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03. Juli 2024

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Kampf gegen die leeren Geschäfte

Kampf gegen die leeren GeschäfteAndreas Besenböck

Die Wallensteinstraße im 20. Bezirk in Wien war einst eine blühende Geschäftsstraße. Nun kämpft sie gegen den Niedergang. Die Bewohner haben eine niedrige Kaufkraft. Eine Initiative will der Wallensteinstraße helfen – aber wie?

Sommer auf dem Wallensteinplatz im 20. Bezirk in Wien. Kinder kurven mit ihren Bikes um Wasserfontänen, ihre Mütter und Väter tratschen bis spätabends auf Parkbänken. Im Restaurant neben dem Kabarett Vindobona speist man gut italienisch.
Der Platz wurde mit EU-Geld saniert, da der 20. Bezirk Ziel-2-Fördergebiet war. Er lebt nun, doch die ihn querende Wallensteinstraße wird ständig ein bisschen toter. Das feine Gründerzeitgebäude am Eck enthielt einmal eine Bank-Austria-Filiale. Die fusionierte mit einer Filiale derselben Bank ein paar Hundert Meter weiter, seither steht das Lokal leer. Daneben befindet sich ein toter Heimtierbedarfsladen.

Geschäfte ohne E-Mail
Am Eck zur Jägerstraße ist ein Coffeeshop. Bis vor zwei Jahren war dort eine enge und oft volle Buchhandlung. Dann wurde ein Wettbüro daraus, nun gibt es Gehkaffee. Wer von hier zur Friedensbrücke geht, muss sich ohnehin mental stärken. Man bangt mit den paar guten Geschäften um ihr Überleben, trauert um die, die „Alles muss raus, wir sperren zu“ ankündigen, und kann sich bei leer stehenden Geschäften schon nicht mehr erinnern, was da drinnen war.
„Lebendige Wallensteinstraße“ gehört zu einem Pilotprojekt, das gegen den Niedergang von drei Wiener Geschäftsstraßen kämpft – auch die Lerchenfelder Straße und die Hernalser Hauptstraße werden betreut. Auftraggeberin ist die Stadt Wien. Wenn die Projektkoordinatorin Christine Huber-Pachler sich um eine Vernetzung der Geschäfte in der Wallensteinstraße bemüht, begegnet sie oft ungeahnten logistischen Schwierigkeiten: Viele der alteingesessenen und physisch alten Geschäftsinhaber haben nicht einmal E-Mail. Und sehen auch keine Notwendigkeit, sich auf so etwas einzulassen.

Verbrechen führt zu Niedergang
Einkaufsstraßen sind in allen Großstädten einem massiven Wandel unterworfen. Gegen die Bequemlichkeit von Einkaufszentren kommen viele nicht an. Doch bei der Wallensteinstraße gibt es auch historische Gründe, die beim Niedergang eine Rolle spielen. Der begann bereits im Zweiten Weltkrieg. Vor 1938 war die Wallensteinstraße eine der ganz großen Einkaufsstraßen Wiens. Das sieht man noch an einigen hochherrschaftlichen Gründerzeithäusern. Auch viele Juden lebten in dem Bezirk. Die Katastrophe begann mit den Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung. Die durch vertriebene Juden leeren Geschäfte und Wohnungen eigneten sich irgendwelche Leute an.
Der 20. Bezirk war traditionell ein Arbeiterbezirk, Gewerbe und Industrie waren hier angesiedelt. Doch Betriebe zogen in den vergangenen Jahrzehnten an die Stadtränder. Stattdessen kamen Migranten auf der Suche nach billigem Wohnraum. „Das Augartenviertel ist überaltert, und die neuen Bewohner haben nicht die Kaufkraft, um teure Geschäfte anzuziehen“, schildert ein Geschäftsmann, der die Wirtschafts­entwicklung des Bezirks studiert hat. Wenn nun Geschäfte und Lokale frei werden, stünden die Hauseigentümer oft vor verzwickten Situationen. Eigentlich erfordern die Lokalitäten hohe Investitionen, um sie überhaupt vermietbar zu machen: Die Räume sind häufig feucht, die Stromleitungen uralt, die Heizung ein Kohleofen. Doch die Investitionen können über höhere Miete nicht hereingebracht werden, weil sich die potenziellen neuen Mieter keine hohen Mieten leisten können. Weshalb in frei werdende, unrenovierte Geschäfte Anbieter von Billigprodukten einziehen, die sich auch nicht lange halten können und ihr Lokal wieder räumen müssen.
„Lebendige Wallensteinstraße“ versucht, Lösungen anzubieten. Auf eine Vielzahl von Förderungen wird verwiesen. Doch deren derzeitige Form sei nicht zielführend, meint der anonym bleiben wollende Insider. Die meisten seien auf ein Jahr beschränkt. In Deutschland seien entsprechende Förderungen auf sechs Jahre angelegt und nachhaltiger. Die Aktivitäten der Initiative wirken dagegen wie eine Alibi-Aktion: Bunte Bänke und Konzerte sollen eine belebte Straße anzeigen.

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Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Shopping in der City

Shopping in der CityDunnett Craven Architects

Einkaufszentren sind bei den Kunden beliebt wie nie zuvor. Neben einem guten Shopmix ist ein umfassendes Gastro-Entertainment-Angebot gefragt. Gerne wird auch in der City bei guter Verkehrsanbindung eingekauft. Die Wiener Mariahilfer Straße profitiert stark von der U3.

„Menschen werden mehr ihrer Freizeit in Einkaufszentren verbringen und Shopping mit Entertainment wie Kino, Essengehen und Treffen mit Freunden verbinden“, sagt einer, dessen Beruf Shopping ist: Markus Pichler ist Österreich-Chef der französisch-niederländischen Immobilienhandelsgesellschaft Unibail-Rodamco, die rund 100 Einkaufszentren (EKZ) in zwölf Ländern betreibt.
In Österreich sind dies die Shopping City Süd (SCS) in Vösendorf (Niederösterreich), das größte heimische Einkaufszentrum mit rund 330 Geschäften, sowie das Donauzentrum (DZ) in Wien-Kagran als auch 50 Prozent des Südparks in Klagenfurt.

