzung zwischen Unterhaltungsindustrie und Musik-Downloadern werde vielfach als Kampf zwischen den ausgeprägten Profitinteressen der großen Medienkonzerne und dem Recht auf privaten und freien Datentausch von Person zu Person interpretiert. Denn : „Das Internet wurde ausschließlich zu einem Zweck geschaffen : dem freien Austausch von Information“, analysiert McCandles und trifft damit wohl das Hauptmotiv (oder anders betrachtet : die Ausrede par excellence) der halbwüchsigen Netzpiraten.Anonym und destruktiv
Dennoch muss man bei genauerem Hinsehen, konkret : bereits beim ersten Versuch, sich ein Gesamtbild vom Phänomen der Netzpiraterie zu machen, erkennen, dass die wirklichen Problemzonen krimineller Aktivitäten im Internet wohl nicht in der Gestalt der Tauschbörsen- User zu identifi zieren sind. Letztere kann man mit großer Wahrscheinlichkeit und in naher Zukunft bereits mit einem attraktiven Pricing breitflächig dazu animieren, sich den ganz legalen Musik-Portalen zuzuwenden – und fortan Tokio Hotel und Co. mit einem ruhigeren Gewissen via Internet zu erstehen und auf dem iPod zu genießen. Viel schwerer bis gar nicht in den Griff bekommen wird unsere „digitale Gesellschaft“ hingegen jene Gruppen von Netzpiraten, welche aus einer mit allen technischen Mitteln abgesicherten Anonymität heraus ihre destruktiven Energien entfalten. Und auf diese heimtückische, weil nur unter extremem Aufwand rückverfolgbare Weise sich in den Rechnern nichts ahnender Privatpersonen einnisten, sich dabei entweder die rechnerischen Ressourcen des PC zu Diensten machen oder aber „bloß“ in fintenreicher Manier die persönlichen Passwörter fürs Telebanking klauen. Bereits ein kleiner Streifzug durch einige der gängigsten Formen der Internet-Kriminalität lässt dem naiven Online- User vermutlich das Blut in den Adern gefrieren. Beginnen wir mit den PC-Viren und Internet- Würmern : Die unbekannten Programmierer des per E‑Mail weit verbreiteten Bagle-Wurms haben darin einen besonders raffinierten Mechanismus eingebaut. Sobald ein leichtsinniger PC-User die angehängte Zip-Datei anklickt, installiert sich, vom Benutzer unbemerkt, ein so genanntes „Trojanisches Pferd“ im System, eine Software, welche den Viren-Schöpfern erlaubt, den Rechner aus der Ferne für ihre Zwecke zu missbrauchen. ein so genanntes „Trojanisches Pferd“ im System, eine Software, welche den Viren-Schöpfern erlaubt, den Rechner aus der Ferne für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Die wahre Wirkungsweise dieses Trojaners : Er öffnet auf den infizierten Rechnern nunmehr eine Hintertür, durch die sich die Software „Geobot“ einschleichen kann. Der Zeit ‑Autor Lars Reppes gaard recherchierte, dass mit auf diese Weise gekaperten Computern inzwischen ganze Schatten- Netzwerke entstanden sind. Dazu Dennis Jenkin von der Antivirus- Firma Kaspersky Labs : „Diese verborgenen Netzwerke bestehen aus bis zu 50.000 gekaperten Computern und werden dazu benutzt, um Spam-Mails zu verschicken. Der Versand einer Million dieser Mails bringt immerhin bis zu 10.000 Euro.“Hijacker und Zombies
Bereits der gängige Fachjargon führt die Gefährlichkeit dieser und ähnlicher Aktivitäten plastisch vor Augen : Der Vorgang selber wird gerne als „Computer Hijacking“ beschrieben, und die dadurch entstandenen Cluster von per Fernsteuerung missbräuchlich verwendbaren Computern werden zumeist als „Zombie Networks“ bezeichnet. Aber auch der Variantenreichtum der über Netzwerke von gekidnappten Computern erfolgenden Aktionen müsste in Wahrheit jeden Internet-User nachhaltig beunruhigen : Neben der Verbreitung von Virenprogrammen und Spam-Mails und neben der Auskundschaftung persönlicher Daten können Zombie Networks auch für massierte Attacken auf Websites und Firmennetze eingesetzt werden. Und dies mit einer „digitalen“ Gewalt, dass in der jüngsten Vergangenheit selbst die mächtigen Server der Internet Professionals wie Amazon, Microsoft, Symantec oder Yahoo dem nicht gewachsen waren und für Stunden offline gehen mussten. Meist nicht mit geballter geklauter Computer-Power, sondern mit umso mehr verbrecherischer Intelligenz arbeitet eine andere, jüngst zur rechten Plage gewordene Kategorie von Netzpiraten : die so genannten „Phisher“. Der Begriff „Phishing“ leitet sich vom Fischen (englisch : fi shing) nach persönlichen Daten ab. Die anonymen Täter wenden dabei gleich mehrere Tricks an : In massenhaft versendeten und oft sehr glaubwürdig wirkenden Phishing-Mails fordern sie die Empfänger im Namen etwa einer Bank oder eines Versandhauses auf, ihre Zugangsdaten durch erneutes Eintippen zu bestätigen – und zu diesem Zweck einen Link zur entsprechenden Website anzuklicken. Macht dies der vertrauensselige Benutzer, landet er jedoch nicht auf der Homepage der Bank, sondern auf einem oft hervorragend nachempfundenen Internet- Konstrukt der Daten-Diebe, dem meist kaum anzusehen ist, dass es sich dabei um eine geschickte Fälschung handelt.Traue keiner Internet-Site
