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03. Juli 2024

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Wider die Krise

Wider die KriseLoebell

Montag bis Freitag bin ich Rechtsanwalt in Wien und arbeite im Wirtschaftsrecht, speziell im Ener­gierecht. Am Wochenende bin ich Bauer in der Steiermark und züchte in meinem Biobetrieb schottische Hochlandrinder und Mangalitza-Schweine in Freilandhaltung. Der Kontrast zwischen beiden Welten ist groß.
Warum bin ich nicht nur Rechtsanwalt, sondern auch Bauer? Ich bin gerne auf dem Land. Ich halte manuelle Arbeit für einen guten Ausgleich zur Schreibtischarbeit. Tiere zu halten macht mir Spaß. Meine Kinder lernen Landleben von der praktischen Seite kennen. Ich bin aber auch Bauer, weil ich für wahrscheinlich halte, dass unsere Zivilisation in absehbarer Zeit ernsten Krisen begegnen wird. Ich glaube, dass die absehbare Verknappung von Erdöl und anderen Ressourcen nur noch für recht beschränkte Zeit eine Fortführung unserer derzeitigen Energieverwendungsintensität erlauben wird. Ich glaube auch, dass das globale Konzept der Schuldentilgung durch Aufnahme von neuen, höheren Schulden nicht mehr sehr lange funktionieren wird. Die Schere zwischen globaler Buchgeldmenge und Realwirtschaft geht immer weiter auf. Diese „Geldblase“ wird irgendwann platzen. Die Kombination von Ressourcenkrise und Geldkrise könnte unschön werden. Die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, und damit die Auswirkungen der drohenden Ressourcenkrise, kann man vorbeugend reduzieren. Zum Beispiel habe ich auf unserem Bauernhof eine thermische Solaranlage, Holzöfen und eine Fotovoltaikanlage installiert, unsere Autos fahren mit Pflanzenöl. Alle diese einfach umzusetzenden Technologien sollten meiner Meinung nach viel systematischer angewendet werden. Einige Gemeinden in Österreich zeigen es ja vor; viele andere sollten folgen. Dann wird das Landleben noch attraktiver.
Reinhard Schanda ist Partner bei Sattler & Schanda Rechtsanwälte.

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Reinhard Schanda, Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Das Leben zwischen Dur und Moll

Das Leben zwischen Dur und MollPhotos.com

Musik prägt unser Leben. Radioprogramme, Videoclips und Downloads bilden eine permanente Geräuschkulisse im Alltag. Trotzdem besitzen einzelne Musikstücke immense Bedeutung für Biografien, in der Therapie oder in der Vertreibung gesellschaftlicher Randgruppen.

Das Badewasser ist eingelassen, die Kerzen ringsum sind angezündet. Auf der Wasseroberfläche treiben Rosenblätter. Für das romantische Entspannungsbad zu zweit fehlt einzig noch ein wenig dezente Musik. Schon kramt der verliebte Don Juan in den Erinnerungen wie beispielsweise auch die Protagonisten in Nick Hornbys Roman High Fidelity. Während jedoch die fiktiven Buchhelden das passende Musikstück zu Themen wie Liebe oder Tod sondierten, begibt sich der Schaumbad-Bel-Ami auf die Suche nach jenem Song, der das erste Kennenlernen musikalisch manifestierte.
Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass Musikstücke ihre Bedeutung durch beeindruckende soziale Erlebnisse erhalten, die die Melodien und Kompositionen mit der Lebensbiografie des Hörenden in Zusammenhang bringen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um Rock, Pop oder Klassik handelt. Das Entscheidende sei das tatsächlich stattfindende Ereignis. Der rhythmische Taktgeber Eye of the Tiger (aus dem Boxerfilm Rocky IV) beeindruckt jeden kämpfenden Marathonläufer wie eben auch 20.000 in die Höhe gestreckte Feuerzeuge, wenn Herbert Grönemeyer bei einem Konzert Halt mich für die Pärchen im Publikum anstimmt. Und kollektiver Gruppenspaß bei einer Party samt lautem Gegröle bleibt ebenfalls in der unmittelbaren Gefühlswelt haften.

Die therapeutische Wirkung von Musik
Musik kann Hochgefühle schaffen, aber auch seelische Tiefpunkte ausdrücken. Sie kann subjektiver Anker oder einfach nur sinnliches Erlebnis sein, weil der Klang einer Stimme oder der Sound bestimmter Instrumente imponieren. Das weiß auch die Musiktherapeutin Hanna Fak. Seit ihrer Ausbildung vor knapp 30 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit dem kommunikativen Aspekt der Musik. „Bei der Musiktherapie, die eng mit der Psychotherapie verknüpft ist, geht es um emotionale Prozesse, um Beziehungen und Interaktionen. Sie ist eine sehr ausdruckszentrierte Methode für eine Therapieform, bei der Sprache nicht mehr zur Verfügung steht“, erklärt die akademisch ausgebildete Therapeutin Fak. „Musik dient hierbei als anderes Ausdrucksmedium für Gefühle und vorhandene Konflikte.“
Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liege in der aktiven Heiltherapie, in der das Spektrum einer Persönlichkeit durch Musizieren zum Ausdruck gebracht wird – im Gegensatz zur rezeptiven Musiktherapie, die auf das reine Musikhören abzielt. „Mir ist es wichtig, dass ich verschiedene Aspekte kennenlerne, um jemanden zu helfen, also die Harfenseite eines Menschen ebenso wie die Trommelseite. Immerhin reicht die musikalische Bandbreite vom Schlagen bis zum Streichen, von hohen, metallischen Klängen bis zu tiefen, erdigen Tönen.“ Dabei spiele für sie die Sensibilisierung für Stimmungen, Bedürfnisse und Atmosphären eine wesentliche Rolle, zumal gleiche Musikstücke sehr unterschiedlich auf die Rezipienten wirken und niemand tagtäglich für die gleichen Sounds empfänglich sei.

Klassik gegen Drogendealer
Davon können wahrscheinlich auch Verkäuferinnen in Supermärkten ein Liedchen singen, wenn in den Wochen vor Weihnachten die musikalische Permanentberieselung startet. Oder Obdachlose und Drogensüchtige in deutschen Städten. Diese verließen vermehrt ihre Schlafstätten und Umschlagplätze in U-Bahnhöfen, als die Verantwortlichen damit begannen, klassische Musik aus Lautsprechern tönen zu lassen. Offenbar waren die einzelnen Personen im Hinblick auf ihre Musiksozialisation dem ganztägigen Hören von klassischer Musik nicht gewachsen, obwohl sich rund 1800 unterschiedliche Stücke im Repertoire befanden.
Erstmals wurde 1998 in Hamburg die Beschallung von Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen mit klassischer Musik erprobt, ehe andere Großstädte wie Berlin und München nachzogen. Gespielt wurde Mozart, Schubert, Brahms, Chopin, Beethoven oder Bach in Instrumentalversionen. Fahrgäste zeigten sich zufrieden, zumal viele den kurzen Aufenthalt in den Stationen als beruhigend und als Pendant zum teuren Konzerthausbesuch empfanden. Zudem erhöhte sich das subjektive Sicherheitsgefühl, wahrscheinlich weil sich keiner vorzustellen vermochte, er könne zu Mozartklängen niedergeschlagen werden.
Obwohl sich bei Umfragen rund drei Viertel positiv äußerten, mischten sich vereinzelt kritische Stimmen in den Öffentlichkeitschor. „Musik darf nicht zur omnipräsenten Zwangsberieselung werden“, befand der Pressesprecher der Münchner Verkehrsbetriebe, „schließlich fahre niemand mit, um Musik zu hören.“ Und auch im Stuttgart Blog – Stimmen der Stadt schrieb eine musizierende Klassikliebhaberin: „Auf Dauer sind mir zwei oder drei schnarchende Obdachlose lieber als so ein Gedudel vom Band.“ An der „akustischen Umweltverschmutzung“ störte sie vor allem die schlechte Soundqualität.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Die Stimme der Marginalisierten

