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25. Juli 2024

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(K)Ein Disneyland für die Chinesen sein

(K)Ein Disneyland für die Chinesen seinAndy Urban

Josef Penninger und weitere prominente Forscher warnen die Regierung vor einer Kürzung des Forschungsbudgets. Der heimischen Forschung droht ein Super-GAU. Für sein Institut IMBA sieht er ein gutes Jahr vor sich. „Wir haben viele neue Gene gefunden, die bei Krebs, Schmerz, Fettsucht, Diabetes oder Herzerkrankungen eine Rolle spielen.“

Ende Jänner haben vier hochkarätige Wissenschaftler – Josef Penninger, Anton Zeilinger, Giulio Superti-Furga und Rainer Blatt – auf die Pauke gehauen: Der heimischen Forschung droht ein Super-GAU. Massive Qualitätseinbußen in der Grundlagenforschung und langfristige wirtschaftliche Nachteile für das Land wären die Folge, sollte die Regierung das Forschungsbudget so zusammenstreichen, wie es derzeit geplant ist.
Josef Penninger, Leiter des Instituts für Molekulare Biotechnologie der Akademie der Wissenschaften (IMBA), spricht nicht primär für sein – finanziell relativ gut aufgestelltes – Institut, sondern für die gesamte Forschungsszene in Österreich: „Wir brauchen ein vernünftiges Budget. Wir können sonst die bestehenden Strukturen nicht ausnützen und vielleicht nicht einmal erhalten. Die mühsame Aufbauarbeit wäre umsonst und die österreichische Forschung um Jahre zurückgeworfen.“ Das Minimum sind die letztes Jahr zugesagten 2,3 Mrd. Euro für die Jahre 2009 bis 2013.

economy: Was hat Ihre Initiative gegen die Forschungsbudgetkürzung bis jetzt bewirkt?

Josef Penninger: Seit 5. Februar ist unsere Initiative „Forschung ist Zukunft“ online. Wir bekamen am ersten Tag 1600 Unterstützungserklärungen. Jetzt haben wir mehr als 8000. Wir werden nicht lockerlassen.

2002 gab es eine Krise wegen unsicherer Finanzierung, 2003, 2004, 2007. Ändert sich nichts?
Ich möchte für das Land eine Vision sehen. Alles, was ich jetzt sehe, ist: Ein Loch wird da gestopft, eines dort, um den Status quo zu halten. Das wird nicht haltbar sein. Man muss sich für die Zukunft bereit machen. Es gibt viele Technologien, wo wir nicht schlecht sind, wie Umwelttechnologie oder Biotech. Wir müssen uns entscheiden. Die Frage ist, ob wir in Zukunft ein Disneyland für die Chinesen sein wollen, die zu uns kommen, um uns in Kostümen aus dem 18. Jahrhundert zu sehen. Oder ob wir etwas anderes wollen. Dann brauchen wir eine Vision, bereits in den Schulen Wissenschaft zu unterrichten, die Unis gut aufzusetzen und den Absolventen Forschungsmöglichkeiten zu bieten. Jetzt herrscht der volkswirtschaftliche Wahnsinn, dass gut ausgebildete Leute weggehen, weil sie woanders bessere Chancen haben. Die Chinesen haben ihre Rohdiamanten nach Amerika geschickt und holen sie jetzt zurück. Wir dagegen schleifen unsere Diamanten mit wahnsinnig viel Geld, schicken sie woanders hin, und die Amerikaner sagen: Super.

Wie geht es dem IMBA in Zeiten der Krise?
Wir stehen heuer noch relativ gut da. Wir haben immer gut gehaushaltet und könnten durchtauchen. Die Initiative dient nicht unserem Selbstinteresse. Aber wenn links und rechts alles zusammenbricht, schauen auch wir schlecht aus. Dann ist es sehr schwer, gute Leute ans IMBA und generell nach Österreich zu holen.

Gibt es Unsicherheit am IMBA? Sagen Ihnen die Leute, dass sie abwandern werden?
Ja, ein paar haben mir das gesagt. Die lesen alle Zeitung.

Sie waren in Kanada sehr erfolgreich. Haben Sie es jemals bereut, nach Österreich zurückgekommen zu sein?

Ja, etliche Male. Ich hätte es mir einfacher vorgestellt.

Wie würden Sie sich selbst bezeichnen, als Immunologe oder Molekularbiologe?

Als Wissenschaftler. Ich studierte Medizin und schrieb meine Doktorarbeit über Immunologie bei Georg Wick in Innsbruck. In Kanada machte ich auch Immunologie – wie sich weiße Blutkörperchen entwickeln und wie diese Zellen Infektionen erkennen, wie deren Rezeptoren funktionieren oder wie sie Signale senden. Als Mediziner interessiert es mich, Modelle menschlicher Erkrankungen zu entwickeln. Wir können genetisch an Tierversuchen menschliche Erkrankungen nachstellen und zeigen, welche Gene für welche Erkrankungen verantwortlich sind. In den letzten Jahren haben wir zu Diabetes gearbeitet, und wir konnten einige Mechanismen aufklären, warum Vogelgrippe und Sars-Infektionen so tödlich sind.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Mein halbes Labor hat die letzten vier, fünf Jahre dazu verwendet, um in Fruchtfliegen Modelle für menschliche Erkrankungen aufzubauen. Wir haben Schmerzmodelle und Krebsmetastasenmodelle gemacht. Wir haben dicke und dünne Fliegen gezüchtet, also Fettsuchtmodelle aufgestellt. Wir haben Modelle für Blutentwicklung und Herzerkrankungen. Die Idee dahinter ist, systematisch das genetische Universum eines Organismus abzusuchen. Wir arbeiten mit Genetikern, die uns sagen, welches Gen für Herzerkrankungen oder Schmerzempfindung beim Menschen verantwortlich sein könnte. Dann ändern wir bei der Maus das Gen, das wir bei Fliegen und Menschen gefunden haben, und schauen, ob es stimmt.

Die Maus als Bindeglied?

Bei Fliegen haben wir neue Gene gefunden, die den Schmerz kontrollieren. Das entsprechende Gen haben wir bei Mäusen abgeschaltet. Die Mäuse zeigten genau, was wir in Fliegen vorausgesagt hatten. Die Idee funktioniert also.

Das sogenannte Dream-Gen?

Auch. Wir haben aber auch vollkommen neue Gene. Eine Maus ohne eines dieser neuen Gene hat ein verändertes Schmerzempfinden. Wir haben ein Gen gefunden, das den Fetthaushalt kontrolliert. Heuer sollte ein sehr gutes Jahr für uns werden. Eine Studentin hat etwa ein neues Krebsgen gefunden, das wahrscheinlich ein neuer Marker ist, mit dem wir eventuell Lungenmetastasen bei Frauen mit Brustkrebs voraussagen können. Durch unsere systemischen Untersuchungen in Fliegen sitzen wir auf Hunderten von neuen Genen, die bei Krebs, Schmerz, Fettsucht, Diabetes oder Herzerkrankungen eine Rolle spielen könnten. Die Funktionen der meisten dieser Gene waren bisher unbekannt.

Wo wollen Sie in fünf Jahren stehen?
Ich will eine Vision für Forschung in Österreich sehen. Alle Studien zeigen, dass Forschung die beste Investition in Krisenzeiten ist. Wir müssen unser Institut IMBA auch größer machen. Wir müssen uns mindestens verdoppeln, um in der Champion’s League langfristig mitspielen zu können.

Christine Wahlmüller, Margarete Endl, Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Ärzteschaft im World Wide Web

Ärzteschaft im World Wide WebBilderbox.com

Medizinische Informationen im Internet werden vor allem von der Ärzteschaft noch als Gefahr oder besser als Konkurrenz gesehen und vom Gesetzgeber ignoriert. Dass das noch immer als jung bezeichnete Medium jedoch auch einen großen Nutzen für Arzt und Patient haben kann, zeigen eine Studie der Uni Wien und Stimmen aus der Praxis.