Trend zur Innenstadt
Wo die Österreicher am liebsten shoppen, ist schwer zu sagen. Der österreichischen Beratungsgesellschaft Standort und Markt zufolge betrug der Marktanteil der Einkaufszentren am Einzelhandel 2008 rund 20 Prozent. Bezogen auf die Standortwahl haben in den letzten 20 Jahren 47 Prozent des jährlichen Flächenwachstums außerhalb der Städte stattgefunden, nur 19 Prozent des Zuwachses waren in den Innenstädten zu verzeichnen. Seit einiger Zeit geht der Trend jedoch wieder verstärkt zu Neu­eröffnungen in der Innenstadt. „Den Handel in den Innenstädten zu halten, ist auch ein legitimes Ziel der Politik“, sagt Sabine Schober vom Austrian Council of Shopping Centers (ACSC).
Die Einkaufszentrumsbetreiber locken jedenfalls mit attraktiven Gesamt-Entertainment-Konzepten und Wetterunabhängigkeit ihre Klientel ins EKZ. Ein Phänomen der besonderen Art ist die SCS, die von Unibail-Rodamco mit rund 100 Mio. Euro ein „Facelifting“ verpasst bekommt. Heuer haben in der SCS viele neue Mieter eröffnet, etwa Van Graaf (8000-Quadratmeter-Flagshipstore, erstmalig in Österreich), Bershka, Högl Schuhe, Stiefelkönig, Accesorize und Cinnabon. Der SCS-Nordteil (ehemalige Motor/Sales City), wird als „SCS Park“ neu gestaltet. „Am 18. Juni hat Wein & Co seinen 450-Quadratmeter-Mega­store eröffnet, im Herbst folgt Elektro-Haas mit einem 7000-Quadratmeter-Elektronikmarkt“, berichtet Pichler stolz. 2009 betrug der SCS-Umsatz 650 Mio. Euro.

Neues Donauzentrum im Herbst
Noch mehr als in die SCS investiert Unibail-Rodamco ins innerstädtische DZ. Mit rund 150 Mio. Euro soll es die Nummer zwei in Österreich werden. Im Oktober, rechtzeitig vor dem Weihnachtsgeschäft, soll das neue DZ mehr als 260 Geschäfte umfassen. „Das Parkplatzangebot wird auf knapp 3000 Stellplätze erweitert, und wir werden durch den Einbau von Elektrotankstellen auch auf Benutzer von Elektroautos oder E-Bikes vorbereitet sein“, so Pichler.
Wichtig ist beim Shopping auf alle Fälle eine gute Erreichbarkeit. So verzeichnet das Wiener Stadioncenter seit der Anbindung an die U2 einen immer regeren Zulauf.
Auch in den Bundesländern schreiben EKZ „Erfolgsgeschichten“. Die im Jahr 2002 eröffnete Shopping City Seiersberg, das größte EKZ in der Steiermark, umfasst mehr als 200 Geschäfte. 2005 besuchten acht Mio. Menschen das Zentrum. Es liegt verkehrsgünstig direkt an einer Autobahn-Ausfahrt. Besuchermagneten sind auch die Plus City in der Nähe von Linz, die City Arkaden in Klagenfurt, der architektonisch preisgekrönte Europark in Salzburg sowie das DEZ in Innsbruck, das vor 40 Jahren (!) eröffnet wurde.
Dem Trend zum EKZ-Bau „auf der grünen Wiese“ hat Nieder­österreich einen Riegel vorgeschoben: EKZ dürfen nur noch in Zentrumszonen errichtet werden, um die Innenstädte wieder als Handelsstandort aufzuwerten. In Wien haben sich die Einkaufsstraßen zusammengetan, um mit gemeinsamem Marketing mehr Käufer anzulocken. Zufrieden sind die Geschäftsleute der Mariahilfer Straße. Wer den U3-Bau überlebt hat, gehört zu den Gewinnern. Weniger gut geht es beispielsweise den Handelstreibenden auf der Taborstraße. Für (kleine) Einzelhändler wird aufgrund der gro­ßen Handelsketten das Überleben immer schwieriger.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Leben im Speckgürtel

Leben im Speckgürtel  Bilderbox.com

Die Umlandgemeinden um die Städte werden immer attraktiver für Wohlhabende. Neun der zehn Gemeinden mit der höchsten Kaufkraft Österreichs befinden sich in Niederösterreich vor den Toren Wiens. Nur Lech in Vorarlberg ist ebenfalls unter den Top Ten.

Untersuchungen zu den regionalen Kaufkraftunterschieden in Österreich kommen mit großer Regelmäßigkeit zu dem Ergebnis, dass besonders die Umlandbezirke um Wien stark von der Abwanderung der Reichen aus der Stadt profitieren: Brunn am Gebirge, Breitenfurt bei Wien, Bisamberg, Korneuburg und Perchtoldsdorf sind die fünf Gemeinden mit den reichsten Einwohnern Österreichs. Lediglich der Vorarlberger Ort Lech, im Kaufkraftvergleich auf dem siebenten Platz, bricht in die niederösterreichische Phalanx ein.
Dieser Trend ist nicht nur um Wien feststellbar; auch in Graz-Umgebung und Linz-Land entstehen immer reichere Gemeinden. Mit einer Pro-Kopf-Kaufkraft von rund 17.000 Euro befinden sich die Österreicher im europaweiten Vergleich in einer Spitzenposition. Im Ranking aller europäischen Länder liegt Österreich auf Rang sieben.

Der Speckgürtel wandert
Der Bezirk Mödling zählt seit Jahren zu den beliebtesten und zugleich teuersten Wohngegenden. Deshalb wird er auch als „Speckgürtel“ von Wien bezeichnet. 16,6 Prozent der Anfragen bezüglich Wohnimmobilien entfallen auf diesen Bezirk. Wer dort vor einem Jahr ein Grundstück für 263 Euro pro Quadratmeter gekauft hat, müsste jetzt bereits um vier Prozent mehr bezahlen. Künftig soll sich der Speckgürtel aber Richtung Norden verschieben.
Klosterneuburg ist das teuerste Pflaster in Niederösterreich. Die Verschiebung des Speckgürtels ist ein Ergebnis einer Studie der Raiffeisen Immobilienvermittlung. Immobilien nördlich von Wien werden immer gefragter. Vor allem Klosterneuburg sowie die Bezirke Korneuburg, wo ein Quadratmeter Bauland 177 Euro kostet, und Tulln, mit Baulandpreisen von 70 Euro pro Quadratmeter, profitieren der Studie zufolge von diesem Trend. Mit einem Einfamilienhaus-Quadratmeterpreis von bis zu 2500 Euro gilt Klosterneuburg schon jetzt als teuerstes Pflaster in Niederösterreich. Häuser im Waldviertel sind hingegen mit einem Preis um 450 bis 550 Euro pro Quadratmeter vergleichsweise billig.
Nach wie vor ist die Nachfrage nach Immobilien in den Bezirken Baden und Mödling zwar sehr groß. Doch das Angebot hinkt der Nachfrage weit hinterher. Daher wird der Zuzug in diese Region künftig voraussichtlich stagnieren. Ein Geheimtipp sind Häuser und Grundstücke in Orten entlang der Westbahnstrecke wie etwa Neulengbach. Denn hier werden in den nächsten Jahren deutliche Wertsteigerungen erwartet. Die Suburbanisierung – also der ständig dicker werdende Speckgürtel um Wien – wird zum zunehmenden Problem für die Stadt. Was Raumplanungsexperten schon lange kritisieren, ist auch für die Kommunalpolitik zum Thema geworden.