Die Stimme der MarginalisiertenAugustin

Robert Sommer: „Es gibt bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die sich nicht gut artikulieren können, und die werden bei uns privilegiert behandelt. Die bekommen bei uns eine Plattform und eine Ausdrucksmöglichkeit, die sie sonst nicht haben“, sagt der Mitbegründer des Augustin.

economy: Warum gibt es in den angeblich so reichen Industrieländern so viele arme Menschen?
Robert Sommer: Es gibt so etwas wie ein Gesetz, das man nennen könnte: „The winner takes it all.“ Die, die oben sind, werden immer reicher, und die, die unten sind, werden immer ärmer. Nun ist aber zum Beispiel die Utopie der Europäischen Union eine Angleichung der Verhältnisse. Aus diesem Grund sei die EU gegründet worden, hat man den Menschen gesagt. In Wirklichkeit wird der Unterschied zwischen den Billiglohnländern und den reichen Ländern immer größer.

Und damit der Wunsch der Armen, am Reichtum teilzuhaben?
Ja. Gerade Wien ist ein ganz besonderer Magnet für osteuropäische Armutsflüchtlinge. In unserer Zeitung Augustin versuchen wir immer wieder zu erklären, warum diese Menschen, die meisten arme Schlucker, nach Wien kommen. Es gibt osteuropäische Länder, in denen der Mindestmonatslohn gerade einmal 100 Euro beträgt. In Österreich gibt es eine kollektivvertragliche Übereinkunft, der zufolge er mindestens 1000 Euro ausmachen soll. In anderen westeuropäischen Ländern liegt dieser Mindestlohn pro Monat sogar bei 1600 Euro. Dieses Gefälle bringt die Leute zu uns.

Die westeuropäischen Länder scheinen ihren Wohlstand aber verteidigen zu wollen.
Die meisten Medien behaupten ja, die Menschen im Osten seien selber schuld an ihrer Misere. Wir versuchen aber zu informieren, welchen Anteil wir selbst an diesem Zustand haben; dass österreichische Unternehmen, die ihre Produktion in diese Länder auslagern, ein Interesse daran haben, dass diese Dumping- und Sklavenlöhne dort bestehen bleiben. Zum Beispiel wurde soeben bekannt, dass der Swarovski-Konzern Teile der Produktion in Wattens in Tirol abbauen und ins Ausland verlagern wird. Insofern sind wir mit schuld an dieser Kluft, denn die Unternehmen könnten ja auch einen Beitrag leisten, diese Kluft zu vermindern, indem sie annähernd österreichische oder zumindest Kompromisslöhne zahlen. Aber es wird weiterhin zu tschechischen oder rumänischen Löhnen produziert und zu westeuropäischen Preisen verkauft.

Würdest du auch sagen, dass diese Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer so etwas wie eine neue Form von Kolonialismus ist?
Das kann man so sagen. Da gibt es auch ein aktuelles internationales Beispiel. Das neue iPad von Apple wird von dem taiwanesischen Unternehmen Foxconn in einer südchinesischen Wanderarbeiterfabrik produziert. Dort gab es eine Welle von Selbstmorden unter der Belegschaft, die vielfach auch als Folge der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und des enormen Drucks, unter dem die rund 300.000 Beschäftigten stehen, gesehen wird. Die Leute dort arbeiten in Zwölfstundenschichten, sechs Tage die Woche, und erhalten dafür nur den staatlichen Mindestlohn von umgerechnet 105 Euro im Monat. Übrigens: Anlässlich der Einführung des iPad auf dem deutschen Markt veröffentlichte Der Standard die Liste „Elf Dinge, die dem iPad das Genick brechen werden“. Da ging es aber nur um technische Features, von den Produktionsbedingungen stand dort kein Wort.

Du meinst, diese Zusammenhänge werden von den anderen Medien nicht transportiert?
Wir setzen uns intensiv mit dem sogenannten Qualitätsjournalismus auseinander. Es ist für mich meist interessanter, mich mit dem Standard zu beschäftigen als mit der Kronen Zeitung. Es ist ja bekannt, wie die Krone schreibt, aber Zeitungen wie Der Standard haben einen anderen Anspruch. Deswegen wundere ich mich oft, wie systemkonform sie schreiben. Wir sehen den Augustin auch als ein Medium, der diesen kolportierten Mythen und dem Mainstream-Journalismus substanziell etwas entgegensetzt und alternative Informationen in bestimmten Bereichen liefert.

Ihr seid da offensichtlich sehr praxisorientiert, theoretische Kritik am Neoliberalismus liest man bei euch eher selten.
Aber gerade jetzt haben wir die Kolumne von Dr. Ehalt, der sich damit sehr wohl theoretisch auseinandersetzt. Er sagt immer: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“ Wir haben zum Beispiel jetzt Journalisten beauftragt, die Raiffeisenbank genauer zu beobachten, weil es in Österreich kein Medium und keinen Journalismus gibt, die die Geschäfte der wahrscheinlich einflussreichsten Bank des Landes transparent machen. Es gibt da eine Untersuchung über die mächtigsten Leute Österreichs, und da findet man unter den ersten fünf gleich vier Leute von Raiffeisen. Das ist natürlich eine gewaltige Macht, die auch einen Großteil der Zeitungen kontrolliert. Ich weiß nicht, ob economy auch darunterfällt.

Meines Wissens nicht. Aber nochmals zum modernen Kolonialismus: Da gibt es ja auch bei der laufenden Fußball-WM einige Beispiele.
Ja, da hast du recht. Nehmen wir den Jabulani genannten offiziellen Ball; da hat die Organisation „Südwind“ einiges recherchiert. Für den Massenmarkt wird er in Indien in einer Billigversion hergestellt und händisch genäht. Die Näherinnen erhalten rund 20 Cent pro Ball und schaffen gerade einmal vier Stück pro Tag. Davon kann man nicht einmal in Indien leben. Mittlerweile wurden einige Betriebe sogar geschlossen und die Produktion nach China verlegt, weil dort die Mindestlöhne noch billiger sind. Angeblich werden bis zu 40 Mio. Stück pro Jahr von diesem Ball verkauft.

Ich habe vor Kurzem Richard Schuberth, der ja auch bei euch schreibt, gefragt, wer die WM gewinnen wird. Er hat geantwortet: „Die Fifa.“
Ich habe auf einer gesellschaftskritischen US-amerikanischen Website eine Analyse gelesen, wie sich die Fußball-WM in vielerlei Hinsicht schädlich auf die gesellschaftlichen Zustände in Südafrika auswirkt. Das wird aber durch die Euphorie momentan total verdeckt. Das Land ist in keiner Weise in der Lage, die Betriebskosten der riesigen Stadien zu zahlen, und es gibt keine Konzepte über die zukünftige Nutzung dieser Stadien. Vor allem aber ist Südafrika in der Vorbereitung auf diese WM zu einem Polizeistaat geworden; die Sicherheitsgesetze wurden radikal verschärft, und es besteht Grund zur Annahme, dass diese nach der WM nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Aber es wird von positiven wirtschaftlichen Impulsen gesprochen.
Es wird behauptet, dass durch die Ausrichtung der WM viele Arbeitsplätze entstanden seien. In Wirklichkeit sind aber auch sehr viele zerstört worden, denn die Fifa hat den öffentlichen Raum rund um die Stadien völlig okkupiert. Es dürfen dort nur Produkte von Unternehmen, die WM-Sponsoren sind, verkauft werden; das heißt aber, dass Tausende von Straßenhändlern ihre Arbeit verlieren, weil sie sich die Fifa-Lizenz nicht leisten und somit nichts mehr verkaufen können.