Gesundheit und Medizin sind ein Lieblingsthema der österreichischen Internet-Surfer. Die schier nie enden wollende Informationsquelle wird immer öfter im Hinblick auf Gesundheitsthemen angezapft. Laut Daten von Statistik Austria werden gerade hierzulande Webseiten, die medizinische Informationen anbieten, stark nachgefragt.
Im Jahr 2007 haben 41 Prozent der Internet-Nutzer gesundheitsbezogene Informationen im Internet gesucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass Frauen einzig in diesem Bereich wesentlich häufiger das Internet als Quelle heranziehen als Männer. Schlagwörter wie Cyberdoktor, Online-Selbsthilfe sowie „mündige“ Patienten deuten dabei auf unterschiedlichste Hoffnungen und Erwartungen hin, die an Online-Gesundheitsinformationen in ihren unterschiedlichsten Formen geknüpft werden.
Auch im politischen Bereich ist hier einiges in Bewegung geraten. Insbesondere auf europäischer Ebene wurde stark auf die Entwicklung und den Ausbau von E-Health, also auf eine von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) getragene Neugestaltung des Gesundheitswesens, gesetzt. Dies umfasst Anwendungen wie die umstrittene elektronische Krankenakte, die Fernversorgung durch Kommunikation mit Spezialisten über große Distanzen oder das Monitoring von Patienten zum Beispiel über das Handy. Aber vor allem wird erwartet, dass Patienten und Bürger durch ein Mehr an Information mit ihrer Krankheit besser leben beziehungsweise diese durch entsprechendes Verhalten sogar verhindern können. Nicht zuletzt soll mithilfe von IKT das Medizinsystem einen verstärkten Dienstleistungscharakter annehmen und damit ein neues Bewusstsein in Bezug auf erbrachte beziehungsweise zu erbringende Leistungen sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten erwirken.
Da das Internet aber von seiner Konzeption her als offenes Medium gedacht wurde, ergeben sich daraus schnell zwei Problemstellungen: einerseits die Datensicherheit und andererseits der Umgang mit Informationen im Netz, die von medizinischer Seite als falsch und bisweilen sogar gefährlich eingestuft werden. Den Bürger oder besser gesagt den Patienten zu schützen wird daher vor allem vonseiten der Politik als eine der großen Herausforderungen gesehen, die bewältigt werden muss.

Voraussetzung: Transparenz

Nachdem die Einführung der neuen IKT in das Gesundheitssystem eine ganze Palette neuer Möglichkeiten, aber auch Problemfelder eröffnet, hat die Universitätsprofessorin Ulrike Felt vom Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien ein vom Wissenschaftsfonds gefördertes Projekt zum Thema „Möglichkeiten und Herausforderungen für die Medizin im Internet-Zeitalter“ durchgeführt und im vergangenen Jahr präsentiert. Dieses sollte das Potenzial, aber auch die Grenzen von Gesundheitsinformationen aus dem Netz aufzeigen. Dabei wurde der Fokus auf die Perspektive des einzelnen Bürgers gerichtet, wobei auch Sichtweisen von Politik, Medien, Internet-Seitenanbietern und Ärzten mit einbezogen wurden.
Die Ergebnisse wurden im Rahmen einer Podiumsdiskussion präsentiert. Für die im Jahr 2005 gestartete Studie wurden Patienten bei der Suche im Internet beobachtet und deren Verhalten analysiert sowie Befragungen in Arztpraxen durchgeführt. Die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass Online-Gesundheitsinformationen kaum als Ersatz für den Arzt genutzt werden. Doch informieren sich mittlerweile Patienten oft über Foren und andere Plattformen und können mit den Ärzten besser diskutieren. Ein Problem dabei ist die Qualität der Inhalte. Die wenigsten Anwender wissen, dass es ein Gütesiegel (HON) dafür gibt. Viel mehr gehen Anwender von anderen Kriterien wie zum Beispiel dem Aussehen der Seite aus. Eine schlichte Seite wird oftmals als professionell wahrgenommen. „Das Gütesiegel hat jedoch nichts mit den Inhalten zu tun. Eigentlich geht es um Transparenz“, so Christian Maté, Geschäftsführer von Netdoctor.at. Unter Transparenz versteht er die Offenlegung des Autors sowie Kennzeichnung von Werbung.

Die Community hilft heilen

Die auf Diabetes spezialisierte Allgemeinmedizinerin Susanne Pusarnig kann dem Medium Internet durchaus Positives abgewinnen. „Die User haben die Foren in der Hand und pflegen die Inhalte durchwegs gut“, so die Ärztin. Dass eine gewisse Mündigkeit nicht fehlen darf, ist allen Diskutanten klar. „Die Anwender müssen lernen das Medium zu nutzen. Man muss aber immer kritisch bleiben“, meint Peter Brosch, E-Health-Spezialist im Gesundheitsministerium. Pusarnig legt nach und meint: „Auch wir (die Ärzteschaft, Anm. d. Red.) sind auf Patienten im Netz angewiesen. Hier kann man als Arzt viel schneller über Erfahrungen mit neuen Medikamenten nachlesen, als je Patienten in eine Praxis kommen können.“ Außerdem dürfe man nicht die Selbstheilungskräfte einer Community nicht unterschätzen, betont Netdoctor.at-Geschäftsführer Maté.
Aber auch das E-Mail ist ein Medium, mit dem Patienten besser betreut werden können. So kommuniziert Pusarnig mit ihren Patienten mittels elektronischer Briefe. „Diabetiker müssen Stunde für Stunde Entscheidungen treffen, wie sie sich selbst therapieren. Meine Patienten wissen, dass ich per Internet einfach zu erreichen bin. Viele Dinge kann man durch ein schnelles E-Mail lösen“, sagt die Ärztin, die sich nicht scheut, das gesetzlich nicht korrekte Vorgehen öffentlich zuzugeben. Die Vorteile liegen für sie klar auf der Hand: „Das bringt mehr Zeit für den einzelnen 
Patienten.“

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Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Heilbedarf im Gesundheitssystem

Heilbedarf im GesundheitssystemPhotos.com

Mangelnde Kontrolle von Ärzteabrechnungen, Nahebeziehungen zu Pharmafirmen und diagnostische Grauzonen zeigen eklatanten Verbesserungsbedarf im Verhältnis Kassen – Ärzte – Patient auf.

In kaum einem Berufsstand ist die Grauzone zwischen ordentlicher Gebarung und Korrup-tion so weit gefächert wie in der Welt der weißen Kittel. Woran das liegt? An einem unheilvollen Gegenüber einer milliardenschweren Pharma- und Gesundheitsindustrie als Gegenpart zu einer finanzierenden öffentlichen Hand.
Kaum ein anderer Steuertopf ist in den meisten westlichen Industrieländern so massiv dotiert wie das Gesundheitsbudget, und wo staatliches Geld ausgegeben wird, ist erfahrungsgemäß auch das Unrechtsbewusstsein eher gering. Wenn staatliche Kollektive wie die Krankenkassen und Gesundheitsfonds Geld an unternehmerische Kollektive wie Pharma- und Medizintechnikunternehmen verteilen, ist ein Geschädigter auf den ersten Blick nicht auszumachen; es ist die „Allgemeinheit“, die Versicherten. Den Schaden, der durch die strukturellen Mängel eines solchen Systems durch (Alltags-) Korruption und Missbrauch angerichtet wird, beziffert die Anti-Korruptionsorganisa-tion Transparency International mit „vielen Milliarden Euro“ im Jahr. Konkreter sind es nach Angaben heimischer Korruptionsexperten fast zwei Milliarden Euro.
Zum Vergleich: Die österreichische Entwicklungshilfe betrug zuletzt 1,3 Mrd. Euro im Jahr, mit dem Unterschied, dass sie zum Großteil Bedürftigen zugutekommt. In ganz Europa, sagt Martin Kreutner, Korruptionsexperte im Innenministe-rium, liegt der Verlust durch Korruption im Gesundheitswesen in der beeindruckenden Spanne „zwischen 30 und 100 Milliarden Euro“.
Im Zentrum dieses Systems stehen Ärzte und Mediziner, auf der einen Seite verwöhnt und verhätschelt von marketinggetriebenen Pharmaunternehmen, auf der anderen Seite zwangsläufig respektiert von den Patienten. Der Vorteil, den nur wenige Berufsgruppen abseits der Ärzte genießen, ist die mangelnde Gleichberechtigung des Diensteanbieters und des Kunden, des Patienten. Das System kann sich nicht durch Angebot und Nachfrage regeln, da die Nachfrage nach Gesundheit keine marktgetriebene, sondern naturgemäß vorhanden und nahezu unerschöpflich ist.