Wenn der Benutzer dann noch brav der Aufforderung folgt, seine Pin- und Tan-Codes oder seine Kreditkartennummer einzugeben, sitzt er schon in der Falle der „phishenden Freibeuter“. Die hochwertvollen Daten sind futsch, der User kann nur hoffen, dass er nach dem Entdecken dieser Täuschung sein Konto nicht geleert vorfi ndet. Die getürkte Internetsite hingegen ist kurz darauf (durchschnittlich nach fünf Tagen) wieder spurlos aus dem Netz verschwunden. Und wer glaubt, die Urheber dieser hinterlistigen Phishing-Aktion seien in dubiosen, weil den internationalen Rechtsnormen nicht genügenden Staaten zu suchen, täuscht sich : Ein Drittel der Phishing-Aktionen hat seinen Ursprung in den USA. Wie schmerzhaft dem auch sei : Ihre Arbeit wird den Netzpiraten durch das sorglose Verhalten der Internet-User enorm erleichtert, zeigt eine Studie aus den USA, welche AOL und die National Cyber Security Alliance (NCSA) im Dezember 2005 durchführten. Nur 42 Prozent der PC-Benutzer konnten mit dem Begriff „Phishing“ überhaupt etwas anfangen, und relativ gut informiert waren noch beträchtlich weniger : nämlich bloß ein Viertel der Befragten. Und während die Mehrheit der Benutzer (83 Prozent) überzeugt war, ihren Internet-PC ausreichend gegen gefährliche Übergriffe geschützt zu haben, ergab die Analyse der konkreten Sicherheitsmaßnahmen ein völlig anderes Bild. Satte 81 Prozent der PC zeigten gravierende Mängel bei den Schutzmaßnahmen gegen Datenraub. 56 Prozent hatten entweder gar keinen Virenscanner installiert oder nicht up to date. 44 Prozent der Befragten hatten keine probat funktionierende Absicherung, etwa durch eine Firewall. Last but not least : Die Brisanz dieser Fakten wird durch zwei weitere Erkenntnisse der AOL/ NCSA-Studie noch verschärft. Konkret : 74 Prozent der Befragten benutzen ihren Computer für sensitive Transaktionen wie Online-Banking. Und immer noch 68 Prozent haben auf ihrem Heim-PC kritische Daten wie etwa berufl iche Korrespondenz oder Informationen zur gesundheitlichen oder fi nanziellen Situation gespeichert. Ergänzt wird dieses bedenkliche Bild durch Einschätzungen der Analysten von Jupiter Research, welche den wachsenden Markt für Onlineshopping für das Jahr 2005 mit 26 Mrd. US-Dollar beziffern.Ein wenig Paranoia hilft
Fazit aus alledem : Ein „offenes Meer an Gelegenheiten“ bietet sich den bösen Netzpiraten. Oder anders gesagt : eine üppige Landschaft von zwar vernetzten, jedoch relativ schlecht geschützten Internet-PC mit ihrer diversen Reichhaltigkeit an wertvollen persönlichen Daten. Und damit abschließend kein Missverständnis aufkommt : Selbst sträfl ich leichtsinnigen Opfern darf daraus keine Zuweisung einer Mitschuld erwachsen. Doch angesichts des kriminellen Raffinements der professionellen Netzpiraten könnte uns unbedarften Internetbenutzern ein Quäntchen jener Paranoia, welche die Medienkonzerne den vergleichsweise harmlosen jugendlichen Downloadern entgegenzubringen pfl egen, gewiss nicht schaden.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 02/2006
Goggle auf der sonnengebräunten Nase

Gute Sicht und Schutz vor der Sonne : Die Hersteller von Schibrillen tüfteln an neuen Lösungen für alte Probleme. Sie bauen Ventilatoren ein und rücken aggressiver Strahlung zu Leibe. Dass bei so viel Funktionalität das Design nicht zu kurz kommt, ist Absicht.
Schneesturm und Nebel, strahlende Sonne oder einbrechende Dämmerung : Die Sicht- und Lichtverhältnisse auf Schipisten können für Schifahrer und Snowboarder anstrengend werden. Mit der richtigen Brille – oder Goggle, wie man jetzt so schön sagt – alles kein Problem. Versprechen zumindest die Hersteller. Zur Grundausstattung eines guten Produkts gehören eine Menge Features : Die Brille darf nicht beschlagen, sie soll eine gute Rundumsicht ermöglichen, die Lichtkontraste verstärken, vor UV-Strahlung schützen, leicht, bruchsicher und angenehm zu tragen sein. Schutz vor der Sonne ist auch an nicht strahlend schönen Tagen immens wichtig. Nicht nur die langwellige, energiearme UVA-Strahlung kann das Auge – übrigens genauso wie die Haut – beeinträchtigen. Im Gebirge ist der Anteil an kurzwelliger UVB-Strahlung höher, sie schädigt die Hornhaut und kann im Extremfall zur Schneeblindheit führen. Durch die zunehmende Zerstörung der Ozonschicht dringt mehr UVC-Strahlung auf die Erde, die extrem kurzwellig und sehr aggressiv ist. Moderne Schibrillen schützen vor diesen Schädigungen, die Schutzwirkung ist unabhängig von der Farbe der Brillen, sie wird in die Scheiben eingearbeitet.