Kein Exodus aus der Stadt
Blickt man aber auf die Zuwachszahlen der Speckgürtel-Gemeinden, stellt man alles andere als einen Exodus fest. So stieg die Bevölkerungszahl Mödlings vom Jahr 2000 bis 2010 um lediglich 1573 Einwohner; in Korneuburg im gleichen Zeitraum um 954, in Neulengbach im Laufe der letzten Dekade um 923 Personen. Im begehrten Klosterneuburg hingegen sank die Zahl der Einwohner von 2000 bis 2010 sogar um 866 Einwohner. Ein Widerspruch? Nur halb. Gentrification, die Verdrängung angestammter Bewohner durch den Zuzug neuer, wohlhabender Bürger, muss man also weder in Wien noch im Speckgürtel fürchten. Mittlerweile ist der Speckgürtel selbst vielen zu teuer oder unerschwinglich geworden. Junge Familien, die sich den Traum vom Haus mit Garten erfüllen möchten, lassen sich nicht im Speckgürtel, sondern am Rande nieder – und verteuern so wieder die Grundstückspreise.
Der Trend zur Mietwohnung in Niederösterreich wird sich fortsetzen. In der Stadt wird nach günstigen Wohnungen gesucht, im Speckgürtel nach Häusern im Grünen. Tabellen von Wanderungsbilanzen kann man entnehmen, dass gegen­über Niederösterreich und Burgenland in den Jahren 2002 bis 2009 in der Altersgruppe der jüngeren erwerbsfähigen Bevölkerung sowie der bildungsspezifischen Alterskohorten (15 bis 25-Jährige) Wanderungsgewinne zu verzeichnen waren. In allen anderen Altersbereichen machen sich Wanderungsverluste bemerkbar. Bei der älteren Bevölkerung reduzieren sich die Binnenwanderungsverluste jedoch erheblich.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Utopie von der „sauberen“ Stadt

Utopie von der „sauberen“ StadtEPA

Inmitten von Ölfeldern entsteht eine klimafreundliche Utopie der Superlative.

Liest man heutzutage etwas über Abu Dhabi, so geschieht das meistens im Zusammenhang mit Erdöl, Smog oder dem Kinostart einer moderat originellen US-Seifenoper. Dabei kommen aus dem arabischen Emirat auch durchaus erfreuliche Neuigkeiten. Durch intelligente Architektur und modernstes Hightech soll hier die erste emissions- und abfallfreie Stadt der Welt entstehen. „Grüne“ öffentliche Verkehrsmittel ersetzen Autos; Solaranlagen und andere erneuerbare Energiequellen sorgen für „sauberen“ Strom und Trinkwasser: Masdar City – die „Stadt der Zukunft“.
Das Prestigeprojekt soll künftig gut 50.000 Einwohner beheimaten sowie Sitz internationaler Firmen aus der erneuerbaren Energiebranche sein, die schlussendlich auch die Rentabilität des Projektes sichern sollen. Den Großteil der 22 Mrd. Dollar (circa 18 Mrd. Euro) umfassenden Kosten trägt die Regierung Abu Dhabis selbst. Das Projekt geht von der Abu Dhabi Future Energy Company (Masdar) aus, die wiederum der Mubalada Development Company angehört, einem staatlichen Investmentunternehmen.

Ehrgeiz mit Startproblemen
Kritiker vermuten hingegen eine naive Milchmädchenrechnung hinter der Stadtplanung. Zum einen wird stark bezweifelt, ob die CO2-Bilanz einer ganzen Stadt samt Einwohner überhaupt im Voraus berechnet werden kann. Zum anderen sollen eingangs so lange Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben worden sein, bis sich darunter schließlich ein günstiges Ergebnis fand. Inzwischen wurden einige Rechenfehler, beispielsweise beim Bedarf an Solaranlagen, entdeckt. Um Kosten zu sparen, wurden anstatt 120 Experten nur mehr die Hälfte engagiert, und auch in den Führungsreihen wechselten einige Gesichter. Die Fertigstellung wurde mittlerweile von 2016 auf 2020 umdatiert. Derlei Pannen waren ob der Ambitioniertheit des Projektes fast schon zu erwarten. Doch auch wenn der Fortschritt etwas schleppender daher kommt als geplant, so erwarten Experten kein Scheitern des Projektes.
Schlussendlich dürfte die Frage, ob Masdar City tatsächlich emissions- und abfallfrei wird, ohnehin sekundär sein. Viel wichtiger scheint auf lange Sicht das Zusammentragen von Expertenwissen, wie etwa durch das hier entstehende Hauptquartier der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (Irena). Die geplante Universität, die sich ausschließlich der Erforschung erneuerbarer Energien widmen wird, wird ebenfalls ihren Teil zur Entstehung eines Forschungszentrums beitragen, das entsprechende nachhaltige Entwicklungen vorantreibt. Schließlich profitieren auch europäische Unternehmen davon – allen voran deutsche wie etwa Siemens und Bayer sind am Projekt beteiligt. Noch mag Masdar City nur aus Baggern und Baugruben bestehen. Doch schon bald könnte es das boomende Zentrum der Energiewende sein.

Emanuel Riedmann, Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Vier Szenarien für die Zukunft

Vier Szenarien für die Zukunft

2030 werden die Österreicher zu 31 Prozent über 60 sein. Das wissen wir schon heute. Doch wie viele Migranten zuziehen und uns Ein­heimische verjüngen werden, hängt von Politik und Wirtschaft und vielen Eventualitäten ab.