Keine Selbstregulierung

Aus diesem Grund führen auch private Gesundheitsversorgungssysteme nicht zu einer Verbilligung der Leistungen, da dafür ja die marktwirtschaftlichen Voraussetzungen alter Schule wie eine Selbstregulierung von Angebot und Nachfrage fehlen. Der Gesundheitsmarkt, und das vor allem in Zeiten immer besserer medizinischer Techniken und immer wirksamerer Heilpräparate, ist ein Quell nie versiegender Renditen.
Natürlich ist ein solches System anfällig für aufgehaltene Hände, und es verwundert nicht, dass es ein weites Feld für Aufdeckerjournalisten und Korruptionsjäger bietet. Die letzte harte Attacke ritt der Journalist Hans Weiss in seinem Buch Korrupte Medizin, in dem er in Undercover-Manier die Machenschaften der Pharmaindustrie erforschte. Sein Schluss: Überdurchschnittlich viele Ärzte lassen sich von den Pharma-unternehmen kaufen, indem sie „Fortbildungsreisen“ genießen, „Medikamententests“ erstellen, bezahlte Studien anfertigen und bestimmte Produkte häufiger verschreiben als andere. Weiss: „Die 2,6 Milliarden Euro, die die Kassen jährlich an Medikamentenkosten ausgeben, sind nur 50 Millionen wert.“ Der Rest fließe als Profit an die Pharmakonzerne und diene zur Refinanzierung des korrupten Systems.
Die Reaktion der Ärztevertreter fiel erwartungsgemäß empört aus: Neben dem Allgemeinplatz der „schwarzen Schafe“ befand Thomas Szekeres, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer, die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pharma-unternehmen nicht als „Manipulation, sondern als Information und Weiterbildung“. Klare Trennungen werde es aber „nie geben können“, so Szekeres. Pharmavertreter verwiesen ihrerseits darauf, dass sich „die Mehrheit der Unternehmen“ an die Regeln halte.
Zwischen den Zeilen liest man aus diesen Antworten heraus, dass Korruption im Medizinbereich gar nicht einmal abgestritten, sondern bis zu einem gewissen Maß offenbar als systemimmanent hingenommen wird.
Eine Tatsache, die der Korruptionsbekämpfungsorganisation Transparency International sauer aufstößt. Es gebe in Österreich „eine große Bandbreite an Korruptionssituationen“ im Gesundheitswesen. Dazu zählen nicht nur die „weit verbreitete Kuvertmedizin“, sondern auch Missstände bei Spitalsverwaltungen und ihren Dienstleistern, wie aus Rechnungshofberichten hervorgehe. Außerdem würden „zahlreiche Interessenkonflikte“ zwischen Ärzten und Pharmaindustrie, der Missbrauch öffentlicher Infrastruktur und Abrechnungsbetrug auftreten, sagt Transparency-Österreich-Chefin Eva Geiblinger. Für den Arzt und Systemkritiker Werner Vogt sind die Zustände gar „eine Schande für die Medizin“.

Einfache Gegenmaßnahmen
Wie ist aber dem Problem beizukommen? Die verschiedenen Formen, die die Korruption im Gesundheitswesen annimmt, machen es umso schwerer. Laut Transparency International reicht die Bandbreite in Europa von Ärzten, die Medikamente oder Dienstleistungen verkaufen, die gratis erhältlich sein sollten, über hochrangige Regierungsbeamte, die Geld aus dem Gesundheitsbudget unterschlagen, bis hin zu Pharmaunternehmen, die über Forschungsprogramme Einfluss erkaufen oder Zahnärzten, die billig im Ausland produzierten Zahnersatz auf inländische Höchstpreise umschreiben.
Gefordert wird daher eine durchgreifende Professionalisierung der Körperschaften öffentlichen Rechts, sowohl der Krankenkassen als auch der Ärztekammern, die Offenlegung von Beziehungen zu Sponsoren sowie die Registrierung bezahlter klinischer Studien, klare Richtlinien für die Drittmittelfinanzierung von Universitäten und staatlichen Kliniken und nicht zuletzt harsche Maßnahmen wie die Einführung fälschungssicherer Medikamentenverpackungen und gesetzliche Regressmöglichkeiten der Krankenkassen.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Kranke Kassen bluten aus

Kranke Kassen bluten ausAPA/Hans Klaus Techt

Das Krankenkassensystem in Österreich steht vor dem Finanz-Infarkt. Mit 1,2 Mrd. Euro Schulden droht das System aus dem Ruder zu laufen. Einsparungen sind dringend nötig, doch schwer umzusetzen.

Die Diagnose des österreichischen Krankenkassensystems ist verheerend: Die elf heimischen Kassen sind mit 1,2 Mrd. Euro in der Kreide, ergab die Bilanz des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger für das Jahr 2008. Ohne dringende Geldinfusion werden sie das Jahr 2009 nicht durchstehen, jedenfalls nicht mit den bisher gewohnten Leistungen, warnten die Kassenvorstände.
Die Gesundheitsausgaben in Österreich schlugen sich mit 13 Mrd. Euro zu Buche, und sie werden im laufenden Jahr nicht sinken, im Gegensatz zu den Beitragseinnahmen. Diese nämlich werden durch die steigende Arbeitslosigkeit sicherlich unter den Prognosen zu liegen kommen. Beträgt der „normale“ zusätzliche Finanzierungsbedarf der Kassen heuer weitere 100 Mio. Euro und 2010 das Doppelte, so schlägt sich der Rückgang der Beiträge von nur einem Prozentpunkt mit 60 weiteren Mio. Euro pro Jahr zu Buche, ist dem entsprechenden Konzeptpapier des Gesundheitsministeriums zu entnehmen. In Summe heißt das also, dass der „Abgang“ der Krankenkassen Ende 2010 bei mehr als 1,5 Mrd. zu liegen kommen wird. Rechnet man den prognostizierten Beitragsentgang durch steigende Arbeitslosigkeit ein, wird der Refinanzierungsbedarf eher 1,7 Mrd. Euro betragen.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Schätzungen den Geldentgang durch Korruption im Gesundheitswesen zulasten der Kassen auf knapp zwei Mrd. Euro im Jahr taxieren (siehe Seite 15). Allein mit der Eindämmung der Korruption könnte also ein spürbarer Beitrag zur Gesundung der Kassen geleistet werden, doch dafür würden merkliche Strukturreformen im gesamten Medizinbereich, von den Kassen über die Kammern bis hin zur staatlichen Forschung und den niedergelassenen Ärzten, nötig sein, an denen schon zahlreiche Regierungen gescheitert sind.
Apropos scheitern: Durch die extrem kameralistische Struktur der Krankenkassen und die mit nahezu jeder Legislaturperiode oder Neuwahl wechselnden Einflüsse wurde in den letzten Jahren eine wirklich durchgreifende Gesundheitsreform verunmöglicht. Dazu kommt das erschwerte Durchgriffsrecht des Ministeriums auf die selbstverwalteten Spitäler, der enorme Einfluss der reform-aversen Ärztekammer und die Macht der Pharmakonzerne. Nach wie vor gibt es in der Gesundheitsverwaltung zahlreiche Doppelgleisigkeiten und eingerostete Strukturen.

Negatives Reinvermögen

Der neue Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) will den Kassen heuer erst mal eine Finanzspritze von 400 Mio. Euro verabreichen, im Wesentlichen durch Umverteilung von Steuergeld aus anderen Töpfen, indem er etwa das Sozialministerium und das Finanzministerium anzapft. Im nächsten Jahr soll ein sogenanntes „Entschuldungsgesetz“ für die Kassen kommen, das es erlaubt, einen Großteil der Schulden, das sogenannte „negative Reinvermögen“ der Kassen, aus dem Budget abzudecken.
Kritiker dieses Konzepts se-hen dadurch möglichen Strukturreformen und inneren Sparmaßnahmen der Kassen jeden Wind aus den Segeln genommen. „Das ist nur eine kurze Verschnaufpause für die maroden Kassen“, maulte etwa FPÖ-Generalsekretär und Sozialsprecher Herbert Kickl. „Das Abziehen von Geld aus Steuermitteln zum Stopfen von Finanzlöchern im Gesundheitsbereich kann ja nicht in alle Ewigkeit so weitergehen“, so der Freiheitliche. Er forderte – im Übrigen im Einklang mit der restlichen Opposition – die Umsetzung einer „echten Reform der Struktur“ und eine „nachhaltige Bekämpfung des Missbrauchs im Gesundheitssystems“.
Hans Jörg Schelling, der neue Vorsitzende des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, hat zumindest zum Amtsantritt ein „Reformpaket“ für die Krankenkassen angekündigt. So wolle er dafür sorgen, dass die Kassen „ihre Hausaufgaben machen“. Was damit gemeint ist: „Alle noch möglichen Einsparungseffekte, die im Bereich der Abwicklung des gesamten Versicherungssystems vorhanden sind“, sollen genutzt werden, kündigte Schelling an. Auf diese Weise sollen Beitragserhöhung, aber auch Leistungskürzungen vermieden werden. Da seine Reformideen aber auch Ärzteverträge und Qualitätskontrollen der Ärztekammer umfassen, schoss diese erwartungsgemäß mit scharfem Geschütz zurück: Die Ärzte betreffende Einsparungsvorschläge würden von einer „bestimmten Gesinnung“ zeugen und weiter den „ohnehin schon aufgeblähten Verwaltungsapparat“ beschäftigen, urteilte der niederösterreichische Ärztekammerpräsident Christoph Reisner. „Wer reformiert, sollte im gleichen Atemzug Verwaltungsbürokratie ab- statt aufbauen.“