Aufheller in der Brille
Für wechselnde Lichtverhältnisse, wie sie auf Pisten oft vorzufinden sind, hat sich die Firma Uvex in ihrem Technologiezentrum in Fürth eine Innovation einfallen lassen. Die „Magic Goggle“, bei der ISPO Winter 2005 vorgestellt und derzeit noch in den USA im Probelauf, verändert ihre Lichtdurchlässigkeit auf Knopfdruck. Mittels Flüssigkristallen zwischen den Scheiben lässt sich die Brille binnen Millisekunden verdunkeln oder aufhellen. Die Stromversorgung dafür kommt von einer kleinen Sechs-Volt-Fotobatterie. 2006 soll die Neuheit auch bei uns auf den Markt kommen, verspricht Uvex. Wintersportler kennen das Phänomen, wenn am Nachmittag allmählich das Licht diffuser wird und all die Bodenunebenheiten kaum mehr zu erkennen sind. Für diese Lichtverhältnisse eignen sich Goggles mit orangefarbenen Scheiben sehr gut. Sie reduzieren und filtern den Blauanteil des Lichts heraus, der im Schnee besonders hoch ist. Alpina hat dafür die so genannten Quattroflex-Linsen entwickelt, die durch Spezialbeschichtungen für Kontrastverstärkung sorgen und Streulicht sehr gut absorbieren. Es gibt durchaus Unterschiede in den Anforderungen, die Carver und Snowboarder an ihre Goggles stellen. Da die Boarder quer zur Piste auf ihren Brettern stehen, brauchen sie ein größeres Gesichtsfeld und damit großzügigere Brillen. Modelle für Helmträger sind zudem tiefer, sprich : weiter weg vom Gesicht. Und natürlich ist die Auswahl der Brille auch eine Frage des Looks. Boarder, so erzählt ein Verkäufer in einem großen Sportgeschäft, wollen entweder die extrem auffällige Brille – Typus rosa Monster – oder ein unauffälliges, dunkles Modell. Hauptsache, die Goggle ist cool. Schifahrer hingegen zeigten sich viel mehr an der Technologie interessiert, die in ihrer neuen Brille steckt. Für solche Technik-Freaks hat Adidas die „Goggle burna“ entwickelt. Neben einem Hightech- Belüftungssystem, das Beschlagsfreiheit garantiert, gibt es die Brille auch mit einem Tear-off-System : Die Folien können immer wieder heruntergezogen werden. Fehlsichtige (bis zu vier Dioptrien) profitieren zudem von einem vom Fachoptiker anzupassenden System. Eine aus hypoallergenem Material gefertige Nasenauflage ermöglicht die Verbindung von Linse und Brille.Frischluft für Hitzköpfe
Gegen das störende Beschlagen der Brillen helfen nicht nur Lüftungslöcher oder Schlitze beziehungsweise hydrophile Beschichtungen auf der Innenseite. Der US-Schneebrillen- Hersteller Smith hat sogar einen Ventilator in seine helmkompatible „Cascade Turbo Fan“ eingebaut. Wenn dieser eingeschaltet ist, bläst er Luft in die Brille und garantiert damit klare Sicht. Ähnliches gibt es auch bei Uvex. Die „Jetstream“ hat ebenfalls eingebaute Miniventilatoren, die feuchte Luft vom Inneren der Brille nach außen absaugen. Eingeschaltet wird die Belüftung durch einen Schiebeknopf am Brillenrand, der auch mit Handschuhen zu betätigen ist. Wenn Hightech mitfährt, sind die Wetterverhältnisse Nebensache.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 01/2006
Bunte Unikate im Pulverschnee

Fast die gesamte tief verschneite Alpinzone wird von den uniformen Massenprodukten der großen Ski-Hersteller beherrscht. Nur eine kleine Firma namens „Edelwiser“ leistet nachhaltigen Widerstand.
Was haben der russische Präsident Vladimir Putin und die (noch nicht gekürten) Gewinner der heiß umkämpften ORF-Ski-Challenge gemeinsam ? Wohl nur eines : Sie werden noch in dieser Wintersaison den Genuss erleben, einen für sie ganz persönlich produzierten Ski zu fahren. Einen Ski, der nicht aus der uniformen Fabrikation eines der großen Hersteller stammt, sondern ein handgefertigtes Unikat ist, das sich durch sein individuelles Design und die integrierte Anbringung des Namens seines Besitzers aus der Masse deutlich hervorhebt. Nur wer ganz genau hinsieht, wird durch ein an diesen einzigartigen Geräten unscheinbar angebrachtes Typenschild mit Seriennummer und Logo die Manufaktur erkennen können, welche diesen Ski hergestellt hat : Es sind Erzeugnisse der bislang noch recht wenig bekannten Marke Edelwiser. Und die gleichnamige Firma residiert erstaunlicherweise weder in Tirol noch in Salzburg, sondern am Julius Tandler-Platz im neunten Wiener Gemeindebezirk. Schon im Gang vor dem Büro von Edelwiser erwartet den Besucher ein buntes Ensemble diverser Carver. Die Palette reicht von reduzierten, sehr eleganten Designs über Exemplare, die mit poetisch-philosophischen Zitaten oder bekannten Firmen- Slogans bedruckt sind, bis hin zu total flippig gestalteten Skiern, deren Oberflächen wie Ausschnitte aus Rosenbeeten, orientalischen Teppichen oder flüssigen Lavaströmen wirken.