Damit noch mal zur Schere zwischen Arm und Reich: Wie viel Ungleichheit verträgt das kapitalistische System?
Das wird sich weisen, denn die Bedingungen werden jetzt weiter verschärft. Die, die weniger haben, wollen am Überfluss der Reichen teilhaben; ohnehin nicht auf gleicher Augenhöhe, aber zumindest so, dass sie ein faires Leben führen können. Die Vorgangsweise bei der Bankenrettung und die Art, wie die Finanzen saniert werden, bringen aber jetzt einen weiteren Armutsschub. Die Regierungen wälzen das, was sie den Banken gegeben haben, auf die Bevölkerung um und lassen sie die Rechnung begleichen. Den Gesellschaften werden irrsinnige Sparprogramme oktroyiert, und dadurch werden die Leute noch ärmer.

Das ist ja eine internationale Entwicklung im Geiste des Neoliberalismus, die der einfachen Bevölkerung nichts bringt, aber die reichen Schichten begünstigt.
Ja, so ist es, und jetzt kommt es darauf an, wie sich die Menschen dagegen wehren. Zum Beispiel gibt es in Griechenland Generalstreiks, die ich persönlich als so etwas wie Zeremonien ansehe. Die griechische Gewerkschaftsbewegung ist geprägt von linken Parteien, die meiner Meinung nach sehr etatistisch sind, indem sie Forderungen an den Staat richten. Die Frage ist, ob man auf diesem Weg die Krise abwehren kann. Ich denke, es wäre wichtig, neben dem Staat und neben dem Markt Modelle von alternativem Wirtschaften zu entwickeln, bei denen man sich überhaupt nicht erst in Abhängigkeiten von Staat und Banken begibt, so wie das die Argentinier ganz gut gemacht haben.

Das habe ich jetzt nicht parat. Was war in Argentinien?
Eine Krise, wie sie jetzt in Griechenland herrscht, hatten die Argentinier schon vor zehn Jahren. Doch die haben eine Kultur der Selbstorganisation, die die Griechen offenbar nicht haben. In Argentinien wurden damals Hunderte von Betrieben besetzt; heute sind immer noch 200 davon genossenschaftlich in der Hand der Arbeiter organisiert. Eine solche Kultur der Selbstorganisation und die Bereitschaft, die Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen, also Genossenschaften zu bilden, sind in Europa weitestgehend unbekannt. In Griechenland war zwar eine halbe Mio. Menschen auf der Straße und forderte vom Staat dieses und jenes, aber es tut sich dann nichts.

Kommen wir zu eurem Projekt Augustin, das als Obdachlosen-Zeitung gestartet wurde und sich auch mit Themen, die Minderheiten und soziale Ungerechtigkeit generell betreffen, beschäftigt.

Der Begriff mit den Obdachlosen bezieht sich mehr auf die Verkäufer. Wir haben nie von einer Obdachlosen-Zeitung gesprochen, das war nie unsere Selbstdefinition, wir sind nur von außen so etikettiert worden. Wir haben von Anfang an den Zugang zu unserem Vertrieb niederschwellig gehalten; das heißt, jeder, der glaubt, dass er Gründe hat, den Augustin zu verkaufen, kann kommen. Also jeder arme Schlucker kann sich mit dem Augustin was dazuverdienen. Der Status spielt für uns keine Rolle – ob jemand obdachlos oder arbeitslos, Junkie, Alkoholiker oder Haftentlassener ist. Diejenigen, die zu uns kommen, haben dafür einen Grund, weil sich niemand freiwillig stundenlang auf die Straße stellt.

Welches Spektrum deckt ihr thematisch ab?
Von den Themen und Inhalten her haben wir uns entschlossen, kein allgemeines politisches Magazin zu werden, das sämtliche Themen wie Parlamentarismus oder Parteipolitik oder Umweltpolitik behandelt. Der Schwerpunkt liegt auf sozialen Themen, andererseits aber auch auf Kunst und Kultur. Wobei wir vor allem künstlerische Initiativen und Menschen porträtieren, die am Rand des Kunstbetriebs angesiedelt sind.

Und ihr seid über die Jahre zu einer richtigen Qualitätszeitung geworden, die man nicht aus Mitleid kauft, sondern weil sie eine interessante Zeitung ist.
Das freut mich, dass du das so siehst; es gibt aber auch viele, die uns vorhalten, dass wir viele Regeln des Qualitätsjournalismus verletzen. Vor allem, weil wir bewusst sehr parteiisch sind. Es gibt bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die sich nicht sehr gut artikulieren können, und die werden bei uns privilegiert behandelt. Die bekommen bei uns eine Plattform und eine Ausdrucksmöglichkeit, die sie sonst nicht haben. Und dafür verzichten wir auch auf den im Qualitätsjournalismus sonst geforderten Objektivismus. Das heißt, nicht jede Kritik, die von unten kommt, wird immer durch die Darstellung der Kritisierten gespiegelt. Wir lassen einfach die Position oder die Kritik der Leute von unten zu, ohne dass wir diese mit einer Gegenmeinung konfrontieren. Das ist unsere Parteilichkeit, die den üblichen journalistischen Regeln widerspricht.

Stellt sich die Frage, wo in anderen sogenannten gehobenen Blättern die Objektivierung zu finden ist, denn gerade dort bekommen die von dir angesprochenen Leute diese Stimme nicht.

Es wird eh zum Teil geschätzt, für andere gelten wir aber nicht als Teil der journalistischen Landschaft und werden auch kaum zitiert. Ich glaube, dass uns die Journalisten – auch die der großen Medien – sehr genau lesen, immer wieder auch von uns etwas entnehmen, wir sind aber nicht zitabel. Wir sind als Medium nicht anerkannt wie etwa mittlerweile der Falter, der auch im ORF zitiert wird.

Der Falter ist aber gegenüber seinen Anfängen auch schon ziemlich handzahm geworden.
Ja, das sehe ich auch so, er hat nicht mehr diesen Stachel wie früher. Wir unterscheiden uns auch dadurch, dass wir keinen Wert auf die Trennung von Nachricht und Meinung legen, wie es der Schuljournalismus fordert. Wir kümmern uns um solche journalistischen Gesetze überhaupt nicht. Egal welche Nachrichten ich bringe, ich schreibe auch immer ohne Genierer meinen Kommentar dazu.

Man kann allerdings diesen sogenannten objektiven Zugang über die Kommunikationstheorie ziemlich auf die Schaufel nehmen. Es werden ja auch die anderen Medien durch Auswahl der Themen, Wortwahl, Weglassungen, Bildbotschaften et cetera gemacht, da steckt doch immer und überall viel Haltung und subjektive Position drinnen, sodass das über diese formalen Elemente genauso meinungs- und kommentarlastig ist.
Kann man so sagen.