Zusammenarbeit gesucht
Am schwersten auf der Tasche liegen den Kassen die Medikamentenkosten. Daher ist einer der größten Reformbrocken die Eindämmung der Arzneimittelkosten in Zusammenarbeit mit den Pharmafirmen, die immerhin etwas Bewegung in diese Richtung signalisiert haben. Auch die Senkung der Mehrwertsteuer auf Medikamente von 20 auf zehn Prozent, seit 1. Jänner 2009 in Kraft, hat diesbezüglich Entlastung gebracht. „Das war längst überfällig“, sagt Apothekerkammerpräsident Heinrich Burggasser. Österreich hatte bisher hinter Dänemark den höchsten Mehrwertsteuersatz auf Medikamente, wobei man aber immer noch von den niedrigen einstelligen Sätzen in Frankreich und der Schweiz oder null Prozent in Irland, Großbritannien und Schweden entfernt ist.
Einsparungspotenzial im Medikamentenbereich sieht Gesundheitsminister Stöger auch in einer Ausweitung des Rabattsystems für häufig verschriebene Medikamente, ein System, gegen das die Pharmabranche derzeit in Deutschland Sturm läuft, wo es als „Arzneimittelsparpaket“ bezeichnet wird. Medikamententeuerung über der Bruttoinlandsprodukt-Steigerung will Stöger künftig aber nicht mehr durchgehen lassen.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Eine Gesundheitsstadt in der Wüste

Eine Gesundheitsstadt in der WüsteEPA/economy

Die Dubai Healthcare City will auf 90 Hektar Fläche das weltweit größte Medizin- und Wellness-Zentrum werden.

Größtenteils ist sie zwar noch eine Baustelle, aber damit fangen bekanntlich alle großen Freezone-Projekte im Emirat Dubai an: Die Dubai Health-care City ist eine Initiative des Scheichs von Dubai, um ausländische Medizinprofessionalisten mit guten Geschäftsaussichten ins Land zu locken und gleichzeitig für Schwung in der regionalen Gesundheitswirtschaft zu sorgen.
Das 800 Mio. Dollar-Projekt sieht eine komplette „Gesundheitsstadt“ auf rund 90 Hektar Fläche vor und liegt – im Gegensatz zu anderen Freehold-Zonen – relativ zentral in der Innenstadt in der Nähe des Dubai Creek. Dies soll vor allem eine Attraktion für die erwarteten elf Mio. Gesundheitstouristen sein, die sich der Projektentwickler Tatweer, eine Tochterfirma der Dubai Holding, dem Unternehmenskonglomerat von Dubais Scheich Maktoum, von der Healthcare City erwartet.

Kommerz mit Forschung
Wie Ayesha Abdullah, die Direktorin der Healthcare City, auf der Ende Jänner 2009 abgehaltenen Gesundheitsmesse Arab Health erklärte, soll das Projekt zur „weltweit größten integrierten Gesundheitsstadt“ mit hochrangigen Health- und Wellness-Services aller Art werden.
In der Tat ist das Konzept ziemlich umfangreich. Die Healthcare City umfasst zwei thematische Generalbereiche:Gesundheit und Wellness. Darin soll sich alles vereinen, was man unter Gesundheitsservices im engeren und weiteren Sinne versteht: Kliniken, Arztpraxen, Praxisgemeinschaften, Fortbildungsstätten und Institute, Forschungseinrichtungen, Niederlassungen von Medizintechnikfirmen und nicht zuletzt auch Anbieter von Alternativmedizin, Schönheitschirurgie, Ernährungsberatung und dergleichen.
Zu diesem Zweck holt Dubai hochrangige Experten ins Land, um das Konzept zu preisen, wie eben zuletzt auf der Arab-Health-Messe (deren Generalsponsor im Übrigen Tatweer ist). Dieses Jahr war allerdings ein leichter Überhang von Medizintechnikunternehmen zu bemerken, während sich internationale Institute und Fachexperten rarer machten. Ein weiterer Beweis, kritisierten Besucher, dass Dubai den kommerziellen Charakter des Gesundheitswesens überbetone.
Wobei das allerdings nur die halbe Wahrheit ist: Wie Healthcare City-Direktorin Ayesha Abdullah vor Journalisten auf der Messe herausstrich, soll nun unter anderem eine neue Diabetes-Forschungseinrichtung ins Leben gerufen werden, um diese im arabischen Raum weit verbreitete Krankheit zu bekämpfen. Ferner wurde mit der Dubai Harvard Foundation for Medical Research ein Wissenschaftsjournalisten-Fellowship ins Leben gerufen und mit der Harvard University ein neues Postgraduate-Ausbildungsprogramm gestartet.
Wenn die Dubai Healthcare City wie geplant 2010 fertiggestellt sein sollte, soll sie nichts weniger als ein „Center of Excellence für die gesamte Medizinwelt“ werden, betonte Aye-sha Abdullah.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Die Seele fliegen lassen

Die Seele fliegen lassenCaritas Socialis

Das Sterben wird versteckt, damit es die Lebenden nicht erschreckt. Die Hospizbewegung will Sterben wieder als Teil des Lebens begreiflich machen: über Schmerzfreiheit und Lebensqualität bis zum Schluss.

Todkranke wohnen in einer Art Paralleluniversum. Ihr Rollstuhl wird zwar durch dieselbe Welt geschoben, doch die Berührungspunkte mit den scheinbar Unverwundbaren sind minimal: Hier befinden sich die Lebenden und dort das Gegenteil, könnte es geradezu lauten. Es gilt als Zeichen der Zeit, dass Sterben inmitten verordneter Jugendlichkeit nichts zu suchen hat. Doch der Druck steigt. Die immer weiter alternde Bevölkerung rückt das Thema Lebensende zurück in den Alltag.
Es war Mitte des letzten Jahrhunderts, als die letzten Lebenswochen von zu Hause ins Krankenhaus verlegt wurden. Die lebensverlängernde Apparatemedizin entfremdete den selbstverständlichen Umgang mit dem Sterben, mit ihr stieg auch die Ohnmacht der Ärzte. Wissenschaft und Spitäler waren nicht darauf ausgerichtet zu helfen, wenn es keine Heilung mehr gab. Die lindernde, aber nicht mehr reparierende Palliativmedizin stand am Anfang. Schmerzen, die insbesondere Krebs mit sich brachte, wurden nur unzureichend bekämpft. „Morphium“, ist in der Geschichte des britischen 
St. Christopher’s Hospice nachzulesen, „galt als süchtig machend und zu gefährlich.“
Kommen kann ins Wiener Hospiz Rennweg jeder. Die Einrichtung wird von der Caritas Socialis betrieben und besteht aus einem mobilen Hospizdienst und einer Palliativstation. „Die meisten kommen, nachdem sie schon lange gekämpft haben“, sagt Kommunikationschefin Sabina Dirnberger. Die Worte in der Hospizbewegung sind gewählt, Bewohner sind hier Gäste. Im Leitfaden des Dachverbands Hospiz Österreich ist nachzulesen, dass es darum ginge, „Menschen in der schwersten Lebenskrise wahrhaftig zu begegnen.“ Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, zählt nichts mehr als Behutsamkeit und Respekt.
Die Anrufe kommen zumeist von Angehörigen oder Entlassungsmanagern der Krankenhäuser. Davor steht die wichtigste aller Entscheidungen: Ich will keine kurative Medizin mehr, sondern nur noch palliative. „Das heißt, ich will einfach schmerzfrei sein“, sagt Dirnberger. Die Grenzen sind hier schwimmend. Es gibt etwa auch Chemotherapien, die nur noch auf Linderung abzielen.