Bezahlt wird im Voraus
Bemerkenswert daran : Bis auf einige wenige Prototypen stammen die Designs zumeist von den Kunden selbst. Denn : Alle Edelwiser werden nur „on demand“ gefertigt. Das heißt : Der Kunde ordert den Ski im gewünschten Design und bezahlt im Voraus. Erst dann werden die Schier gebaut und veredelt. Und rund 20 Tage später wird das Endprodukt in aller Regel ausgeliefert. Das Unternehmen Edelwiser verfolgt mit dieser, für die Schiproduktion recht ungewohnten Verfahrensweise einen Denkansatz, der inzwischen nicht mehr nur von individualistischen Einzelkunden, sondern auch von einer wachsenden Zahl von Firmenkunden gern in Anspruch genommen wird. Letztere sehen die mit ihrem Logo versehenen Skier vor allem als ein ideales Instrument zur Gestaltung ihrer Kundenbeziehung : Als wertvolles Geschenk an prominente Kunden oder als wirksames Marketing Tool bei Firmen-Events. Und auch der Preis stimmt : Mit 420 bis 580 Euro kosten die Edelwiser kaum mehr als ein handelsüblicher Carving-Ski der besseren Kategorie beim Sporthändler. Der „Luxus der Individualisierung“ verträgt sich anscheinend durchaus mit einer fairen Preisgestaltung. Wer nach all diesen Informationen den heimlichen Verdacht hegt, die Marke Edelwiser sei zwar eine interessante Geschäftsidee, bedeute jedoch bei näherem Hinsehen nur die gefällige Verschönerung von 08/15-Skimaterial, der irrt gewaltig. Denn : In der bekannt kritischen Hardcore Carving-Szene, siehe www. carving-ski.de im Internet, werden die Edelwiser schon längst nicht mehr als Geheimtipp gehandelt. Sie genießen nicht nur wegen ihrer Design-Philosophie, sondern vor allem wegen ihrer besonderen Fahreigenschaften bereits einen veritablen Kultstatus. Und diese offene Wertschätzung der Carver-Szene verteilt sich gleichermaßen auf die Persönlichkeiten der Firmengründer wie auf die in den Skiern verwendete Technologie. Gleich nach der ersten Überraschung, die eher produktästhetischer Natur ist, erwartet den Besucher des Wiener Büros eine weitere : Edelwiser erweist sich als neuartige Form eines Familienbetriebs. Nicola und Erwin Werdenigg, beide Mitte 40, entschlossen sich vor drei Jahren zum riskanten Unternehmen der Entwicklung eines „Customized Ski“. Die beiden waren überzeugt davon, dass die immer schneller aufeinander folgenden Produktzyklen der Massenski-Industrie längst nicht den Bedürfnissen so mancher Kunden entsprechen.Carving als Befreiungsakt
Verstärkt wurde diese „Ahnung“ durch das Faktum, dass Nicola und Erwin schon seit Langem zum Urgestein der Carver- Szene zählten. Vor allem Nicola, die einstige A‑Kader-Rennläuferin, die 1976 unter ihrem Mädchennamen Spieß bei der Olympia- Abfahrt in Innsbruck den vierten Rang belegte, hatte die Anfänge der Carving-Bewegung spontan als „Befreiung von der vorherrschenden, brutal-harten Form des Skilaufs“ empfunden, erinnert sie sich. Ihre Begegnung mit dem bis heute verkannten Carving-Pionier Reinhard Fischer, der bereits in den 80er Jahren mit der Idee eines stärker taillierten Skis bei der Industrie auf Unverständnis gestoßen war, gab für Nicola den Ausschlag.Die staatlich geprüfte Skilehrerin und zugleich leidenschaftliche Querdenkerin wurde zur begeisterten Userin und zur Propagandistin des von Fischer inzwischen in Zusammenarbeit mit einer kleinen deutschen Ski-Manufaktur (VR) entwickelten allerersten Radikal-Carving-Skis namens „Snowrider“. Nicola im Originalton : „Reinhard Fischers Idee hat das Skifahren wieder spannend gemacht. Wir sind aber erst am Anfang einer Entwicklung.“ Dass der prototypische Carving-Ski „VR Snowrider“ jedoch mangels adäquater Vermarktung keine breitere Bekanntheit erlangte, diese Tatsache empfand Nicola als überaus schmerzhaft. Dennoch : Genau dieser persönliche Zugang zu den ursprünglichen Wurzeln des Carving gepaart mit ihrer Rennläufer- Kompetenz und der nunmehr wieder ungebremsten Freude am Skilauf ließ Nicola Werdenigg erkennen, wie zukunftssicher Fischers Original- Konstruktion bereits Anfang der 90er Jahre angelegt war. Nämlich als 162 bis 172 Zentimeter kurzer „Allmountain“ Carving- Ski, der durch seine Sandwich- Bauweise aus hochwertigen Materialien und seinen relativ breiten „Shape“ von allem Anfang an für einen größtmöglichen Einsatzbereich konzipiert wurde. Kurz : Ein Ski, der von seinen „historischen Genen“ her die Fahrfreude eines Snowboards mitbringt, mit einem Radius von zwölf bis 13 Meter bei allen Pistenverhältnissen extrem wendig und spritzig reagiert, durch seine Breite wiederum wunderbar durch pulvrigen Tiefschnee gleitet. Und trotz alledem auch bei hoher Geschwindigkeit ganz ruhig – fast wie auf unsichtbaren Schienen – seine Spur in den Schnee schneidet. Alles in allem eine seltene Kombination von Eigenschaften, deren Letztere die Ex-Rennläuferin besonders freute, liegt doch ihre persönliche Downhill- Höchstgeschwindigkeit bei atemberaubenden 140 km/h.