Wo kriegt ihr aber dann immer die guten Autoren her, wenn ihr nicht die marktgängige Reputation habt?
Immerhin gibt es uns schon seit 15 Jahren, und die Leute kommen immer mehr drauf, dass der Augustin eine Publikationsmöglichkeit für anspruchsvolle Texte ist; die auch lang sein dürfen, denn wir folgen nicht dem modernen Marktgesetz, das kurze Texte und möglichst viele Bilder fordert. Bei uns kann man noch ausführliche zweiseitige Texte lesen. Und es gibt für kritische Journalisten eben wenige Publikationsmöglichkeiten. Außerdem zahlen wir kollektivvertragskonforme Honorare, und die prompt, was für freie kritische Journalisten durchaus attraktiv ist. Wir haben heute ein Netzwerk von freien Journalisten und Experten für Sozialarbeit, das aus 70 bis 80 Leuten besteht, die mehr oder weniger regelmäßig Beiträge liefern. Und zwar so intensiv, dass wir damit auch eine Wochenzeitung füllen könnten, aber das schaffen wir finanziell nicht.

Und wie sieht es mit eurer Unabhängigkeit aus, wo ihr doch auch Inserate in der Zeitung habt?
Wir nehmen Inserate, aber keine Subventionen. Und Inserate nehmen wir auch nicht von jedem. Was wir aber strikt ablehnen, ist die Vermischung von Inseratauftrag und damit verbundenem redaktionellem Gefälligkeitsjournalismus. Beim Augustin kann man sich keinen Artikel kaufen. Subventionen nehmen wir weder vom Land noch vom AMS, weil wir auf drei Gebieten völlig unabhängig bleiben wollen. Erstens auf dem Gebiet der sozialen Arbeit, zweitens auf dem Gebiet unserer eigenen Organisationsstruktur und drittens in unserem parteilichen Journalismus für die Menschen von unten, über den wir ja schon gesprochen haben.

Diesen Teil des Projekts haben wir ja noch gar nicht erwähnt. Was verstehst du unter Unabhängigkeit in der Sozialarbeit?
Weil wir im Unterschied zu den meisten Sozialeinrichtungen von den Leuten nichts verlangen. Wir haben nicht die Orientierung, dass sie in den regulären Arbeitsmarkt eingegliedert werden müssen. Würden wir vom AMS Geld erhalten, müssten wir uns verpflichten, dass wir pro Jahr soundso viele Verkäufer in den regulären Arbeitsmarkt integrieren. Und diesen Zwang wollen wir den Leuten nicht antun. Wir wissen, dass der Arbeitsmarkt derzeit sowieso die fittesten Leute freisetzt, und unsere Leute sind aus den verschiedensten Gründen nicht in der Lage, diese Tempogesellschaft mitzumachen.

Aus welchen Gründen zum Beispiel?
Da gibt es alle möglichen psychiatrischen Diagnosen; das sind vielfach Leute, die einfach nicht können. Und von uns gibt es für diese Menschen überhaupt keinen Druck, sich einzugliedern; andererseits können sie beim Augustin bleiben, solange sie wollen. Wir nehmen sie so, wie sie sind. Dabei erleben wir aber auch viele Integrationserfolge; viele Leute stabilisieren sich durch den Augustin, entweder durch das Verkaufen oder durch die Teilnahme an verschiedenen Projekten, die wir anbieten: etwa am Fußballprojekt „Schwarz-Weiß Augustin“ oder am Chorprojekt „Stimmgewitter“. Da gibt es viele individuelle Erfolge; aber nie zwangsweise, das kommt praktisch von selber. Dieser Zwang, die Leute zu integrieren, fällt bei uns völlig weg.

Kann man sagen, dass ihr den Leuten ihren Selbstwert wieder zurückgebt?
Die Leute wissen, dass sie mit ihrer Präsenz auf der Straße und in den Projekten lebenswichtig für das gesamte Projekt Augustin sind, dass wir auch von ihnen abhängig sind. Es gibt nicht dieses vormundschaftliche Verhältnis zwischen Sozialarbeitern und Klienten; das kannst du hautnah in unserem Vertriebsbüro erleben. Das heißt aber natürlich nicht, dass unsere Sozialarbeiter nicht helfen, wenn es Probleme gibt, nur fällt bei uns dieser Integrationsdruck weg.

Als weiteren Punkt hast du noch eure Organisationsstruktur genannt.
Wir sind als Verein organisiert und haben 13 Angestellte. In diesem Verein gibt es aber keine Hierarchie, keine Arbeitsteilung. Alle Entscheidungen, die wir im Augustin treffen, müssen Konsensentscheidungen sein. Die Journalisten müssen auch bei Fragestellungen, die zur Sozialarbeit gehören, mitdiskutieren, und umgekehrt die Sozialarbeiter bei redaktionellen Fragestellungen. Die Entscheidungen fallen dann im Plenum.

Und das funktioniert?
Das ist ein basisdemokratisches Experiment. Viele Leute sind verwundert, dass das funktioniert, einen Betrieb ohne Chef so kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Wir bekommen auch viele Einflüsterungen von Organisationsentwicklern, die sagen, dass das völlig uneffektiv sei. Wir müssten den Vertrieb vom Zeitungsmachen trennen, es müsste ein Gremium für den Vertrieb und eines für die Medien geben, denn wir produzieren ja auch noch Radio- und Filmbeiträge. Wenn es diese Gremien aber gäbe, bräuchten wir eine Koordinationsstelle darüber – und das wäre dann schon der Beginn einer Hierarchie. Wir wollen uns aber dieses Konsensprinzip, diese Cheflosigkeit und diese Basisdemokratie unbedingt erhalten.

Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Bürger machen Staat 2.0

Bürger machen Staat 2.0privat

Philipp Müller: „Durch Government 2.0 verliert der Staat sein Monopol auf Erstellung des Gemeinwohls. Entziehen kann er sich dem nicht. Wenn er nicht mitmacht, machen die Bürger es allein“, erklärt der Direktor für Public Management und Governance an der Salzburg Business School.

Bisher ist die Kommunikation zwischen Bürger und Staat großteils über die Massenmedien verlaufen. Die Technologie des Web 2.0 verändert die Art und Weise, wie in Zukunft Verwaltung und Politik passieren wird, drastisch. Der Bürger hat nun viel mehr Chancen, seine Meinung kundzutun. Denn im Web 2.0 kann jeder mit jedem kommunizieren. Nicht nur das, über offene Wertschöpfungsketten kann er auch immer öfter an Verwaltung und Politik andocken und mitarbeiten und -entscheiden. Für den Staat bedeutet das einerseits viele helfende Hände für Aufgaben, die er sonst nur schwer finanzieren könnte. Andererseits verliert er an Macht, und der Bürger gewinnt an Einfluss.

economy: Herr Müller, was ist Government 2.0?
Philipp Müller: Zunächst einmal, was ist es nicht: Es ist nicht einfach der Bürgermeister, der sich schnell einmal einen Account bei Facebook oder Twitter zulegt. Es ist auch nicht zum hundertsten Mal das Thema Bürgerbeteiligung, diesmal eben in einer digitalisierten Variante. Es ist viel mehr: Es ist ein neues strategisches Instrument beziehungsweise eine neue Form der Staatskunst – ermöglicht durch die Technologie des Web 2.0. Diese Technologie wird Gesellschaft, Politik und Wirtschaft genauso drastisch verändern wie die Technologie des Buchdrucks. Der Staat wird dann nicht mehr für den Bürger, sondern mit dem Bürger entscheiden.