Morphium-Bewegung
Ihren Ausgang nahm die Hospizbewegung in Großbritannien. Die Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders gründete 1967 das St. Christopher’s Hospice im kleinen Ort Sydenham in der Nähe von London. St. Christopher’s war längst nicht das erste Hospiz – die Entwicklung geht historisch bis auf die Römerzeit zurück – aber das erste, das sich auf professionelle Schmerzbehandlung konzentrierte. Ein nennenswerter Teil palliativer Forschung, insbesondere zum Einsatz vom Morphium, wurde hier angestoßen und auch umgesetzt. Ärzte und Pfleger aus der ganzen Welt wurden in St. Christopher’s ausgebildet.
Ganzheitliche Pflege im Sinne der Hospizbewegung versteht Schmerz nicht nur als körperlich. „Palliativmedizin behandelt körperlichen, sozialen und spirituellen Schmerz“, sagt Bernhard Jonas, leitender Arzt der Palliativstation im Hospiz Rennweg. Dass nach bestimmten Diagnosen nichts mehr zu machen sei, ließ Saunders nie gelten. „Es kann so viel mehr getan werden“, soll sie stets entgegnet haben. Sterbehilfe lehnte die Medizinerin wie die meisten ihrer späteren Kollegen innerhalb der Hospizbewegung strikt ab. Sie hielt das Trauma, das Familienangehörige durch einen Freitod davontrügen, für kaum überwindbar. Vielmehr müsste die Annäherung an den Tod als letzter Teil des Lebens begriffen werden. Saunders, die vor vier Jahren 87-jährig in ihrem eigenen Hospiz verstarb, hielt dies für eine grundlegende Lebenserfahrung.
„Die medizinische Entwicklung zögert das Ende immer weiter hinaus. Das ergibt einen anderen Blick auf das Lebensende“, sagt Dirnberger. Fragen, wie lange das Leben verlängert werden soll, kämen auf. Und auch Müdigkeit. Wenn Patienten sagen: „Ich mag nicht mehr.“
In der Vergangenheit bedeutete dies meist, dass Krankenpfleger mit den aufgegebenen Patienten allein gelassen wurden. Die Hospizbewegung wollte nicht nur diese Lücke füllen. Es ging darum, den Sterbenden bis zuletzt zu Lebensqualität zu verhelfen. „In vielen Spitälern kann man sich um solche Patienten nur am Rande kümmern. Hier können wir uns ihnen voll und ganz widmen“, sagt Hospiz-arzt Jonas.
Ein alles entscheidender Schritt in der Palliativmedizin – weitgehende Schmerzfreiheit zu gewähren – gelang mithilfe von Morphium. Während dieses Mitte des letzten Jahrhunderts noch als Droge galt, starben in den Spitälern Krebskranke unter großen Schmerzen. Die Britin Saunders war überzeugt, dass Morphium ein geradezu idealer Wirkstoff sei. Bei entsprechender Verwendung würden kaum Nebenwirkungen auftreten. Patienten sollten genau so viel Morphium erhalten, wie es nötig war, um ein schmerzfreies Lebensende zu gewährleisten.

Schmerzfreiheit

Garantieren lässt sich völlige Schmerzfreiheit nicht für jeden einzelnen Krebspatienten: „Es gibt immer wieder komplizierte Fälle, die nicht ganz leicht einzustellen sind“, lenkt Jonas ein. Gleichzeitig weist er auf die ausgeklügelten Dosierungsmöglichkeiten hin, die den palliativen Bereich in den letzten zwei Jahrzehnten einen großen Schritt vorwärtsbrachten. Verwendet werden unter anderem Schmerzpflaster, die sich auf den Bedarf des Patienten einstellen. Die abgegebenen Wirkstoffe gelangen bei Pflastern direkt in den Blutkreislauf, zudem müssen diese erst nach mehreren Tagen gewechselt werden.
228 Palliativ- und Hospizeinrichtungen zählte der österreichische Dachverband per Ende 2007. Die Patienten werden dabei entweder über Hospiz- oder mobile Palliativteams, eine von 24 Palliativstationen, sechs stationäre oder zwei Tageshospize betreut. Österreichweit ergibt dies an die 260 Betten. Allein stehende stationäre Hospize, also Einrichtungen, die nicht an ein Alten- oder Pflegeheim angeschlossen sind, gibt es bundesweit nur zwei. Wie viele Patienten pro Jahr behandelt werden, ist schwierig zu erheben, zumal die Betreuung oft ineinander übergeht. So bleiben zum Beispiel nicht alle, die in der Palliativstation eines Spitals liegen, auch für ihre letzten Wochen und Tage dort. Die Zahl von 21.239 Versorgten im Jahr 2007 schließt daher zahlreiche Mehrfachnennungen ein. Europaweit, so die Einschätzung des Verbandes, rangiert Österreich damit im guten europäischen Mittelfeld.

Zerklüftete Finanzierung

Einigermaßen zerklüftet ist die Finanzierung des Systems. Zwar gibt es aus Sicht der Verrechnung eindeutige Fälle, wie etwa die in Spitälern eingerichteten Palliativstationen, deren erbrachte Leistungen die Krankenkassen übernehmen. Doch Pflege ist in Österreich prinzipiell selbst zu finanzieren. Wer also Vermögen besitzt, muss seinen Aufenthalt aus der eigenen Tasche bezahlen, abzüglich des zuerkannten Pflegegeldes allerdings. Fehlt das Geld, springt das Bundesland ein. Hierzu unterhält nahezu jedes Land sein eigenes System. „Wenn jemand in Wien mit 35 in ein Hospiz kommt, dann zahlt die Familie“, erläutert Dirnberger. Dieser bliebe dann die Trauer, und sie stünde, im schlimmsten Fall, vor dem Nichts.
Entsprechend versucht die Caritas, ihre Leistungen in der Leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung (LKF) unterzubringen. „Ich heiße Hospiz Rennweg, bin aber eine Palliativstation“, sagt Dirnberger. Ein großer Teil der Begleitung ist eben nicht medizinisch und lässt sich damit im LKF-System nicht abbilden. So ist in der Verrechnung beispielsweise nicht vorgesehen, dass sich der Arzt eine halbe Stunde zu einem Sterbenden setzt. Als Richtwert gilt: 60 Prozent der Leistungen im Hospiz Rennweg werden über die Kassen abgedeckt. Die restlichen 40 Prozent versucht die Caritas über Spenden zu finanzieren. Die Brüche in der Finanzierung werden auch in der mobilen Betreuung deutlich: Führt ein Arzt eine Behandlung durch, kommt die Krankenkasse dafür auf. Besucht ein Pfleger den Kranken, fällt die Leistung ins Pflegesystem.
Wenn ein Gast im Hospiz Rennweg verstirbt, wird ein Öllicht angezündet. Auf einer Tafel im Dienstzimmer steht der Name des Verstorbenen, daneben ist sein Todeszeitpunkt vermerkt. Das bleibt einen ganzen Monat lang so. Danach gibt es eine Verabschiedung, im intimen Rahmen, machmal mit Musik oder Texten. „Es wird erzählt, was hängen geblieben ist. Dann macht man sich auf für die nächsten 25 Leute“, sagt Dirnberger.

Kein normaler Job

Die Arbeit ist keine alltägliche. „Es ist niemals ein ganz normaler Job“, erklärt Palliativmediziner Jonas, der sieben Jahre bei der Aids-Hilfe Wien im Einsatz war. Jeder Mitarbeiter, der danach verlangt, erhält Einzelsupervision, zusätzlich zur Teamsupervision und Intravision, Letztere dreimal täglich.
Die spirituelle Betreuung der Patienten muss nicht unbedingt vom Seelsorger ausgehen. Wenn die Gesprächsbasis mit dem Kranken stimmt, übernimmt jeder Mitarbeiter diese Aufgabe. „Die Leute baden sehr gerne“, erzählt Dirnberger. Bäder mit ätherischen Ölen wirken entspannend, die Kranken haben ihre Schmerzen im Griff. Und dann würden sie zu reden beginnen: „Und wir können nur da sein und es aushalten.“
Im Hospiz Steiermark in Graz sieht nichts nach Krankenhaus aus. Die Fenster des hellen Gebäudes öffnen sich in Richtung eines Parks, der versteckt zwischen den Häusern liegt. In kleinen Räumen können Patienten und Angehörige gemeinsam Geburtstage feiern.
Wenn ein Bewohner verstirbt, werden die Angehörigen mit ihm allein gelassen. Damit die Seele ein bisschen fliegen kann, sagen die Schwestern. Wer dort einmal dabei war, getrauert und danach wieder weitergelebt hat, stellt zwei Dinge fest: Erstens gibt es kein Paralleluniversum, und zweitens ist dies nicht befremdlich, sondern beruhigend. „Manche haben am Ende Angst und Panik. Die meisten aber haben Hoffnung. Und die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Mediziner Jonas.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Armut gefährdet die Gesundheit

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Soziale Ungleichheit: Gemäß UNO-Charta ist Gesundheit ein Menschenrecht. Alle Menschen sollten gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. In der Praxis aber sind soziale Ungleichheiten in diesem Bereich weit verbreitet. Sozioökonomisch schwächere Bevölkerungsschichten sind statistisch gesehen kränker und sterben früher.