Der Kunde wird Produzent
Was also lag näher, als diese vielseitige Konstruktion von Reinhard Fischer als Basis für einen ebenso alltagstauglichen wie hoch performanten Ski zu nehmen, mit individuellen Designs für den Kunden zu veredeln und in neuartigem Stil zu vermarkten. Die Marke „Edelwiser“ war damit geboren. Und wäre ohne das gleichermaßen visionäre wie handfest-praktische Marketing-Talent des Mitbegründers, namentlich Erwin Werdenigg, wahrscheinlich eine technologisch fein gesponnene Idee geblieben. Aus seiner gewachsenen Kompetenz als Kaufmann und Medienkonsulent war ihm eines klar : Das Konzept eines individualisierten Skis ist der klare Beweis für die These des US-Business-Vordenkers Alvin Toffler, dass der Kunde im Zeitalter des Internet tendenziell zu einem neuen Typus eines Produzenten wird. Denn : Er kann online in eine Reihe konstituierender Faktoren der Herstellung (in der Causa „Edelwiser“ eben in das Oberflächen-Design) eingreifen und sein Produkt relativ preisgünstig personalisieren.Skier als Medienflächen
Erwin Werdenigg entwickelte daher unter Hochdruck eine eigene Website, die nicht nur als kostengünstige Marketing-Plattform die Edelwiser-Message in weiteste Kundenkreise auszustrahlen vermag, sondern dem Kaufwilligen in Form des „Interactive Ski Designer“ zusätzlich ein Online Tool zur Hand gibt, seinen persönlichen Ski auch gleich zu entwerfen. Der industrielle Produktionsprozess muss, so Werdenigg, quasi aus der Natur der Sache heraus von einem mindestens ebenso innovativen Kommunikationsprozess begleitet werden. Zugleich wird der eigenhändig entworfene Ski zu einer probaten Medienfläche für den Eigentümer, auf der er seine subtilen oder plakativen Botschaften senden kann, was wiederum den Wert des Skis über seine Nutzung als Freizeitgerät hinaus in eine neue Dimension hebt. In der derart gesteigerten Identifikation erkennt Werdenigg einen beiderseitigen Nutzen für Kunden und Produzenten : Zufriedene Kunden werden freiwillig zu emotional engagierten Kommunikatoren. Zumal sie oft spontan angesprochen werden, woher sie „ihren außergewöhnlichen Ski“ denn hätten ? Die Kundenbegeisterung bezieht Werdenigg in sein Marketing gezielt mit ein. Denn : Der potenzielle Kunde wird durch einen überzeugten „Edelwiser“ meist gut beraten. Und bei einem Verkaufsabschluss lukrieren beide : Der Neukunde bekommt einen Preisvorteil und der „Botschafter“ einen Bonus. Kurz : ein klug angelegtes Konzept einer lebendigen Kunden-Community, das durchaus aufgehen könnte.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 01/2006
Anoraks mit Hirn

Rechtzeitig zum drastischen Wintereinbruch statten O‘Neill und die Interactive Wear AG unsere Snowboarder und Carver mit computerisierter Garderobe aus. Im „Hub“- Anorak sind iPod und Handy integriert.”
Diesen Winter ist es endgültig so weit : Die ohnedies bereits allgegenwärtige Heerschar an digitalen Geräten rückt uns in bislang unvorstellbarer Weise auf den Leib. Und dies im Wortsinne – nämlich hautnah. Nun hatten wir uns gerade erst daran gewöhnt, mit diversen Kombinationen von Handy, Pocket- PC oder Palm und MP3- Player in den ausgebeulten Jackentaschen unterwegs zu sein – und schon will uns die Industrie den mobil-digitalen Alltag erneut „komfortabler gestalten“. So entwickelten die Spezialisten für Sportbekleidung der US-Firma O’Neill gemeinsam mit dem innovativen Chip-Hersteller Infineon seit 2002 einen mit viel digitaler Intelligenz angereicherten Snowboard-Anorak, der rechtzeitig zur heurigen Wintersaison in ausgewählten Geschäften (um rund 500 Euro) erhältlich ist.