Die junge Familie – Mann, Frau und zwei kleine Kinder – wohnt in einer günstigen, aber eher zu kleinen Wohnung in Wien. Dann kündigt sich ein drittes Kind an. Und neben den Querelen wegen des knappen Wohnraums erstarkt die Sehnsucht nach Idylle, nach spielenden Kindern im Garten, nach Erlösung von der Gemma-in-den-Park-Raunzerei der Kinder – oder von einem selber, weil man die kleinen Kerle endlich müde machen will.
Ein eigenes Haus mit Garten ist der Traum vieler Menschen, besonders auch vieler Neo-Wiener, die als Kind auf dem Land aufgewachsen sind und die damals genossene Freiheit nun ihren Kindern ermöglichen möchten. Und im Sommer will der Mann grillen, und die Frau will im Liegestuhl ihren Krimi lesen.

Erst Stadtflucht ...
Gemäß einer Bevölkerungsprognose der Österreichischen Raumordnungskonferenz und von Statistik Austria wird die Bevölkerung in Wien und Umland bis 2030 um 15 bis 33 Prozent steigen. Auch für Graz, Linz und Bregenz wird ein ähnlicher Bevölkerungszuwachs prognostiziert. Bereits von 1961 bis 2001 haben sich 15 Gemeinden rund um Wien verdoppelt bis verdreifacht. Circa 60 Gemeinden sind in dieser Zeit zwischen 30 und 100 Prozent gewachsen.
Also sucht unsere junge Familie ein Haus oder einen Baugrund im Umkreis von Wien. Je mehr in den begehrten Regionen im Wienerwald oder im Süden, desto teurer. Je weiter weg, desto mühsamer die tägliche Pendelei. Aber angenommen, sie wird fündig, es ist ein Haus mit Garten, nur eine halbe Stunde zum Arbeitsplatz, und es gibt auch einen Bahnanschluss.

... dann Dorfflucht
Nun lebt die Familie also in Biedermannsdorf. Nichts gegen Biedermannsdorf. Es ist eine durchschnittlich hübsche, 3340 Einwohner große Gemeinde im Süden von Wien, nahe der Shopping City Süd und doch irgendwie schon im Grünen. Biedermannsdorf ist bloß das Dorf, mit dem der Demograf Rainer Münz die Bevölkerungsentwicklung Österreichs pointiert illustriert. Was macht denn ein Dorf aus? „Überschaubarkeit, Kommunikation zwischen fast allen Bewohnerinnen und Bewohnern und Identität – alle haben ihren Platz“, so Münz. Aber auch: „Hierarchie, soziale Kontrolle, eingeschränktes Privatleben, Leiden unter klar zugewiesenen Rollen.“ Weshalb viele Jugendliche nach Schulabschluss in eine Stadt ziehen – nicht nur, weil es dort Universitäten, mehr Jobs und mehr Freizeitmöglichkeiten gibt, sondern weil sie Dorfflüchtlinge sind. Wenn die Kinder weg sind und die Versorgung des nun zu großen Hauses samt Garten mehr Belastung als Freude ist, wird die Stadt für die (klein-)kinderlosen Paare erneut attraktiv. Was in mobilen Gesellschaften wie in den USA emotional kein Problem ist – das unpassende Haus zu verkaufen – ist in Österreich bislang ungewöhnlich.
W o unser Paar 2030 leben wird, ist nicht abzusehen. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung liegt bei 50 Prozent. Sie gehen vielleicht nach Wien zurück, einzeln oder gemeinsam. Für ältere Menschen haben Städte Vorteile. Die medizinische Versorgung ist besser, und man ist, wenn man nicht mehr Auto fahren kann, mobiler. Doch das ist gegenwärtig gedacht. In 40 Jahren könnte sich das Einkaufen erledigt haben, weil alles zugestellt wird. Das Autofahren geht vielleicht vollautomatisch.
Spekulativ sind auch Visionen über Österreich im Jahr 2030 – das ist in 20 Jahren, also bald. Im Auftrag der Österreichischen Raumordnungskonferenz haben die Ziviltechniker Rosinak & Partner Szenarien der räumlichen/regionalen Entwicklung Österreichs im europäischen Kontext verfasst und dabei vier Szenarien entwickelt.

Alles Wachstum
Hier wird angenommen, dass 2030 die EU eine starke Institu­tion mit gemeinsamer Politik ist. Die Balkanländer und die Türkei sind Mitglieder. Österreich ist Spitzenstandort für forschungs-, technologie- und innovationsorientierte Betriebe. Die mehrsprachigen Kinder der ehemaligen Migranten sind Motor der Exportindustrie. Mütter sind berufstätig, die Menschen gehen später in Pension, und 1,5 Mio. Menschen wandern zu. Das erfordert forcierten Wohnbau, vorwiegend Wohnanlagen als Passivhäuser. Nur Wohlhabende leisten sich Einfamilienhäuser. Hohe CO2-Steuern haben einen Innovationsschub bei Autos und Flugzeugen ausgelöst. Im Tourismus ist Österreich Profiteur des Klimawandels. Berge und Seen werden zu Zufluchtsorten für Hitzeflüchtlinge. Die Landwirtschaft produziert Biolebensmittel.
Internationale Eingriffe machten diese Entwicklung möglich: Der Welthandel hält sich an ökologische und soziale Standards, internationale Klimaverträge geben CO2-Reduktion vor, die EU hat strenge Energieeffizienzstandards.
Die Stadtkerne sind Prestigestandorte für Unternehmen und Aufsteiger; Studenten und Künstler ziehen in billigere Bezirke und verdrängen die Migranten, die wiederum in Gemeindebauten und Gewerbegebiete ziehen. Der ländliche Raum entwickelt sich dynamisch.

Alles Risiko

Bis 2020 ändert sich nichts. Die EU bleibt Wirtschaftsunion, es gibt keine Erweiterung, die UNO ist schwach, es gibt keine Klimapolitik. Dann kommt ein massiver Energiepreisschock, die Energiepreise verdreifachen sich. Die energieintensive Papier- und Stahlindustrie wandert ab, Österreich forciert die energetische Biomassenutzung. Land- und Forstwirtschaft sind Krisenprofiteure. Doch der ländliche Raum stagniert, da Mobilität zum Luxus wird. Die Bevölkerung lebt in den Städten, die Betriebe siedeln sich nur dort an. Wegen der restriktiven Zuwanderungspolitik bleibt die Bevölkerung konstant, das Wirtschaftswachstum ist gering.