Die Statistik beweist es: Ärmere beziehungsweise sozial schlechter gestellte Menschen erkranken häufiger. Zwar ist die Gesundheit des Einzelnen natürlich zu einem Großteil Ergebnis der persönlichen Lebensführung und der Krankheitsneigung – doch wird der Zusammenhang zwischen geringerem Einkommen sowie anderen sozialen Nachteilen und schlechterer Gesundheit von zahlreichen Studien und Zahlenwerken belegt.
Die Statistik Austria kommt in ihrem Armutsbericht zu dem Schluss, dass die Bevölkerung unter der Armutsgrenze einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand aufweist als Angehörige hoher Einkommensschichten. Und sie ist doppelt so häufig krank wie Vertreter mittlerer Einkommensschichten.
Gemessen am Bildungsabschluss sind Pflichtschulabsolventen doppelt so oft von chronischer Krankheit betroffen wie Personen mit Maturaabschluss. Hilfsarbeiter sind weitaus häufiger im Krankenstand als Akademiker. Und sogar die Säuglingssterblichkeit ist bei den Angehörigen ärmerer Schichten höher als bei den „Reichen“.

Soziale Determinanten

Wie das alles kommt? „Die sozialen Determinanten von Gesundheit sind seit Längerem bekannt“, schreiben die beiden Forscher Richard Wilkinson und Michael Marmot in ihrem Faktenbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa. „Auch in Überflussgesellschaften erkranken weniger gut situierte Bürger häufiger als die wohlhabenderen, und sie leben nicht so lange wie diese“, heißt es dort. Diese Erkenntnis sei nicht nur unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit wichtig, sie habe auch das wissenschaftliche Interesse auf die Erforschung wichtiger Gesundheitsdeterminanten moderner Gesellschaften gelenkt.
Gemessen an der Erfahrung, dass Armut eine angemessene Unterkunft, Ausbildung, Transportmöglichkeiten und andere für eine volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wichtigen Voraussetzungen verhindert oder einschränkt, wird der Zusammenhang mit labilerer Gesundheit klar. Ausschluss aus der Gesellschaft und Ungleichbehandlung beeinträchtigen die Gesundheit und erhöhen die Gefahr eines vorzeitigen Todes, so die Forscher. Ein Leben in Armut belaste insbesondere in der Schwangerschaft, und sie schade Neugeborenen, Kindern und alten Menschen gleichermaßen.
Das führt zu überraschenden Erkenntnissen: Arme sind doppelt so oft krank wie besser situierte. Die „Manager-Krankheit“ mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armen dreimal häufiger als bei Managern auf. Die enorme Stressbelastung unter prekären Lebensbedingungen mache krank, heißt es im Armutsbericht.
Die nächste Überraschung: Arme sind häufiger übergewichtig, Wohlhabende schlanker. Die Ursache: falsche und unausgewogene Ernährung, fettreiche, sättigende statt gesunder Kost und Bewegungsmangel. Und: Auch reiche Raucher leben länger als arme.
„Das eine bedingt das andere“, sagt Martin Schenk von der österreichischen Armutskonferenz. „Stress durch finanziellen Druck und schlechte Wohnverhältnisse gehen Hand in Hand mit einem geschwächten Krisenmanagement, verbinden sich mit mangelnder Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und einem ungesunden Lebensstil.“
Lösungswege bestehen in der Berücksichtigung dieser Erkenntnisse in der Gesundheitsversorgung des Staates: Obwohl per Verfassung in Österreich die gleichberechtigte Gesundheitsversorgung aller Bevölkerungsschichten festgeschrieben ist, zeigt die Erfahrung, dass es in der Praxis deutliche Unterschiede gibt. Dem sollte die Politik Rechnung tragen, empfiehlt die Armutskonferenz: Der Zugang, die Inanspruchnahme und die Qualität medizinischer Leistungen sollte unabhängig von Einkommen und Herkunft tatsächlich gewährleistet sein. „Eine Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit hinnimmt, schlechte Wohnverhältnisse für Einkommensschwache zulässt, Bildung für wenige bietet, produziert Krankheit“, so Schenk. Aber es sei auch wichtig, dass die ärmeren Schichten in ihren Selbsthilfepotenzialen und Ressourcen gestärkt werden, da die Statistik zeigt, dass viele erst „im letzten Moment“ zum Arzt gehen, meist aus Scham, aber auch aus Furcht, am Arbeitsplatz zu fehlen und nicht mehr zu „funktionieren“.

Strudel aus Armut und Elend
Wo es schon in den Industrie-ländern nicht funktioniert, wie es sollte, ist es in Entwicklungsländern besonders schlimm. Zwar hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine statistische Erhöhung der Lebens-erwartung und eine Senkung der Kindersterblichkeit gezeigt, was jedoch nichts daran ändert, dass im Durchschnitt ein Drittel aller Menschen – in besonders armen Ländern die überwiegende Mehrheit – in einem Strudel aus Armut, Elend und Krankheit gefangen ist. Die größten Gesundheitsgeißeln der Entwicklungsländer sind heute Aids, Tuberkulose und Malaria. Das gegenwärtige Krankheitsmuster in vielen Entwicklungsländern ähnelt jenem europäischer Länder gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Armut ist für 70 bis 80 Prozent der Sterbefälle in Entwicklungsländern mitverantwortlich, urteilt die WHO. Dazu mangle es den Menschen oft an ausreichenden Kenntnissen im Hinblick auf Krankheitsverhütung und gesundheitsförderndes Verhalten, und letztlich hat ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu einer effektiven Gesundheitsversorgung. Viele Entwicklungsländer sind zudem mit dem kolonialzeitlichen Erbe zentralisierter Gesundheitsstrukturen mit falscher Schwerpunktsetzung in der nationalen Gesundheitspolitik belastet. Die Folge: eine Schwächung der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung dieser Länder.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Psychotherapie unter Zugzwang

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Im neuen Jahrhundert ist evidenzbasierte Forschung gefragt: Methoden sollen auf ihre Wirksamkeit hin geprüft werden. Die Psychotherapie gibt diesem Druck nach, doch nicht ohne Widerstand und Kritik.

Sowohl Windpocken als auch Kleptomanie stellen Krankheiten dar. Letztgenannte gehört jedoch zu den psychischen Erkrankungen, deren Tücke darin besteht, dass sie, obwohl sie als „Krankheiten“ wahrgenommen und definiert werden, in vielerlei Hinsicht mit dem medizinischen Apparat nicht erfasst werden können. Sie werden mit ganz anderen Methoden diagnostiziert und in weiterer Folge ebenso mit anderen Methoden behandelt.
Die verschiedenen Behandlungsmethoden und -konzepte sind nicht nur der Psychiatrie und Pharmakologie vorbehalten. Sie werden im Umfeld der Psychologie, verschiedenen anerkannten Psychotherapieschulen und in den letzten Jahren auch im Bereich der Neurowissenschaften entwickelt. Doch es herrscht hier kein friedliches Miteinander verschiedener Fächer und Disziplinen, oft prallen Weltanschauungen aufeinander. Zurzeit scheint der naturwissenschaftliche Ansatz in diesem „Kampf“ zu dominieren. Paul Verhaeghe, belgischer Psychoanalytiker und Professor an der Universität Gent in Belgien, kündigte sogar das baldige Ende der Psychotherapie an. Dieses sieht er paradoxerweise im gegenwärtigen Anspruch der Psychotherapie auf mehr Wissenschaftlichkeit begründet, weitere Ursachen seien herrschende soziale Diskurse, aber auch die veränderte gegenwärtige Psychopathologie, in deren Bereich mit „alten“ Psychotherapiemethoden nicht behandelt werden könne.

Mehr Wissenschaftlichkeit
Der Bedarf an wissenschftlichen Vorgehensweisen in der Psychodiagnose und Behandlung stammt zum Teil aus der Antipsychiatriebewegung der 1960er Jahre. Sie hat nicht nur die Umstände und Behandlungsmethoden in der Psychiatrie kritisiert, sondern auch bewiesen, dass gerade die psychodia-gnostischen Etikettierungen willkürlich waren und keine wissenschaftliche Grundlage hatten. Mehr Wissenschaftlichkeit resultierte im Diagnostical and Statistical Manual (DMS), einem sowohl in der Wissenschaft als auch in der klinischen Praxis sehr umstrittenen Werk, da es einen Rückfall ins Normative (was ist normal und was Abweichen von der Norm) legitimiert. In Europa wird öfter auf ein ähnliches Werk zugegriffen: ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems).
Beide pflegen einen medizinischen Zugang, der mit vorausgesetzten objektiven Beobachtungen operiert und eine Beschreibung der Syndrome liefert. Doch es gibt keinen Link zwischen einer besonderen DSM/ICD-Diagnose und 
einer besonderen Therapie. Dieser Missing Link entlarvt aber die zugrunde liegende Erwartungshaltung, dass die-se Therapie medizinisch sein wird: nämlich ein Medikament oder eine neurologische Intervention.