Inwiefern verändert die Technologie des Web 2.0 die Staatskunst?
Der Staat stützt sich derzeit in der Kommunikation mit dem Bürger vor allem auf die Massenmedien: Wenige Sprecher erreichen damit viele Zuhörer. Im Web 2.0 dagegen kann jeder mit jedem sprechen. Und im Web 2.0 eröffnen sich auch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Es ermöglicht die verstärkte Nutzung offener Wertschöpfungsketten. Die gab es bisher auch, aber nur in einem sehr eingeschränkten Umfang, etwa wenn sich Eltern an der Verwaltung eines Kindergartens beteiligten. Offene Wertschöpfungsketten kennen wir auch aus der Wirtschaft, wenn etwa ein Autohersteller seine Kunden fragt, wie sie sich ihr nächstes Auto vorstellen und diese Wünsche in die Planung einfließen lässt. Government 2.0 aber ermöglicht durch seine digitalen Werkzeuge das Öffnen von wesentlich mehr Schnittstellen, an denen die Bürger an die Verwaltung und Politik andocken und mitreden, mitentscheiden und mitarbeiten können.

Wie Sie ja sagten, diese offenen Wertschöpfungsketten gibt es bereits. Was ist nun das Neue daran?
Anfang des 20. Jahrhunderts war die von Weber beschriebene Hierarchie die effizienteste Art, öffentliche Wohlfahrt bereitzustellen. Wir zahlen Steuern, damit werden Straßen gebaut oder Krankenhäuser betrieben. Diese öffentlichen Aufgaben werden von der Verwaltung wahrgenommen, die ihre Vorgaben wiederum von den politischen Entscheidungsträgern erhält. Je besser die Politik entscheidet und je besser die Verwaltung umsetzt, umso mehr Leistungen erhalten wir für unsere Steuern. Dabei ermöglicht die klar strukturierte Hierarchie mit ihren eindeutig zugeordneten Verantwortlichkeiten effiziente Verwaltung. Die Bürger wurden da zwar auch bisher immer wieder direkt miteinbezogen, etwa durch eine Volksabstimmung. Diese Formen der Partizipation sind aber kostenintensiv und erfordern einen hohen organisatorischen Aufwand. Die Werkzeuge, die uns das Web 2.0 zur Verfügung stellt, sind dagegen kostengünstig, und sie sind einfach in der Anwendung. Das ist der entscheidende Unterschied: Mit dem Web 2.0 können externe Akteure mit wenig Aufwand eingebunden werden.

Wer nimmt an so einer offenen Wertschöpfungskette teil?
Das sind folgende, sich teils überschneidende Gruppen: Experten, die ihr Fachwissen unentgeltlich zur Verfügung stellen, ähnlich wie das heute auch ein Experte tut, der sich von einer Zeitung interviewen lässt. Dann Bürger, die so etwas wie lokale Experten sind. Die wissen beispielsweise, wo in den Straßen die größten Schlaglöcher sind oder wo es im öffentlichen Raum zu Sachbeschädigungen gekommen ist. Die dritte Gruppe sind die Bürger als Betroffene, ihre Teilnahme sichert die Legitimität eines politischen oder eines Verwaltungsprozesses. Und zuletzt die sogenannten Crowds oder Massen; die erledigen unentgeltlich kleine, für sich betrachtet anspruchslose Aufgaben, die aber in ihrer Summe wichtig für das Gemeinwohl sind und sonst kaum finanzierbar wären.

Was könnten diese Massen so Bemerkenswertes leisten?
Mit Crowd Sourcing kann man tatsächlich Beachtliches erreichen. So hat der Guardian 2009 eine Website ins Leben gerufen, auf der die Bürger innerhalb weniger Monate über 220.000 Spesenbelege ihrer Abgeordneten überprüft haben. Das ist eine ganz wesentliche Kontrollfunktion, die sonst zu vertretbaren Kosten nur stichprobenartig durchgeführt werden könnte.

Zu einer anderen dieser vier Gruppen: Warum ist es nötig, durch Bürgerbeteiligung zusätzlich Legitimität herzustellen? Unsere Institutionen sollten doch schon hinreichend legitimiert sein?
Die Moderne war tatsächlich von einem starken Bewusstsein für Rechtsstaatlichkeit und staatliche Institutionen geprägt. In den letzten 30 Jahren hat aber die Postmoderne eine Skepsis gegenüber absoluten Wahrheiten und damit auch eine institutionelle Vertrauenskrise gebracht. Die Legitimität der Institutionen, die früher vorausgesetzt wurde, erschließt sich den Bürgern heute erst, wenn sie das Ergebnis ihrer Arbeit sehen. Die Bürger bewerten also Verwaltung und Politik nach ihrer Wirkung. Das Vertrauen der Bürger in Politik und Verwaltung gilt damit heute immer nur im Einzelfall.

Man lässt also den Bürger mitreden, zeigt so, dass man ihn ernst nimmt, und erwirbt dadurch sein Vertrauen.
Auch dadurch. Insgesamt zieht der Bürger sich zunehmend darauf zurück, was er erfühlen kann. Und das ist die Frage, ob er dem staatlichen Repräsentanten, der den jeweiligen Prozess managt, Vertrauen entgegenbringen kann. Damit wird authentische Kommunikation zum entscheidenden Faktor.

Wie authentisch kommunizieren heute die Repräsentanten des Staates?
Einzelne haben das immer schon gelebt. Im Moment erleben wir aber einen rasanten Kulturwandel hin zu einer offenen, hemdsärmeligen Weise, Politik und Verwaltung zu machen. Für die strategischen Entscheidungsträger wird es immer wichtiger, neue Formen von Schnittstellen zu den Bürgern zu entwickeln. Das ist in unserem juristisch geprägten System nicht einfach. Für den Einzelnen heißt es, locker zu sein, schnell Beziehungen aufzubauen und damit eine gute Gesprächsgrundlage zu schaffen.

Wie kann man im Web 2.0 authentisch auftreten?
Das ist natürlich eine Herausforderung. Als Handlungsanweisung formuliert: Lagert eure Kommunikation mit dem Bürger nicht an die PR-Abteilung aus – wenn ihr auf Facebook seid, dann schreibt eure Einträge selbst. Wenn ihr twittert, dann twittert selbst. Ich selbst biete in meinen offiziellen E-Mails einen Link zu meinem privaten Picasa-Webalbum an. Die strategische Idee dahinter ist, dass ich schneller Vertrauen aufbauen kann, wenn mein Gegenüber besser einschätzen kann, mit wem er es zu tun hat.

Damit wird das hohe Gut der Privatsphäre gegen den geldwerten Vorteil, durch glaubwürdiges Auftreten erfolgreich in der Karriere zu sein, getauscht.
Glaubwürdigkeit ist für Sie etwa kein hohes Gut? Und die Privatsphäre ist auch kein unumstößlicher Wert. Sie ist ein Kind der Moderne. Die Moderne hat uns diese Binaritäten wie privat und öffentlich, Arbeit und Freizeit, Staat und Wirtschaft, Wohlfühlen und Geldverdienen gebracht. Das Web 2.0 weicht diese scharfen Gegensätze nun wieder auf. Dabei stellt sich uns nicht mehr die Frage, ob wir das wollen – die richtige Frage lautet: Wie gehen wir damit um?

Der mündige Mensch ist gefordert.
Genau. Wer im Web 2.0 auftritt, braucht eine sehr klare Vorstellung davon, wie viel er von sich hergeben will und welche Konsequenzen das möglicherweise haben kann. Und es darf natürlich keinen Zwang geben, ein defensiver Ansatz muss genauso erlaubt sein wie ein offensiver.