Kommandozentrale
Nomen ist dabei Omen : The Hub – frei übersetzt : „die Drehscheibe der Vernetzung“ – heißt diese „weltweit erste mobile Kommunikations- und Unterhaltungsjacke“. Eine Eigenschaft, die man dem modisch designten, hochgradig funktional verarbeiteten Allwetter-Textil auf den ersten Blick gar nicht ansieht. Der unauffällig integrierte, jedoch entfernbare iPod-Player und ein spezielles Bluetooth-Modul repräsentieren das digitale Herzstück der Hub-Jacke. Während Ersterer bequem zu Hause auf dem PC mit zum Pistenvergnügen passender Musik befüllt werden kann, übernimmt Letzteres dann unterwegs die kommunikative Verbindung zum mitgeführten Handy. Der entscheidende Clou an dieser radikalen Entwicklung ist jedoch die überaus komfortable Bedienbarkeit von Handy und iPod : Von der BluetoothiPod- Zentrale aus verlaufen fest verdrahtete, jedoch unsichtbar eingewobene Verbindungen zu einem in den Stoff der Außenseite des linken Jackenärmels integrierten Bedienfeld, einer Art Keyboard, das selbst mit Handschuhen eine blitzschnelle Musikauswahl oder Lautstärkeregelung erlaubt. Und wieder andere „Verdrahtungen“ enden bei adäquaten Kopfhörern beziehungsweise bei einer in den Kragen eingebauten Mikrofon- Lautsprecher-Kombination, mit der man Anrufe mit einer spontanen Handbewegung entgegennehmen kann, ohne das Handy mit klammen Fingern aus der Jacke nehmen zu müssen. Das iPod-Musikvergnügen wird während des Anrufs sogar automatisch unterbrochen – und erst fortgesetzt, wenn das Gespräch beendet ist. Und für jene Zeitgenossen, die all die faszinierenden Funktionen von „The Hub“ auf der Piste nutzen wollen, jedoch ihren zwar um sündteures Geld erstandenen, leider aber digital unfähigen Goretex-Anorak nicht gleich wegwerfen wollen, hat O’Neill ein weiteres attraktives Produkt im Programm : einen intelligenten Solar-Rucksack namens „H2 Series Backpack“.MP3-Player im Anorak
Dieser bietet nicht nur durchwegs alle zuvor beschriebenen Features des Hub-Anoraks, wie etwa ein von der darauf spezialisierten Firma ElekTek entwickeltes und am linken Tragegurt eingewobenes „Control Panel“, sondern erhöht zudem auch den „energetischen Aktionsradius“ des modernen Wintersportlers. Zwei an der Außenseite angebrachte und flexible Solar-Panels versorgen über einen in den Rucksack integrierten Akku sowohl Handy als auch iPod und Bluetooth-Modul mit dem nötigen Strom. Dabei identifiziert ein spezieller Konverter-Chip, welche der mittels USB-Schnittstelle angeschlossenen Geräte gerade eben den dringendsten Energiebedarf anzeigen – und teilt diesen ein Extra-Quantum des wertvollen Sonnenstroms zu. Kurz : Die mit dem H2 Solar Backpack ausgerüsteten Snowboarder können iPod und Handy auf der Piste (zumindest bei idealem Wetter) ausnutzen, bis der Ohrenarzt kommt. Trotz all der im HUB der H2 Series von O’Neill unscheinbar integrierten digitalen Intelligenz sehen viele Experten darin erst den Beginn eines mächtigen Trends hin zu so genannten „Wearable Electronics“. Der aus dem Nichts entstandene Neo- Markt, der 2004 immerhin bereits ein Volumen von 200 Mio. Dollar generieren konnte, wird jedoch in den kommenden Jahren noch ein gehörig Maß an Investitionen in entwicklerisches Know-how erfordern. Dies war wohl auch der Hauptgrund, warum sich Infineon, der Initialpartner bei The Hub von O’Neill, im heurigen Sommer aus der Entwicklung von „Smart Clothes“ zurückzog. Und einem Management-Buyout zustimmte, bei welchem nahezu die gesamte Führungscrew samt Entwicklerteam – nunmehr als Interactive Wear AG – weiter an neuen Ideen und Produkten schmiedet.
Aber auch andere Mitspieler arbeiten in ihren Labors bereits unter Hochdruck an interessanten Funktionalitäten : wie etwa an speziellen, in Kleidung oder Skiern integrierten Hightech-Modulen, die einem in der Alpenregion etwaig vorhandenen „Wireless LAN“ ganz nebenbei gezielte Informationen (wie Pistenzustand oder Liftfrequentierung) entlocken. Und dies dem Skifahrer in geeigneter Form (etwa über ein wetterfestes LCD am Ärmel) mitteilen könnte. Das Hauptproblem dabei sei, so hört man aus Entwicklerkreisen, vor allem die Alltagstauglichkeit. Die nötige Offroad-Robustheit werde man erst in naher Zukunft garantieren können.Mächtiger Trend
Wie dem auch sei : Fast alle Experten konzedieren der faszinierenden Idee, dass sie das Potenzial zu einem zwar langsam reifenden, jedoch mittelfristig umso mächtiger wachsenden Trend, kurz : zu einem Mrd.-Euro- Markt habe. Zu einem Trend, der in einer einfachen Tatsache begründet ist, wie Nicholas Negroponte, der Direktor des Media Lab am Massachu-setts Institute of Technology (MIT) im Dezember 1995 überaus plastisch auf den Begriff brachte : „Wir laufen herum wie Packpferde, die mit Informationsgeräten aller Art aufgesattelt sind.“ Seine logische Folgerung : Digitale Geräte diversester Art sollen endgültig „tragbar“ werden – nun aber nicht mehr im Sinne von „Herumschleppen“, sondern im echten Wortsinn : „Wearable Electronics“. Bislang unhandliche Hard- und Software wird zu „Softwear“ – zur „tragbaren Digital-Mode“. Und das Thema fasziniert : Allein in den USA haben viele der renommiertesten Forschungsinstitutionen seit Jahren eigene „Softwear-Labors“: Allen voran die Carnegie Mellon University, das Georgia Tech Research Institute und das Bostoner MIT. In Europa hat sich wiederum der deutschsprachige Raum mit dem Fraunhofer Institut und der Universität München besonders profilieren können. Die Liste der ökonomischen Mitspieler, welche Jahr für Jahr viele Mio. Euro in die Entwicklung von „Wearable Electronics“ investieren, reicht von Sportartikel- Kultmarken wie Nike, Reebok, Burton oder O’Neill über Software- Hersteller wie Microsoft bis hin zu den Unterhaltungsgiganten Disney und Sony. Die reiche Artenvielfalt solcher „Things That Think“ (also „denkender Dinge“) wird laut MIT-Professor Neil Gershenfeld, dem Initiator des „Softwear“- Projektes, ein weit gestreutes Anwendungsfeld finden.