Alles Wettbewerb
Freihandel ohne ökologische Standards setzt sich durch. Die EU ist eine Wirtschaftsunion und nimmt neue Länder auf, macht jedoch keine gemeinsame Politik. Wettbewerb dominiert, Monopole fallen, der Markt beherrscht auch Gesundheit und Bildung. Starke Differenzierung von Wohlhabenden und Working Poor findet statt. In der Landwirtschaft dominieren große Betriebe; Bergbauernhöfe werden an Klimaflüchtlinge vermietet. Die Stadtkerne sind Prestigeorte, außen gelegene Stadtviertel sind für die Working Poor und entwickeln sich zu gefährlichen Gebieten.

Alles Sicherheit
Die EU stärkt sich nach innen, hat hohe Kompetenzen, die Nationalstaaten verlieren an Bedeutung. Sicherheit, Stabilität, Umweltschutz sind die dominierenden Werte. Das Wirtschaftswachstum in der EU ist stabil, aber niedrig. Die Geburtenrate bleibt niedrig, die Zuwanderung restriktiv. Der Traum vom Einfamilienhaus verblasst, beliebt sind Eigentumswohnungen. Die Mobilität ist klimafreundlich, Biolebensmittel boomen europaweit.
Doch nichts ist vorhersehbar. Extremereignisse können jede schön geplante Zukunft, jede perfekt scheinende Politik durcheinanderwirbeln. So eine Wild Card ist der Ölsee im Golf von Mexiko. US-Präsident Barack Obama war gerade dabei, trotz Bedenken den Ölgesellschaften eine Ausweitung von Off-Shore-Bohrrechten zu gewähren. Dann kam der große Oilspill. Als Folge könnte in den USA erstmals die Bereitschaft für eine wirklich neue Energiepolitik entstehen.
Einige Szenarien für Österreichs Entwicklung nehmen eine hohe Zuwanderung an, andere eine restriktive Einwanderungspolitik. Experten sehen angesichts der Überalterung der österreichischen Bevölkerung eine hohe Zuwanderung als notwendig für die Pensionssicherung an. Rainer Münz, Leiter der Forschungsabteilung der Erste Bank, tut das nicht. In erster Linie müsse das tatsächliche Pensionsantrittsalter angehoben werden. Münz war von 2008 bis Mai 2010 im „EU-Weisenrat zur Zukunft der EU“. Dabei wurden spannende Ideen entwickelt: Da unbeschränkte Einwanderung nach Europa ohne Rücksicht auf Qualifikationen nicht sinnvoll sei, könnte die EU steuernd eingreifen. Etwa, indem sie technische Universitäten in Ländern wie Marokko finanziert. Die Absolventen würden später in die EU einwandern oder aber die Entwicklung im betreffenden Land vorantreiben. Was in jeder Hinsicht gut wäre.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Der Verlust der Wissensbasis

Der Verlust der WissensbasisPhotos.com

Von allen österreichischen Bundesländern ist Kärnten am meisten vom Brain Drain betroffen, der Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Am Bildungsangebot liegt es weniger als an der mangelnden Standortqualität und schwindenden Zukunftsperspektiven.

Kärnten hat eine Reihe von Problemen, doch eines der größten stellt wohl der ungeminderte Brain Drain aus dem südlichsten österreichischen Bundesland dar. Aufgrund multipler Ursachen leidet dieses Land derzeit von allen heimischen Bundesländern am stärksten unter Abwanderung von Talenten und gut ausgebildeten Arbeitskräften, und es sieht nicht so aus, als ob sich dieser Trend in der nächsten Zeit umkehren würde.
Die Gründe dafür liegen in einem Mix aus Umständen, die in dem Begriff einer sich rapide verschlechternden Standortattraktivität zusammengefasst werden können. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Gallup-Instituts er–gab, dass sich in Kärnten „die klassischen Phasen einer Krise“ abzeichnen, wie es Motivforscherin Sophie Karmasin ausdrückt.
Gemäß der Umfrage betrachten 65 Prozent der Kärntner ihr Land als schlecht verwaltet, gar 77 Prozent halten die hohe Verschuldung für überaus problematisch und se­hen einen negativen Einfluss auf die Wirtschaft. Letzterer Einschätzung schließen sich sogar 90 Prozent der Führungskräfte aus der Kärntner Industrie an.

Vier pro Tag gehen
Laut Otmar Petschnig, Präsident der Kärntner Industriellenvereinigung, verliert Kärnten pro Tag vier Einwohner durch Abwanderung. Besonders von diesem Phänomen betroffen sind die Bezirke Unterkärntens, aber auch die von Arbeitslosigkeit stark in Mitleidenschaft gezogenen Regionen im Nordwesten. Kärnten wird entsprechend dieser Berechnungen bis zum Jahr 2031 fünf Prozent an Bevölkerung (derzeit 560.000) verlieren, prognostiziert die Abteilung Landesplanung des Amts der Kärntner Landesregierung. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist neben der Abwanderung allerdings auch das Geburtendefizit. Hinsichtlich der sogenannten „Erwerbsbevölkerung“ zwischen 15 und 64 Jahren wird bis zum Jahr 2020 ein Rückgang um 14.000, ein Minus von knapp vier Prozent, erwartet, während der Anteil der älteren, nicht mehr erwerbstätigen Menschen überproportional ansteigen werde, lautet die Analyse.
Das Problem des Brain Drain liegt jedoch nicht so sehr in einem Mangel an geeigneten Ausbildungsstätten. Schließlich verfügt Klagenfurt über eine eigene Universität. Auch Fachhochschulen und andere Bildungswege gibt es zuhauf. Das Problem ist vielmehr in der unzureichenden Verfügbarkeit von Stellen für Akademiker und Fachleute abseits des Landesdienstes begründet, der traditionell als „Hafen“ für Kärntner Akademiker dient. Top-Firmen, die Stellen mit Aufstiegs­chancen und guter Bezahlung bieten, sind im Lande rar gesät.
Zugleich hält es der Mikrochip­hersteller Infineon in Villach für überaus schwierig, junge Akademiker und Experten im Land zu halten oder gar hoch qualifiziertes Personal dorthin zu bringen. Kärnten müsse sich mehr auf Standortförderung und Innovation festlegen, meint Infineon-Chefin Monika Kircher-Kohl.