Wird das Web 2.0 unser Verständnis von Staatlichkeit verändern?
Das Web 2.0 krempelt unsere Lebenswelt vollkommen um. Bedenken Sie, was diese Technologie in anderen Teilen unserer Gesellschaft bewirkt hat. Es gibt etwa ein Reisebürosterben, weil Webseiten einen großen Teil von deren Leistungen ersetzt haben. Die Musikindustrie, die Medienbranche und das Verlagswesen kämpfen gleichfalls mit Schwierigkeiten. Ebenso müssen wir an den Universitäten uns fragen, inwiefern wir noch relevant sind, welche Bereiche wir in Zukunft dem Web 2.0 überlassen müssen, aber auch, wie wir das Web 2.0 zu unserem Vorteil nutzen können. Und genau diese Fragen müssen sich auch Politik und Verwaltung stellen. Den Staat wird es immer geben, die Frage ist: Wie viel Staat wird es in Zukunft geben?

Der Staat verliert also an Macht und Einfluss.
Staatlichkeit hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder verändert – einmal war sie wichtiger, dann weniger. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben wir einen Höhepunkt erreicht: Niemals zuvor hat der Staat so viel vom erwirtschafteten Bruttosozialprodukt ausgegeben. Und an diesem Punkt kommt es nun zu einer Zäsur, der Staat verliert sein Monopol auf die Erstellung der öffentlichen Wohlfahrt. Weil die Web 2.0-Technologie Zusammenarbeit im Internet auf so kostengünstige und einfache Weise ermöglicht, können das andere jetzt auch. Sehen wir es positiv: Jetzt gibt es noch Handlungsspielräume, die Institutionen können ihre Zukunft noch mitgestalten. Und ich habe ja Beispiele genannt, wie der Staat die Energien und Fähigkeiten seiner Bürger nützen kann, um Aufgaben zu erledigen, die sonst sein Budget belasten oder einfach liegen bleiben. Es sollte auch nicht darum gehen, wer Macht gewinnt oder verliert, sondern wie wir maximalen öffentlichen Nutzen generieren können.

Wie soll der Staat auf diese Situation reagieren?
Der Staat muss sich ein neues Selbstverständnis zulegen. Er sollte sich in Zukunft als Manager der offenen Wertschöpfungsketten verstehen. Das ist übrigens auch eine Rolle, die mit sehr viel Einfluss verbunden ist.

Was muss dieser Manager können?
Zuerst muss er seine Prozesse transparent strukturieren, damit sie nachvollziehbar sind. Das dient der Legitimation dieser Prozesse. Dann muss er sicherstellen, dass die Bürger ohne Schwierigkeiten an den Prozess andocken können und sie zum Mitmachen animieren. Die Rolle des Animateurs wird eine sehr gewichtige Aufgabe sein, denn je mehr Menschen teilnehmen, desto höher ist die Legitimität des Ergebnisses. Daher müssen wir es für den Bürger auch immer spannend machen, wenn wir eine offene Schnittstelle zu ihm generieren.

Wie groß ist die Akzeptanz der Bürger?

In absoluten Zahlen nehmen einige Tausend Bürger an großen Projekten teil. In Prozent ausgedrückt ist das aber weniger beeindruckend, da bewegen wir uns im niedrigen einstelligen Bereich. Wir haben da dieselben Probleme wie in Vorinternetzeiten, auch da wurden Partizipationsrechte oft nicht ausreichend wahrgenommen.

Und besteht nicht auch die Gefahr, dass sich etwa die gebildeten Teile der Bevölkerung mehr als andere in den offenen Wertschöpfungsketten engagieren und das Ergebnis dann nicht die Interessenlage der Gesamtbevölkerung widerspiegelt?
Wir haben festgestellt, dass es bei neuer Technologie immer eine erste Usergruppe gibt, die nur einen sehr kleinen Teil der Gesellschaft abbildet. Das sind fast ausschließlich junge Männer aus den sogenannten heilen Familien, die über eine höhere Ausbildung verfügen. Das normalisiert sich aber im Laufe weniger Jahre, und die Nutzer der Technologie sind dann für die Gesamtbevölkerung repräsentativ. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für die proportionale Vertretung bei Meinungsbildungs- und Bürgerbeteiligungsprozessen im Internet gegeben. Andererseits, wenn wir einen Blick zurück in die europäische Geschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts werfen, haben immer wieder kleine Gruppen den gesellschaftlichen Diskurs strukturiert und damit in ihrem Sinn gelenkt. Diese Gefahr besteht also durchaus. Letztlich muss gesagt werden, dass wir ganz am Anfang der Ära des Web 2.0 stehen. Es ist noch nicht klar, in welche Richtung wir uns entwickeln werden. Offensichtlich ist heute nur die große Bedeutung dieser Technologie.

Im Web gibt es ja auch nicht wenige sinnfreie Zonen. Wie kann man den Bürger angesichts der vielen Ablenkungsmöglichkeiten zur sinnvollen Mitarbeit anregen?
Vielleicht braucht es eine Art Alphabetisierungskampagne, vielleicht sollten wir den Bürgern zeigen, wie sie die Neuen Medien sinnstiftend nützen können – in ihrem und im Interesse der Allgemeinheit. Andererseits – denken Sie nur an Projekte wie Wikipedia – zeigt das Internet als Gesamtheit seiner Nutzer eine hohe Fähigkeit zur Selbstorganisation und sehr, sehr viel Eigeninitiative. Vielleicht reicht es also auch, wenn der Staat die Entwicklung einfach beobachtet und nur bei bedenklichen Auswüchsen eingreift.

Nennen Sie mir bitte noch ein Beispiel, das zeigt, wie eine offene Wertschöpfungskette funktioniert.
Das wäre etwa das Modell Bürgerbeteiligungshaushalt – es kommt in der Originalform aus Brasilien. In den 90er Jahren wurde es in einer nicht digitalen Form in Städten wie Porto Alegre als radikaldemokratisches Experiment aus der Taufe gehoben. Den Bürgern wird einfach ein Teil des kommunalen Budgets zur Verfügung gestellt, und sie können selbst entscheiden, wie diese Mittel verwendet werden. Ein Ziel dabei ist, die Legitimität zu steigern. Andererseits wird damit auch die Kapazität erhöht, indem der Verwaltungsaufwand reduziert wird – damit kann also mehr Geld in die Projekte selbst fließen.

Gibt es auch in Österreich schon Bürgerbeteiligungshaushalte?
Nein. Aber in Deutschland wurde das Modell in einer abgemilderten Variante von Städten wie Köln, Hamburg, Berlin Lichtenfels oder Erfurt aufgegriffen. Die Bürger entscheiden nicht allein, sie entscheiden mit. Im Gegensatz zu Brasilien passiert das im Web 2.0.

Was wird da entschieden?
Da geht es nicht unbedingt um große Politik, manch einer wird es vielleicht als Kleinkram abtun. In Erfurt beispielsweise wurden mit den Mitteln, die im Rahmen des Bürgerbeteiligungshaushaltes zur Verfügung standen, zusätzliche öffentliche Toiletten errichtet. Aber das war eben das Ergebnis, das wollten die Bürger.