Wirksamkeitsnachweis
Der Wirksamkeitsnachweis ist der nächste Schlag für die psychotherapeutische Praxis, da auch dieser aus der medizinischen und pharmakologischen Praxis übernommen wurde. Benutzt wird evidenzbasierte Methodologie. Man bilde zwei Gruppen von gleichen Klienten, die eine wird mit Standardtherapie versorgt, die andere bekommt eine neue Methode angewendet. Damit die Gruppen vergleichbar werdem, muss auch die Behandlung standardisiert und kurz sein, um andere Einflüsse auszugrenzen. Nur wenige Psychotherapien entsprechen diesem Forschungsdesign, ja, mehr noch, die meisten psychisch erkrankten Menschen entsprechen einem solchen Forschungsdesign nicht. Genau genommen leidet kein Patient unter nur einem Syndrom des DSM-Handbuchs. Anstatt die Unzulänglichkeit dieser Methodologie einzusehen, wird andersrum gewertet: nämlich, dass die Therapieformen selbst unzulänglich sind. Als mögliche Folge könnte die Krankenkasse in Zukunft nur jene Therapieformen mit Wirksamkeitsnachweis bezahlen.
Es werden immer mehr Ausbildungen für protokollbasierte Therapieformen angeboten, die sich um eine spezifische Störung (Flugangst, Panikattacke, Essstörung) kümmern und den ganzen Menschen in seinem vielschichtigen Umfeld und Sinnzusammenhang außer Acht lassen. Es stelle sich nur ein kleines Problem, bemerkt Paul Verhaeghe: Sie funktionieren nicht.

Naturalistische Einstellung
Diese naturalistische Einstellung zur psychischen Erkrankung ist aber nicht nur in der „Fachwelt“ vorzufinden, sie ist bei Erkrankten und Betroffenen ebenso präsent. Die meisten Klienten, so Verhaeghe, sehen die Quelle ihres Leidens in Genen, in der natürlichen Maschinerie, in chemischen Prozessen im Gehirn und nicht im Bereich der persönlichen Verantwortung, Einstellungen und Geschichte. Also findet die naturwissenschaftliche, medizinische Herangehensweise bei der Klientel auch guten Anklang. Einen Bezug zwischen naturalisierten Konstrukten der psychischen Erkrankungen und naturalisierter Psychopathologie stellt er jedoch nicht her.
Psychotherapeutischen Studien zufolge hat sich die Psychopathologie auch gravierend verändert. Die klassischen Neurosen haben in der psychotherapeutischen Praxis vielen verschiedenen Ausprägungen von „Persönlichkeitsstörungen“ Platz gemacht. Die neue Symptomwelt sei extrem körperbezogen, auf eine unvermittelte Art und Weise, ohne Symbolisierung. Die Symptome repräsentieren nichts, sie stünden für das Ausagieren unangenehmer Triebe, meint Verhaeghe. Er gesteht ein, dass die neue Pathologie auch einen neuen therapeutischen Ansatz brauche, um Hilfe leisten zu können. Dieser sollte nicht in der Interpretation und Dekonstruktion, sondern in der Synthese und Konstruktion mit Klienten gesucht werden.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Bloß nicht Großbritannien werden

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Die meisten Amerikaner befürworten eine allgemeine Krankenversicherung. Staatliche Einmischung und Gleichheitsmedizin ist ihnen jedoch Gräuel. Unterdessen steigt die Zahl der Unversicherten.

Hillarycare“ hatte so tiefe Spuren hinterlassen, dass Hillary Clinton 15 Jahre später als Kandidatin im Präsidentschaftswahlkampf 2008 immer noch daran laborierte. Als der unter ihrer Federführung ausgearbeitete, 1300 Seiten dicke Gesetzesvorschlag einer allgemeinen Krankenversicherung 1994 durch den Kongress rasselte, verlor die First Lady nahezu ihr Gesicht und Bill Clinton, kurz nach dem Debakel, die demokratische Mehrheit im Kongress.
Dem Land eine allgemeine Krankenversicherung zu verpassen, daran hatte sich davor schon eine Reihe anderer die Zähne ausgebissen. Der erste unter ihnen war Präsident Franklin Roosevelt. Auch seine vierfache Amtszeit hatte zur Durchsetzung einer solchen Maßnahme nicht gereicht. Wichtige Zugeständnisse an die Versorgung von finanziell Schwachen und Senioren schaffte Lyndon Johnson Mitte der 1960er Jahre mit der Einführung der Versicherungen Medicaid und Medicare. 40 Jahre später explodieren nun die Kosten für die beiden Versorgungspakete.

Tiefe Wurzeln der Autonomie

Die europäische Ansicht, dass Krankenversorgung ein Grundrecht der Bürger darstellt, ist in den USA weit weniger verbreitet. Zwar schämt sich insbesondere die Linke geradezu, es als führende Wirtschaftsmacht zu keiner allgemeinen Krankenversorgung geschafft zu haben. Dass der Staat zur Versorgung verpflichtet sein sollte, geht für viele in einem Land, das Staatseinmischung traditionell scheut wie kaum ein anderes, doch zu weit. Die Debatte ist von Widersprüchen geprägt. So zeigen etwa Umfragen, dass eine Mehrheit die Versorgung für alle befürwortet. Doch sobald es um die Menge an staatlicher Einmischung geht, etwa im Arzt-Patienten-Verhältnis oder bei der Verteilung der Kosten, scheiden sich die Geister.
Durchaus verbreitet ist auch die Überzeugung, dass der Staat schlicht nicht in der Lage sei, 300 Mio. Leute zu versorgen. Dass die Einnahmen mit einer verpflichtenden Versicherung steigen, liegt zwar auf der Hand. Dahinter wird aber oftmals ein Sinken der Qualität vermutet. Eine Ansicht, die insbesondere Konservative hochhalten. Als abschreckendes Beispiel wird Großbritannien genannt, mit seinen oft monatelangen Wartezeiten auf Operationen und einem System, dessen Qualität in Gleichheit untergeht.

40 Millionen nicht versichert

„Hier ist nicht Großbritannien“, kommentiert Kolumnist Steven Pearlstein in der Washington Post die Kritik der Rechten. Vielmehr seien die USA ein Land mit einer tief verwurzelten Überzeugung hinsichtlich der Autonomie und freien Wahl des Einzelnen. Wettbewerb und Innovation seien einfach zu tief verankert, eine Art sozialistisches Gesundheitswesen könne daher gar nicht erst aufkommen, so Pearlstein.
Die höchste Anzahl Unversicherter findet sich unter jungen Erwachsenen. Laut Zahlen des Commonwealth Fund waren dies im Jahr 2007 – und damit noch vor der Wirtschaftskrise – mehr als 13 Millionen. Insgesamt sollen unterschiedlichen Schätzungen zufolge 40 Mio. Personen im Land nicht krankenversichert sein.
Wer seine Krankenversicherung selbst bezahlt, hat eine schier unüberschaubare Fülle von Möglichkeiten, vorausgesetzt, es bestehen keine besonderen Vorerkrankungen. Nicht umsonst wurde im Wahlkampf darauf hingewiesen, dass keiner der ehemals krebskranken Kandidaten John McCain und Rudolph Giuliani bei privaten Versicherern untergekommen wäre. Derweil steigen die Kosten für das System unaufhaltsam an. 2007 machten die landesweiten Gesundheitsausgaben 2,2 Billionen Dollar und damit 16 Prozent des Brutto-inlandsprodukts (BIP) aus. Ohne weitere Veränderung könnten sie in den nächsten 15 Jahren auf bis zu 25 Prozent des BIP steigen. Das gesamte System ist rund doppelt so teuer wie die Versorgung in anderen Staaten: An die 8000 Dollar geben Leute in den USA für Gesundheitsleistungen aus, ein Wert, der nicht nur auf das Budget von Familien, sondern auch von Unternehmen drückt.
Die Rezession zeigt sich inzwischen von ihrer Breitseite. Arztbesuche, die auch bei Versicherten oft mit Gebühren verbunden sind, werden ebenso aufgeschoben wie teure Operationen, bei denen bisweilen mehrere Tausend Dollar selbst bezahlt werden müssen. Arbeitslose, die mit dem Job auch die Krankenversicherung verlieren, verlegen sich auf den Besuch von Notaufnahmen. Die-se müssen Leute aufnehmen, unabhängig von deren Zahlungsfähigkeit. Das dicke Ende könnte laut Experten erst kommen: Wenn es durch fehlende Prävention und das Verschieben notwendiger Behandlungen zu verschleppten Krankheiten und teuren bleibenden Schäden kommt.