Magnet Wien
Statistisch gesehen verlassen die meisten Kärntner ihre Heimat in Richtung Wien, wo bereits 80.000 von ihresgleichen leben. Der Rückfluss von Abgewanderten ist eher spärlich oder wie es der Politologe Peter Filzmaier ausdrückt: „Die Zahl der intellektuellen Zuwanderer nach Kärnten ist bescheiden.“
Abgesehen von bestimmten Regionen in Österreich wie etwa der Obersteiermark oder dem nördlichen Weinviertel ist auch das Burgenland ein Bundesland, das mit Abwanderung zu kämpfen hat, insbesondere im Süden.
Viele südburgenländische Gemeinden kämpfen mit Abwanderung und Geburtenrückgang. Wirtschaftsschwäche, die periphere Lage sowie die fehlende urbane Ausstattung haben das Burgenland zu einer klassischen Abwanderungsregion gemacht. Jahrzehntelang war das Burgenland mit einer negativen Bevölkerungsentwicklung konfrontiert.
Der Anteil der Wohnbevölkerung mit Hochschulabschluss im Burgenland ist gering. Im Land selbst steht nur eine kleine Zahl hoch qualifizierter Arbeitsplätze für Hochschulabsolventen zur Verfügung. Daher pendelt diese Bevölkerungsgruppe zu einem großen Teil in Richtung Wien, nach Niederösterreich oder in den Raum Graz. Insgesamt gehören fast drei Viertel der erwerbstätigen Burgenländer zu den Pendlern.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Dichter, Moore und Steine

Dichter, Moore und SteineErhard Hois

Dichterlesungen gibt es in Wien fast jeden Tag. Im kleinen Städtchen Heidenreichstein nur einmal im Jahr. Doch ebendort findet das spannendste Literaturfest statt. Weil sich zwei Männer, der eine Ex-Kulturminister, der andere Dichter, ein Festival ganz nach ihrem Geschmack ersonnen haben.

Amos Oz hätte unter spanischer Sonne mit König Juan Carlos zu Abend speisen können. Eben war er mit dem „Prinz von Asturien“-Preis für Literatur gekrönt worden. Stattdessen reiste er in den Nebel, in den Regen. Nach Heidenreichstein, einem Städtchen im Waldviertel mit 6000 Einwohnern (inklusive 968 Zweitwohnsitzern), nahe der tschechischen Grenze.
Dort wurde für den israelischen Schriftsteller ein zweitägiges Fest ausgerichtet. Er war 2007 Ehrengast von „Literatur im Nebel“, einem neuen Literaturfest, das der Dichter Robert Schindel und der Ex-Kulturminister und jetzige Kontrollbank-Vorstand Rudolf Scholten ersponnen haben. „Wir haben es am Anfang selber nicht so richtig ernst genommen“, sagt Scholten. „Doch irgendwann hat sich herausgestellt, dass das, was wir nicht ernst nahmen, möglich wird.“ Nämlich dann, als Scholten zum Telefon griff, Salman Rushdie anrief und ihn fragte, ob er nach Heidenreichstein kommen würde.

Literaturstar in Kleinstadt
„Und zwar ohne Gage“, ergänzt Robert Schindel. „Denn das Honorar, das Salman Rushdie üblicherweise verlangt, hätten wir uns nie leisten können.“
Er komme gern, sagte Rushdie. Was für Outsider wie eine Sensation klang, war in Wirklichkeit ein Freundschaftsdienst. Scholten und Rushdie kennen einander seit Mai 1994. Seit der damalige Unterrichts- und Kulturminister dem versteckt lebenden britisch-indischen Schriftsteller den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur überreichte. Rushdie war 1989 für sein Buch Die satanischen Verse vom iranischen Präsidenten Kho­meini mit einer „Fatwa“, einem „Todesurteil“ belegt worden, samt Aufruf, ihn zu ermorden. Seither lebte er versteckt.
In den Jahren nach der Preisverleihung kam Rushdie häufig nach Wien, immer unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Dabei entwickelten sich zwischen Rushdie, Scholten und etlichen Schriftstellern wie Peter Turrini und Robert Schindel freundschaftliche Kontakte. Im Oktober 2006 wurde Rush­die der erste Ehrengast von „Literatur im Nebel“.

In Wien wäre das unmöglich
Also stand man in einer architektonisch unscheinbaren Mehrzweckhalle etwas außerhalb des Zentrums von Heidenreichstein, holte sich einen Becher Kaffee in der Pause und scharrte sich in die kleine Gruppe rund um Rushdie. Der plauderte entspannt. Selber hatte man auch keine Eile, es gab ja noch eine Pause und noch eine, es gab viele Gelegenheiten, mit Rushdie zu reden. Es tanzten auch nicht ständig Kameraleute und Fotografen um ihn herum. „Es ist uns ganz wichtig, dass der Ehrengast eine angenehme, schöne Zeit verbringt“, sagt Scholten. Das Konzept ist, einen Literaten von Weltrang zwei Tage lang zu feiern. Andere Schriftsteller lesen aus seinem Werk, er selber liest, man führt geistreiche Gespräche mit ihm.
„Wir wollten etwas machen, was in Wien unmöglich wäre. Etwas, das nur an so einem Ort funktionieren kann.“ Wäre die Veranstaltung etwa im Museumsquartier in Wien, gäbe es ein ständiges Kommen und Gehen. Die Konzentration, die Nicht-Eile könne man nur dort aufbringen, wo es nichts anderes zu tun gibt, außer höchstens im Nebel spazieren zu gehen. Scholten und Schindel wollten auch nichts touristisch Opportunes machen. „Deshalb haben wir uns für die Zeit entschieden, in der nur überzeugte Waldviertelfans ins Waldviertel kommen.“
Die Hälfte der 1300 Karten wird in der Region verkauft. Was aber macht die Weltliteratur mit den Heidenreichsteinern? „Bei Kunst kann man keinen Wirkungsgrad messen“, sagt Scholten.
Bei Geld schon. Geld lässt sich zählen. 2005 führten einige Aktivisten die Regionalwährung „Waldviertler“ im Waldviertel ein, um so dem Kaufkraftabfluss ein wenig entgegenzuwirken und den Einkauf in regionalen Geschäften zu fördern. In den meisten Orten ist die Initiative versandet. Doch in Heidenreichstein wird sie hochgehalten. Mit Literatur hat das nichts zu tun. Aber mit einer gewissen Widerständigkeit, die wohl auch durch Kunstgenuss genährt wird. Nur eine Vermutung.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Gut bewaffnet und mit Gott

Gut bewaffnet und mit GottA. Riegler

Echte Amerikaner leben nicht in Washington und brauchen keine Waffengesetze. So polemisiert zumindest die Schusswaffenvereinigung National Rifle Association. Ein Lokalaugenschein beim Jahrestreffen der mächtigsten Lobbyingorganisation der USA.