Meine Schlussfrage: Was passiert aber, wenn die Institutionen sich querlegen, wenn sie nur den Machtverlust sehen, der ihnen Government 2.0 bringt?
Government 2.0 funktioniert auf zwei Ebenen, innerhalb der staatlichen Institutionen und außerhalb. Wenn die Institution nicht mitmachen will, dann machen es die Bürger eben allein, etwa als eine private Initiative, die in einer Stadt Straßenschäden dokumentiert. Damit wird diese Stadt im schlimmsten Fall eine Getriebene, die sich ständig ihre Versäumnisse vorwerfen lassen muss. Das ist keine echte Alternative zu kooperativem Handeln.

Christian Stemberger, Economy Ausgabe 85-06-2010, 25.06.2010

Amtsschimmel 2.0

Amtsschimmel 2.0

Ein neuer Geist kehrt in die Amtsstube ein: Government 2.0. Während der Bürger von mehr Mitsprache, höherer Transparenz und kürzeren Amtswegen profitiert, kann die Verwaltung Kosten senken. Vorausgesetzt, die Ämter vernetzen sich stärker untereinander und straffen ihre Prozesse.

Dem Trend zur Vernetzung und Interaktion im Internet, oft mit dem Begriff Web 2.0 umschrieben, folgt nun auch die öffentliche Verwaltung. Government 2.0 heißt die neue Formel, die jeder gestandene Verwaltungsfachmann mit geschlossenen Augen herunterbeten können sollte.
Kritische Geister fragen sich schon heute, wie lange es dauern wird, bis auch Government 2.0 auf dem Friedhof der Modewörter landen wird. Doch genauso, wie Web 2.0 eine Welt beschreibt, in der wir moderne Technologie für neue Formen der Zusammenarbeit und der sozialen Interaktion nützen, zeigt Government 2.0 neue Möglichkeiten in der Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltung auf.

Neues Selbstbild
Der Begriff Government 2.0, mag er auch bald vergessen sein, deutet eine technologische Revolution an, die durchaus mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar ist. Ermöglichte die Druckerpresse die Verbreitung von Informa­tionen in eine Richtung, meist von oben nach unten, so fördern die 2.0-Technologien den demokratischen Gedankenaustausch zwischen Bürgern und Verwaltung sowie den Diskurs innerhalb der Verwaltungs­hierarchien.
Diese technologischen Möglichkeiten verbinden sich mit einem neuen Selbstbild der öffentlichen Verwaltung, die den Bürger nicht mehr als Bittsteller, sondern zunehmend als Kunden beziehungsweise Partner wahrnimmt.
Im E-Government nimmt Österreich schon seit Jahren eine internationale Spitzenstellung ein. Die benötigte Infrastruktur ist vorhanden, das Konzept der Bürgerportale befindet sich auf dem Siegeszug – jüngste Beispiele sind das Gesundheitsportal und das Unternehmensserviceportal. Die logischen nächsten Schritte sind die noch intensivere Vernetzung der Behörden und die Reformierung der Verwaltungsprozesse über alle Ämtergrenzen hinweg. Eine notwendige Grundlage für diese Neugestaltung wäre das interne Outsourcing aller IT-Prozesse von Bund, Ländern und Gemeinden in gemeinsame Servicecenter.

Kosten senken
Zentrale Dienste haben sich im Verwaltungseinsatz bereits bewährt – wie etwa das Gemserver+-Netz von Telekom Austria. Rund 60 Prozent aller oberösterreichischen Gemeinden nutzen diese Unified-Communications-Plattform und senken damit nicht nur die Betriebskosten, sondern eröffnen sich damit neue Möglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Außen­stellen und anderen Gemeinden.
Beim Umstieg auf eine zentral auf dem Gemserver+ betriebene Telefon­anlage fallen keine Startkosten an. Die Anlage bleibt stets auf dem neuesten Stand der Technik, und ein professioneller Support steht rund um die Uhr zur Verfügung. „Die Gemeinden profitieren von geringeren Kosten und vereinfachten Arbeitsabläufen“, so Christian Bauer, Marketingleiter bei Telekom Aus­tria, „dazu können nach Bedarf Telefon-Arbeitsplätze hinzugefügt oder entfernt werden.“
Die Telefonanlage bietet sämtliche Vorteile von Unified Communications, angefangen bei Anwendungen wie Faxintegration, Mailboxen oder Anrufumleitung bis hin zu Videokonferenzen. In näherer Zukunft wird Telekom Austria im Gemserver+-Netz auch die Integration von Mobiltelefonie und mobilen Arbeitsplätzen anbieten.
Das heute angebotene Leistungsspektrum des Gemserver+ deutet nur die Möglichkeiten an, über die das Gemeindeamt 2.0 verfügen wird. Auf allen Interaktionsschienen wie beispielsweise Bürger – Behörde, Bürger – Bürger oder Behörde – Mitarbeiter wird das Web 2.0 die Kommunikation und Zusammenarbeit optimieren. Heute schon vereinzelt vorhandene One-Stop-Shops kündigen eine radikale Vereinfachung der Amtswege an. Der Bürger wird für ein Verfahren nur mehr eine einzige Kontaktadresse ansteuern und sich den Hürdenlauf durch die Ämter ersparen. Das ist aber nur durch die Straffung der behördlichen Zuständigkeiten und den Ausbau der virtuellen Verwaltung machbar.

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Economy Ausgabe 84-05-2010, 18.06.2010

Rockmusik trifft Klimaschutz

Rockmusik trifft KlimaschutzEPA

Wer Bands wie die Rolling Stones oder Die Ärzte hört, ist Klimaschützer. Die Green Music Initiative macht Musik umweltverträglich. Es „grünt“ in der Branche, und wer kein welkes Blatt sein möchte, rockt klimafreundlich mit.

Zerrissene Jeans, gefärbte Haare und krachende Gitarrenriffs – sieht so Klimaschutz aus? Wenn es nach der Green-Music-Bewegung geht, schon. Das Umweltbewusstsein hält Einzug in die Musik- und Unterhaltungsbranche. Wo früher noch „No Future“ proklamiert wurde, wird heute auf Nachhaltigkeit und Kohlendioxidreduktion geachtet. Rocken gegen den Klimawandel? Immer mehr Bands verschreiben sich diesem Motto.
Den Stein des Anstoßes lieferte eine Studie der englischen Elite-Universität Oxford. Diese rechnete der britischen Musikindustrie vor, dass sie jedes Jahr 540.000 Tonnen Kohlendioxid (CO2) produziert. Das entspricht etwa dem CO2-Fußabdruck einer Kleinstadt von 54.000 Einwohnern oder dem Ausstoß von 180.000 Autos pro Jahr.
Erst reagierten darauf einzelne Bands wie etwa die Alterna­tive-Superstars Radiohead, die ihre Tournee 2008 „Carbon Neutral Tour“ nannten, beim Bühnenlicht circa 40 Prozent durch Energiesparlampen sparten und ihren Kohlendioxidausstoß durch Aufforstungsprojekte neutralisierten. Inzwischen beteiligen sich auch längst Urgesteine des Musikgeschäfts wie die Rolling Stones oder Pink Floyd an der rockigen Gärtnerei. Das Ziel: Verantwortung übernehmen und ein Zeichen setzen.