Obamas Plan
In einem ersten Schritt unterzeichnete der Präsident Anfang Februar ein Gesetz, das die Krankenversorgung auf vier Mio. unversicherte Kinder ausweitet. Familien, die zu viel verdienen, um Medicaid zu erhalten, aber zu wenig, um sich eine Versicherung leisten zu können, sollen somit nicht mehr durch den Rost fallen.
Bush hatte den Plan mit seinem Veto belegt und begründete dies stets mit der zu hohen Einmischung des Staates. Finanzieren will Obama seinen Plan mit der Erhöhung der Tabaksteuer. Im 780 Mrd. Dollar-Konjunkturpaket ist rund eine Mrd. Dollar bereitgestellt, um die Effektivität von Behandlungen zu erheben. Damit sollen Fragen geklärt werden, welche Therapien für welche Krankheiten am besten sind. Der Zugang, der auch in den USA nicht ganz neu ist, wird zwar begrüßt, jedoch auch mit Skepsis betrachtet. Kritiker führen ins Treffen, dass dies Krankenversicherern nunmehr als Vorwand für die Ablehnung teurer Therapien dienen könnte.
Ebenfalls im Konjunkturpaket vorgesehen sind 19 Mrd. Dollar für die Modernisierung medizinischer Datenhaltung. Alle Vorhaben, allen voran die mögliche staatliche Einmischung in die Verhandlung von Medikamentenpreisen, um die Kosten für Medicaid zu senken, werden von der Industrie mit Argusaugen verfolgt. Der Staat als Gesundheitsleistungen austeilender Monopolist ist, Reformfreudigkeit hin oder her, kein gangbarer Weg.

Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

Move on: Gesundheitsförderung fördern

Move on: Gesundheitsförderung fördern

In prosperierenden Zeiten bezeichnen Unternehmen ihre Mitarbeiter gern als „wichtigstes Gut für den Unternehmenserfolg“, in schwierigen Zeiten sagen sie sich von ihnen los. Dass betriebliche Gesundheitsvorsorge in 
Österreich jedoch nicht zu einem Schlagwort verkommt, zeigen gleich mehrere Initiativen eindrucksvoll.

Von betrieblicher Gesundheitsförderung profitieren Unternehmen und Mitarbeiter gleichermaßen: die Beschäftigten durch mehr Gesundheit und Wohlbefinden, die Unternehmer durch höhere Motivation und geringere Krankenstände. Nachdem bereits seit 1998 auf der Basis eines international als vorbildlich geltenden Gesetzes mit dem Fonds Gesundes Österreich (FGÖ) eine bundesweite Kontakt- und Förderstelle für Gesundheitsförderung und Prävention aus der Taufe gehoben wurde, engagiert sich Österreich seit 2007 auch im Europäischen Netzwerk Move Europe.
Der Grundstein für den modernen Arbeitnehmerschutz in Österreich wurde vor nahezu 25 Jahren durch die Verabschiedung des gleichnamigen Gesetzes gelegt. Dieses ist dem Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie der Sittlichkeit der Arbeiter und Angestellten verpflichtet. Das Gesetz hat mehrere Novellierungen erfahren, und nach dem Inkrafttreten des EU-konformen Arbeitnehmerschutzgesetzes am 1. Jänner 1995 kann Österreich wohl mit Recht behaupten, eines der modernsten Gesetze auf diesem Gebiet zu haben.

Win-win-Situation
Mit dem FGÖ sollen noch mehr kleine und mittlereUnternehmen (KMU) und die dort Beschäftigten vom Potenzial betrieblicher Gesundheitsförderung profitieren. „Damit den KMU der Zugang zu den Fördermitteln erleichtert wird, werden wir unsere Förderpraxis anpassen und ab 2008 auch kleinere Projekte, wie sie für KMU typisch sind, finanziell unterstützen“, erklärt Christoph Hörhan, der Leiter der Kompetenz- und Förderstelle für Gesundheitsförderung.
Die Zahlen untermauern die Bedeutung dieser Strategie: Mehr als 99 Prozent aller österreichischen Unternehmen sind KMU; diese beschäftigen rund 65 Prozent aller Arbeitnehmer. „Mit unserer Offensive wollen wir einen BGF-Boom in diesem in Österreich so bedeutenden Wirtschaftssegment auslösen“, fährt Hörhan fort. Als zentrale Institution in Sachen Gesundheitsförderung unterstützt der FGÖ auch die Aktivitäten der vielfältigen österreichischen Selbsthilfeszene. Für all das steht ein jährliches Budget von 7,25 Mio. Euro aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung.

Gute Investition

Seit 1996 besteht das Europäische Netzwerk Betriebliche Gesundheitsförderung (NBG), dessen österreichische Kontaktstelle bei der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse angesiedelt ist. Durch Information, Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit möchte das NBG das Bewusstsein möglichst vieler Menschen hinsichtlich Gesundheitsförderung und Prävention erhöhen, erklärt Sarah Sebinger, stellvertretende Leiterin der Abteilung für Gesundheitsförderung und Prävention, und gleichzeitig das Gemeinschaftsprojekt der Europäischen Union, Move Eu-rope, als ganzheitliche Kampagne der betrieblichen Gesundheitsvorsorge bewerben.
So haben sich im Jahr 2008 landesweit rund 70 Unternehmen aller Branchen und Unternehmensgrößen dem Test „Models of Good Practice“ unterzogen. Mit dem Krankenhaus der Elisabethinen in Linz und der steirischen Spedition Euro Trans Line stellen gleich zwei Vertreter aus Österreich ihre vorbildlichen Konzepte der betrieblichen Gesundheitsvorsorge beim europäischen Endwettbewerb im italienischen Perugia vor.

Vorbild „Art for Art“
Vorbildlich umgesetzt wird die betriebliche Gesundheitsförderung von „Art for Art Theaterservice“. Ob Film- oder Werbekulissen, Innenraumdesign von Spitzenrestaurants, kreative Konzepte für Geschäfte und Hotellerie oder Event-Ausstattungen: Die 415 Mitarbeiter von Europas größter Kostüm- und größter Dekorationswerkstätte beliefern nicht nur weltweit Unternehmen, Privatkunden und Festivals, sondern sind auch der Generalausstatter der Österreichischen Bundestheater, der Wiener Staatsoper, der Volks-oper Wien und des Burgtheaters. Darüber hinaus produziert „Art for Art“ für zahlreiche deutsche Theater und Veranstaltungen sowie für Paris, New York, Madrid, Venedig und Zürich. „Die Gesundheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das höchste Gut und fundamentaler Bestandteil unserer Unternehmensphilosophie. Verantwortungsvolles Engagement hat daher in unserem Hause eine gute und lange Tradition. So bieten wir seit Jahren regelmäßig kostenlose Vorsorgeuntersuchungen an, die gut frequentiert und in Kooperation mit der Gemeinde Wien durchgeführt werden“, unterstreicht Geschäftsführer Josef Kirchberger. Durch diese präventiven Maßnahmen konnte etwa bei einer Mitarbeiterin ein Herzfehler diagnostiziert und frühzeitig operativ behoben werden. „Art for Art“ investiert in die Gesundheit seiner Mitarbeiter und bietet außerdem Yoga- und Massage-Kurse zur Vorbeugung und Regeneration an.

Fit im Job bei Sappi und BA

Obwohl die Anstrengungen im Gesundheitsbereich mit dem Gütesiegel der Gesundheitsförderung honoriert wurden, haben Preise und Auszeichnungen beim Papierhersteller Sappi im steirischen Gratkorn keinen übertrieben hohen Stellenwert. Allein, was zählt, sind zufriedene Mitarbeiter, so das Credo. „Im Jahr 2001 entschied das Unternehmen, künftig einen deutlichen Schwerpunkt auf den Bereich betriebliche Gesundheitsförderung zu setzen. Dies mit dem erklärten Ziel, das im Projekt ‚Gesunde Zukunft – Gesunde Mitarbeiter in einem gesunden Unternehmen‘ entwickelte Programm ‚Fit im Job‘ nachhaltig im Unternehmen zu verankern“, erklärt Jürgen Sicher, Personnel Development Manager bei Sappi. Als Ausgangspunkt für dieses Projekt diente eine Mitarbeiterbefragung zum Human-Work-Index, auf dessen Ergebnissen die zahlreichen Aktivitäten und Maßnahmen der kommenden Jahre aufbauten.
Auch in der Bank Austria (BA) hat die Gesundheit der Mitarbeiter höchste Priorität. Das hauseigene Gesundheitszentrum namens Center of Health and Safety bietet den Mitarbeitern mit 21.000 Patientenfrequenzen und 57.200 Einzelbehandlungen inklusive 1440 Vorsorgeimpfungen eine Vielzahl an Leistungen an, die Gesundheitsvorsorge und Ausgleichsmöglichkeiten fördern, wie Alexander Töbinger von der Pressestelle Österreich erläutert.

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Economy Ausgabe 70-02-2009, 27.02.2009

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