Alle sind dabei, von Colt bis Glock, von Midway USA bis zur Sammlervereinigung deutscher Waffen. Es gibt Revolver mit rosa und violetten Griffen, Gewehre in Pastelltarnfarben und Volksschüler, die mit fachmännischem Blick das Kaliber erkennen.
Neben ausgestopften Tierschädeln werden Bären-, Wildschwein-, Zebra- und Hirschjagdferien ver­kauft. Ein sonnengegerbter Mittfünfziger lässt sich einen 2,5 Meter langen Spieß in Karton verpacken. Was er damit jage, frage ich. „Meine Frau“, gibt er zurück. Irgendwo knattert ein Taser.

Waffenvolksfest
An die 70.000 Besucher erwartete die Schusswaffenvereinigung National Rifle Association (NRA) zu ihrer Jahresversammlung mit angeschlossener Verkaufsmesse in Charlotte in North Carolina. Mit rund vier Mio. Mitgliedern und der Waffenindustrie als Geldgeber ist die Lobbyingvereinigung die mächtigste in den USA. Über ihren Einfluss werden politische Karrieren aufgebaut oder im Keim erstickt.
Das wichtigste Stück Gesetzestext ist für die NRA der zweite Zusatzartikel zur Verfassung, der als Recht jedes Bürgers ausgelegt wird, eine Waffe zu besitzen und mit sich zu führen. Dabei geht es, zumindest traditionell, um mehr als die Verteidigung gegenüber Einbrechern. „Der zweite Verfassungszusatzartikel dient zur Verteidigung der Freiheit vom Staat“, erinnert Newt Gingrich, ehemaliger Repräsentantenhaussprecher, in seinem Vortrag. Die Freiheit der Amerikaner sei ein Geschenk Gottes.
Die jeweilige Regierung spielt dabei nur eine Statistenrolle. Entsprechend wird in Charlotte ein Kirtag der Unabhängigkeit vom Staat und der Distanzierung von Städtern gefeiert. „Es ist immer toll, aus Washington herauszukommen und bei richtigen Amerikanern zu sein“, erklärt NRA-Cheflobbyist Chris Cox in seiner Einleitung. Das Publikum des bis auf die letzten Ränge besetzten Sportstadions ist fast nur weiß. Viele sind pensioniert, wenige kommen aus der großen Stadt. Cox drischt auf „linke“ und „elitäre“ Medien ein, sein Chef Wayne La-Pierre setzt den rhetorischen Feldzug zorniger fort. Sooft dieser „wir“ sagt, spricht er gleichbedeutend von NRA und Tea Party, einer stark wachsenden, konservativen Protestbewegung, nach deren Dafürhalten Präsident Barack Obama an einem sozialistischen Staatssystem zimmert.
Wayne und viele Redner nach ihm pochen auf Gottesfurcht und einfache, harte Arbeit als Regulativ gegen das Böse. Akademische Bildung, allen voran Obamas Harvard-Abschluss, wirkt geradezu als Feindbild und ist Symbol eines als ultralinks dargestellten Washington, das mit dem Durchschnitts­amerikaner nichts gemein hat. „Wir auf dem Land verstehen, dass man sich manchmal selbst verteidigen muss“, sagt Haley Barbour, Gouverneur von Mississippi, in seiner Rede. Als sich sein Bruder eine halb automatische Waffe zulegte, hielt er das zunächst für etwas drastisch. Die Erklärung leuchtete ihm und dem johlenden Publikum aber ein: Wenn jemand um drei Uhr früh mit einer Waffe an die Tür klopft, will man nicht im Nachteil sein.

Babyparty auf dem Schießplatz
Für Sarah Palin ist die NRA-Veranstaltung eine Art Heimspiel. Die bekennende Jägerin ist eine von ihnen. Hier kann sie bedenkenlos Landei, Schneemobilfahrerin, Waffennärrin sein. Sie erzählt von ihrer Babygeschenksparty auf dem Schießplatz und dass sie auf ihrer Hochzeitsreise auf die Jagd ging: „Es war August! Jagdsaison!“, ruft sie in die Menge, die vor Begeisterung tobt. Die Ex-Gouverneurin von Alaska und Vizepräsidentschaftsanwärterin im letzten Wahlkampf ist trotz – oder gerade wegen – ihres offiziellen Ausstiegs aus der Politik zu einer der Leitfiguren der Tea-Party-Bewegung aufgestiegen.
Laut Palin ist es mit den Linken und Elitären aber ohnehin nicht weit her. Eine Journalistin, erzählt sie, habe nicht einmal den Unterschied zwischen Gewehr und Flinte gekannt: „Ja, und ich soll die Idiotin sein“, lacht sie vom Rednerpult herunter. Sie spricht auch jetzt manche Sätze noch nicht zu Ende, aber das macht nichts. Denn sie plaudert von Mut, Waffen und der Liebe zu den USA. Und das genügt hier vollauf.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Megacitys vor dem Kollaps

Megacitys vor dem Kollaps

Bis 2030 werden mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung in Großstädten leben, schätzt die UNO. Die Hauptlast dieser massiven Verstädterung tragen Metropolen in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Mumbai ist keine Stadt, Mumbai ist ein Organismus. Die größte städtische Agglomeration von Menschen auf diesem Planeten mit geschätzten 14 Mio. Einwohnern ist unverwaltbar, jedenfalls zu einem großen Teil. Denn weder Stadtplanung noch Infrastruktur können mit den Erfordernissen der rapiden Zuwanderung Schritt halten.
Wer ein bisschen klaustrophobisch ist, für den ist Mumbai wahrscheinlich nicht das ideale Pflaster. Alles ist überfüllt und vollgestopft, die Straßen, die Busse, die Züge. Pro Tag wandern Hunderte von Menschen in die Stadt in der Hoffnung, irgendeine Arbeit zu ergattern. Sie alle müssen irgendwo einen Platz zum Wohnen finden, was angesichts der stetig steigenden Immobilienpreise ein Problem darstellt. Deshalb lebt die Hälfte der Einwohner Mumbais in Slums – fast sieben Mio. Menschen. Die Stadt hat damit eine der höchsten Slumpopulationen der Welt.