Intelligente Ohrclips
Er denkt dabei etwa an Ohrclips, welche die Biosignale der Trägerin erfassen und erhöhte Blutdruckwerte via Sender an den Hausarzt weiterleiten. Besonders interessant, weil mannigfach einsetzbar, wären elegante „Micro-Optical“-Brillen, die mitten im visuellen Feld des einen Auges auf Pupillengröße einen vollwertigen LCD-Schirm „einspiegeln“, der (während man sich in seiner Arbeits- oder Lebensumgebung „ganz normal“ bewegt) zusätzliche digitale Informationen ins Gesichtsfeld rückt. Die Elektronik ist in Fassung und Brillenbügel nahezu unbemerkbar integriert. Und der funkvernetzte Computer dazu könnte in die Version X einer Freizeit-Jacke à la „The Hub“ ohnedies bereits vorab integriert sein. Dann bleibt wohl nur noch die eine brennende Frage offen : Ob wir Carver und Snowboarder ein solches Mehr an Information in Zukunft mitten im entfesselten Temporausch zu verarbeiten auch in der Lage sein werden ? Es sei denn : Man spiegelt uns auch die Warnsignale des drohenden Crash grell blinkend in die Pupille.Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 01/2006
Der Traum vom Real Time-Pink Cadillac

Sind Echtzeit-Unternehmen mit Just in Time-Produktion und verzögerungsfreier Logistik wirklich die Zukunft ?
Nehmen wir an, Sie gehen zum Autohändler und wollen sich (endlich!) Ihren Traum erfüllen und einen Cadillac kaufen. Allerdings : Rosarot muss er sein, mit lilafarbenen Ledersitzen. Und : Sie wollen ihn binnen drei Wochen. (Also rechtzeitig, bevor die Vernunft Sie wieder in Geiselhaft genommen hat.) Was, meinen Sie, wird geschehen ? Richtig : Der ansonsten gut sortierte Händler hat partout kein Exemplar dieser speziellen Machart lagernd. Und er wird Ihnen versichern, er könne Ihnen den Cadillac wohl liefern – jedoch frühestens in drei Monaten. Auf Ihre energische Frage nach dem „Warum“ wird er Ihnen antworten : „Wir müssen ihn doch schließlich erst herstellen!“
Sie bohren weiter : „Gerade heute werden doch ganz sicher einige Cadillacs produziert. Warum denn nicht gleich ein rosafarbener?“ Er antwortet : „Wir haben nicht gewusst, dass Sie einen solchen haben wollen.“ Daraufhin spielen Sie Ihr Killerargument aus : „Hiermit habe ich es Ihnen gesagt, nun wissen Sie es!“ Der unter Druck gesetzte Händler daraufhin : „Wir haben in der Fabrik vermutlich keine rosa Farbe lagernd. Und bis die defi nitive Bestellung bei der Produktionszentrale ist und danach Ihr Wunsch unserem Partner, der Farbfi rma, übermittelt wurde und diese den Sonderlack an uns geschickt hat, vergehen locker zwei bis drei Wochen!“ Mit dieser Antwort zufrieden, wechseln sie nun zu den Ledersitzen. Der Verkäufer beginnt allmählich seine Contenance zu verlieren. Das beschriebene Szenario stammt von Apple-Mitbegründer Steve Jobs, der diese Vision bereits vor einem Jahrzehnt der Industrie mit den Worten empfahl : „Wenn Sie den konkreten Ablauf zurückverfolgen, werden Sie zwangsläufi g entdecken, dass das Problem nicht nur darin besteht, wie lange es braucht, das Auto rein materiell herzustellen. Sondern vor allem auch, wie lange die jeweiligen Informationen benötigen, durch das System zu fl ießen. Elektronen hingegen bewegen sich in Echtzeit.“
Die Argumentation von Steve Jobs ist aus zwei Gründen bemerkenswert : Zum einen sah er sehr klar die Option voraus, durch computervermittelte Kommunikation ganz wesentlich beschleunigte Produktionsabläufe (Just in Time-Produktion) zu erzielen. Zum anderen begann sich seither auch der Charakter der Produktion in vielen Branchen prompt zu verwandeln. Und zwar von einer gleichförmigen industriellen Massenfertigung hin zu individualisierten, das heißt für die Bedürfnisse des Kunden maßgeschneiderten Lösungen und Produkten (Customerization).Zu schnell für diese Welt
Konkret : Der Cadillac-Händler 2006 ist mit der Zentrale vernetzt, diese wiederum mit ihren Zulieferern. Und alle Beteiligten verfügen über ein homogenes Software-System, welches alle Daten automatisch an die richtigen Adressaten weitergibt. Ihr Sonderwunsch ist also binnen weniger Sekunden bei allen an der Herstellung beteiligten Partnern in Evidenz. Im Idealfall werden alle nötigen Sonderteile an den Ort der endgültigen Assemblierung Ihres „Pink Cadillacs“ unverzüglich in Bewegung gesetzt. Dort angelangt, können sie zeitlich optimal in den aktuellen Produktionsablauf integriert werden. Und durch die tendenzielle Verkürzung der Transportzeit, der nötigen Produktiv-Informationen und Kenndaten gegen null setzt sich Ihre Wartezeit nur mehr aus der unabdingbaren Herstellungszeit und den echten, den physischen Transportzeiträumen der Einzelteile und des Endprodukts zusammen.