Unlösbare Probleme
Gerade in den ökonomisch am wenigsten entwickelten Staaten besteht das Problem, dass die Städte durch den Zuzug der armen Landbevölkerung vor unbewältigbare Situationen gestellt werden. Vielfach kann die Infrastruktur nicht mit der Expansion der Städte mithalten. Dies kann dazu führen, dass elementare Bedürfnisse wie die Wasserversorgung nicht mehr befriedigt werden können.
Die Wasserverfügbarkeit ist häufig nicht nur zu gering, sondern wird dauerhaft übernutzt und meistens durch Verschmutzung durch große Abwassermengen zusätzlich verringert. Die unkontrollierte Zuwanderung in die Städte, das rasante Bevölkerungswachstum und die hieraus resultierende Überforderung der Infrastruktur hat die Verslumung großer städtischer Gebiete zur Folge. Gegenwärtig leben etwa 30 Prozent aller Städter – etwa eine Mrd. Menschen – in Slums mit dürftiger Wasserversorgung beziehungsweise Abwasserentsorgung.

Größte Metropolregion
Wächst Mumbai weiter, wird die Stadt bis zum Jahr 2020 Tokio als derzeit größte Metropolregion der Welt mit momentan rund 35 Mio. Menschen im Großraum Tokio-Yokohama eingeholt haben. Damit würde die indische Megacity die Mexiko-Stadt, Seoul, Manila und São Paulo eingeholt haben, wenn sie nicht vorher kollabiert.
Eines der größten Probleme stelle in der Tat die soziostrukturelle Überforderung von Megacitys wie Mumbai dar, stellt der Soziologe André Briol fest. „Da Megacitys in der Dritten Welt nicht wie beispielsweise London oder andere Großstädte in Industrieländern natürlich gewachsen sind oder sich ausbreiten konnten, ist der angesprochene Wohnraummangel zum Teil ganz profan durch einen Platzmangel begründet“, sagt Briol.

Zerbröckelndes soziales Gefüge
Zum anderen seien Megacitys dadurch auch nicht in der Lage, ausreichend Erwerbsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten anzubieten. Gerade deshalb könne man besonders hier extreme Vermögens- und Einkommensgefälle innerhalb der Bevölkerung auf engstem Raum beobachten. „Ergebnis dessen ist wiederum eine starke Segregation der Bevölkerungsschichten in den Großstädten.­ Es findet nämlich eine Entmischung statt. So sind die sogenannten ‚Gated Communities‘ ein Symptom dieser Entwicklung, bei der sich vermögende Stadtbewohner zum Schutz in meist abgezäunte und von Sicherheitsdiensten überwachte Wohngebiete zurückziehen; die Mittelschicht verschwindet so immer mehr aus dem sozialen Gefüge der Großstädte“, analysiert Soziologe Briol.
Gemäß einer Untersuchung der Vereinten Nationen über die Perspektiven der Weltbevölkerung wird sich daran aber auch so bald nichts ändern. Von der derzeitigen Weltpopulation von rund sieben Mrd. Menschen leben derzeit 51 Prozent in Städten. Hochgerechnet auf das Jahr 2030 und gemessen am mittleren Bevölkerungswachstum dürften dann bereits mehr als 60 Prozent einer Weltbevölkerung von 8,2 Milliarden in Städten leben, schätzt die UNO, hauptsächlich in Asien und Afrika.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Boom der urbanen Trendviertel

Boom der urbanen TrendviertelPhotos.com

Von New York bis Schanghai entstehen neue, schicke Ausgeh- und Wohnviertel für die Mittelschicht.

Vergessen wir mal kurz Spittelberg und Karmelitermarkt, ohne diesen beiden angesagten Trendvierteln in Wien unrecht zu tun. Immerhin kann die österreichische Hauptstadt, laut aktueller Mercer-Liste die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität, mit gleich zwei solchen In-Plätzen aufwarten. Doch im Vergleich zu den neuen, aufstrebenden Trendvierteln in internationalen Metropolen muten die Wiener Bohème-Refugien dann doch recht beschaulich an.
Trendviertel boomen derzeit weltweit. Dies hat – je nach Region – mit zweierlei Faktoren zu tun: mit einer zielgerichteten Stadtentwicklung in westlichen Großstädten oder mit „natürlichem“ Mittelschichtswachstum in den Tigerländern Asiens. Die Verläufe sind weltweit ähnlich: Wo es in ehemals problematischen Bezirken durch Immobilienspekulation, Vernachlässigung und soziale Umschichtung zur Abwanderung kam, entdecken plötzlich Kreative, Künstler und urbane Pioniere einen neuen Lebensraum, der zuerst zu einer Art „Existenzialisten-Getto“ wird, in der Folge aber durch Eigendynamik und Pioniergeist schließlich einen „Trend“ symbolisiert.
„Wir Soziologen sprechen von einer Milieu- und Lebensstilgesellschaft. Entsprechend der Einkommens- und der Bildungssituation sowie der privaten persönlichen subjektiven Auffassung von Leben und den subjektiven Normen und Werten bilden sich Lebensstilgruppen, Milieugruppen in unseren Städten aus“, sagt der deutsche Wohnsoziologe Klaus Schmals.

Kreuzberg und Sopi
Und so passiert es: In New York bildet nach Soho und Chelsea nun Harlem das neue Trendviertel, in Paris sind es Ménilmontant, Belleville und Sopi (South of Pigalle). In Hamburg sind es die Hafen-City und das Schanzenviertel, in Berlin ist es das ehemals schäbige Kreuzberg geworden. In Mailand erlebt gerade die Zona Tortona, ein ehemals trostloses Arbeiterviertel hinter dem Bahnhof Porta Genova, ihren Aufschwung als Lebensraum für die junge, urbane und kaufkräftige Schicht. Die Liste lässt sich problemlos in Richtung Asien fortsetzen: Wer das neueste Trendviertel Istanbuls besuchen will, fragt dort nach Beyoglu. In Mumbai, man möchte es nicht glauben, mausert sich der ehemalige Slum Dharavi zum aufstrebenden Trendviertel.
Von China gar nicht zu reden: Wer in Schanghai „in“ ist, wohnt im neuen Trendviertel Xintiandi, von der Stadtverwaltung stolz „Lifestyle Center“ genannt. Und in Peking kommt man an Nanluoguxiang nicht vorbei: schicke Bars, Dachterrassenwohnungen und Designer-Chic für die neue Mittelschicht.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

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