Aus der Traum : Letzteres bedeutet nämlich, dass jedwede „Echtzeit-Produktion“ zumindest bei handfesten Gütern eine Utopie bleiben wird, wie der US-Zeit-Experte Jeremy Rifkin in einem Interview spöttisch anmerkte : „Die neuen Technologien wie das Internet erlauben es den Menschen zwar, ihr Leben in Lichtgeschwindigkeit zu organisieren. Der traditionelle Kapitalismus des Marktplatzes wurde jedoch nicht für eine so schnelle Gesellschaft konzipiert. Und so bleibt das Kaufen und Verkaufen von nondigitalen Waren wohl auch in Zukunft eine träge Sache.“Ausgewählter Artikel aus dem Jahr 2006
Ein Leben zwischen Mann und Frau

Kaum eine Unterscheidung wird als so selbstverständlich und deutlich akzeptiert, als jene zwischen Mann und Frau. Dabei ist diese scheinbar klare Linienziehung für viele Menschen reine Ansichtssache. Nicht Körper, sondern Geist entscheidet über die Geschlechtsidentität von Transgendermenschen.
„Man stelle sich vor, man lebe in einer Gesellschaft, die darüber bestimmt, welches soziale Geschlecht man ist. Wie würde sich unser jetziges Leben ändern, wenn wir auf einmal die einzigen wären, die unsere echte Geschlechtsidentität kennen?“ So wird in einem Internetforum angeregt, sich den Alltag von Menschen vorzustellen, die offiziell als „krank“ gelten, weil sie sich nicht, oder nicht nur, mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren.
Kein Entweder-Oder
Die binäre Unterscheidung zwischen Mann und Frau, auf der dieses Spannungsverhältnis zu Transgendermenschen beruht, wird längst nicht in allen Kulturen als selbstverständlich gesehen. Noch immer gibt es Kulturkreise in Mexiko, Nordamerika, oder auch Südostasien, die ebenso selbstverständlich zwischen drei, oder mehreren Geschlechtsidentitäten unterscheiden.
Im westlichen Kulturraum ist Geschlechtsidentität traditionellerweise an Körpermerkmale gebunden, der Geist hingegen spielt keine Rolle. Das ist naheliegend und wird als „normal“ akzeptiert. Doch „Identität“ ist nicht zwangsweise an Gene gekoppelt. Ist der Körper nicht mehr ausschlaggebend, kann die Gegenüberstellung Mann – Frau auch als Skala gesehen werden. Manche Menschen identifizieren sich selbst mit dem „gegenüberliegenden“ Geschlecht, sehen sich als Mann und Frau gleichzeitig, oder sogar als keines von beidem – die Kombinationsmöglichkeiten laufen ins Unüberschaubare. Als Sammelbegriff hat sich der Ausdruck „Transgender“ durchgesetzt, der übrigens weder Homosexualität, noch Geschlechtsumwandlungen voraussetzt.
Transgender ist an sich kein neues Phänomen. Ein allgemeines Bewusstsein über dessen Existenz begann sich vor allem in den 60er- und 70er Jahren herauszubilden. Im Unterhaltungsmainstream ist Transgender inzwischen längst angekommen. Der Oskar-nominierte Kinofilm „Transamerica“ (2006) mit Desperate Housewives Star Felicity Huffman, zum Beispiel, bietet schon eine weit tiefreichendere Behandlungen mit dem Thema, als dies in Hollywood lange Zeit Usus war. Dazu gibt es neben elektronischen Medien auch eine Menge an Erfahrungsliteratur, wie zum Beispiel Helen Boyds „She’s not the man i married“ („Sie ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe“) über Boyds Leben mit ihrem Ehemann, der plötzlich Frau sein wollte.
Schwieriger Status
Kommen wir aber noch einmal auf die Statusfrage zurück. Transgender gilt aus medizinischer Sicht als „Störung der Geschlechtsidentität“. Ausgrenzung oder sogar Gewalt begegnen Transgendermenschen praktisch täglich. Kleinigkeiten werden im Alltag oft zur Gedulds- oder Bewährungsprobe. Spricht man sie endlich mit dem gewünschten Pronomen an, werden sie als Mann oder Frau bezeichnet ? Selbst ein simpler Toilettengang kann zum firmeninternen Skandal, bis hin zu beruflichen Konsequenzen führen, allein dadurch, dass „auf’s falsche Töpfchen“ gegangen wird.
Die Hysterie um Transgendermenschen wirkt oft ebenso reflexartig wie überzogen. Ob es sich nun tatsächlich um eine „Störung“ handelt, oder ob diese, von Mitgliedern der Transgender Community teils heftig angefochtene Bezeichnung eine ungerechtfertigte Herabsetzung eines völlig natürlichen Phänomens ist, sei vorerst dahin gestellt. Doch „krank“ oder nicht, ansteckend ist es bekannterweise nicht. Gerade deswegen erwarten sich Mitglieder der Community, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wenigstens ein bisschen mehr Gelassenheit von konservativer Seite.