Green Music Initiative
Die Idee fand ihren Weg bald von der Insel auf den Kontinent, genauer gesagt nach Berlin. Jacob Bilabel gründete dort erst vorletztes Jahr die Green Music Initiative. Das Konzept lautet, Unternehmen aus der Kreativwirtschaft beim Einsatz grüner und nachhaltiger Energien sowie beim Reduzieren der Kohlendioxidemissionen zu unterstützen. „Der Klimawandel ist in den Köpfen der Menschen angekommen und mit ihm das wachsende Bewusstsein, dass jeder seinen Teil dazu beitragen muss, um ihm zu begegnen“, so Bilabel.
Es soll jedoch nicht einfach mit erhobenem Zeigefinger Verzicht gepredigt werden. Das beispielhafte Vorangehen von Akteuren aus der Musik- und Unterhaltungsbranche soll Vorbildcharakter haben und somit letzten Endes zum Nachmachen ermuntern; die Umsetzung innovativer Einfälle zur CO2-Reduktion wird mit einem Award ausgezeichnet. Speziell der erzieherische
Effekt steht im Mittelpunkt. Die Musikbranche hat „durch ihren Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung eine große Mitverantwortung bei der Erreichung der vereinbarten CO2-Reduktionsziele“, ist Bilabel vom großen Potenzial der Bewegung überzeugt.

Klimarevolte von unten
Laut der Oxford-Studie ist die Anreise der Fans zu den Konzertplätzen jener Prozess, der am meisten CO2 produziert, nämlich 43 Prozent. Für jeweils etwa 25 Prozent zeichnen der CD-Lebenszyklus von der Produktion bis zur Entsorgung sowie Musikveranstaltungen verantwortlich. Tourbusse, der Transport von Bandequipment et cetera spielen hingegen kaum eine Rolle.
Die Green Music Initiative, die auch eng mit renommierten wissenschaftlichen Instituten zusammenarbeitet, hat daraufhin mit dem Melt-Festival einen wichtigen Partner gefunden. Das Festival in der Nähe von Dessau in Sachsen-Anhalt, auf dem heuer unter anderem Massive Attack und Tocotronic spielen, will als Leuchtturmprojekt mit dem Ausbau attraktiver Anreiseangebote seine CO2-Bilanz verbessern und umweltfreundlicher werden.
Im Gegensatz zu Maßnahmen wie etwa dem letztjährigen Klimagipfel in Kopenhagen liegt der Green Music Initiative somit eher ein Bottom-up-Prinzip zugrunde. Mit ihrem Kohlendioxidausstoß liegt die Musikindustrie bei Weitem nicht mit an der Spitze der CO2-Sünder, dennoch nimmt sie ihre Verantwortung vermehrt wahr und versucht ein Zeichen zu setzen. „Jeder kann und soll einen Beitrag leisten“, lautet das Motto.

Punks als Musterschüler
Schon vor Gründung der Green Music Initiative kompensierte die deutsche Punkband Die Ärzte den CO2-Ausstoß der Jäzzfäst Tour in Zusammenarbeit mit dem Klimaschutzprojekt CO2OL. Dabei handelt es sich um einen Dienstleister, der bei der Berechnung verursachter CO2-Emissionen im Privathaushalt sowie in der Firma hilft. CO2OL bietet Vorschläge zu deren Reduktion sowie zur Neutralisation nicht weiter vermeidbarer Emissionen durch Aufforstungsprojekte. Auf der Homepage www.co2ol.de kann übrigens jeder seine CO2-Produk­tion berechnen und Angebote zu deren Neutralisation einholen.
Durch Aufforstungsprojekte wird CO2 absorbiert, indem es beim Baumwachstum wieder zu Sauerstoff und Kohlenstoff aufgespaltet wird. Von den Aufforstungsprojekten von CO2OL in Lateinamerika profitiert übrigens nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die miteingebundene Bevölkerung. Die Qualität und Nachhaltigkeit der Projekte wird dabei laufend von unabhängigen Institutionen geprüft.
„Die Kompensation von CO2-Emissionen durch nachhaltige und zertifizierte Klimaschutzprojekte ist nicht der Königsweg zur Rettung des Planeten, gehört aber zum Masterplan, wenn die Erde eine Zukunft haben soll“, heißt es seitens CO2OL. Na dann. „Are you ready to rock?“

Emanuel Riedmann, Economy Ausgabe 84-05-2010, 18.06.2010

Wider die Zersiedelung

Wider die ZersiedelungTU Wien

Zwei Drittel der Österreicher leben in Städten und Agglomerationen. Letzteres sind Regionen, die durch ein „verstädtertes“ Erscheinungsbild und städtische Lebensweisen gekennzeichnet sind. Nur mehr knapp fünf Prozent der Menschen sind in der Landwirtschaft tätig, der überwiegende Teil geht städtischen Berufen nach. Der Greißler hat zugesperrt, im Dorf wie in der Stadt, draußen auf der grünen Wiese haben sich Supermärkte, Fachmärkte und Diskonter angesiedelt. Sie sind urbane Fragmente in der Landschaft.
Doch die Grenzen zwischen Stadt und Land verschwimmen immer mehr. Ein typisches Beispiel ist das Vorarlberger Rheintal: Die Gemeinden sind zu einem Siedlungsteppich zusammengewachsen. Unmerklich überschreiten die Bewohner täglich die Gemeindegrenzen vom Wohnort zum Arbeiten oder Shoppen, auf dem Weg zu einem Amt oder zu Freunden. In ihren Entwicklungsleitbildern haben viele Gemeinden festgehalten: „Wir möchten Dorf bleiben.“ Hier kommen Wunschbilder zum Ausdruck: Tradition, überschaubare und leicht handhabbare Strukturen, Grün zwischen den Häusern, Nachbarschaftshilfe, man ist „per Du“.
Das Leben in der „Dorfstadt“ bietet städtischen Komfort, beansprucht aber viel Platz und produziert Umweltbelastungen. Die planerischen Aufgaben, diesen dynamischen Raum zu ordnen und zu gestalten, sind beträchtlich. Verkehrsverbindungen, zusammenhängende Grünzonen, die Stärkung der Ortskerne, die Standorte für Bildungs- und Sozialeinrichtungen und die Betriebsansiedelung brauchen eine regionale Planung, um der zunehmenden Zersiedelung und Zerstraßung eine lebendige, schöne und ressourcenschonende Siedlungslandschaft entgegenzusetzen. Was fehlt, ist eine gemeindeübergreifende Planungszuständigkeit. Gemeindekooperationen sind ein erster Schritt, um durch Planung auf „Stadtniveau“ die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen.
Sibylla Zech ist Raum-, Regional- und Landschaftsplanerin.

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Sibylla Zech, Economy Ausgabe 84-05-2010, 28.05.2010

Das Kunstwerk als Wertpapier

Das Kunstwerk als WertpapierEPA

Der internationale Kunstmarkt ist rund 20 Milliarden Euro jährlich schwer. Es ist ein Geschäft, das von Sammlern, Galeristen, Investoren und Kuratoren bestimmt wird, weniger von den Künstlern selbst. Doch Selbstvermarktung spielt eine wichtige Rolle.

Das teilweise romantische Klischee des genialen Künstlers, dem Zeit seines Lebens Anerkennung versagt bleibt und der verarmt in einem Dachstübchen stirbt, hat heute im modernen Kunstbetrieb mehr oder weniger ausgedient. Die zeitgenössische Kunstszene wird von den Mechanismen des internationalen Kunstmarktes bestimmt, und dieser ist rund 20 Mrd. Euro jährlich schwer.
Der offene Markt für Kunst ist eine Funktion des Kunstschaffens in demokratischen Marktwirtschaften. Kunst ist zur Ware geworden, wie eine Aktie, mit der Sammler, Galeristen, Auktionshäuser und Spekulanten versuchen, Geld zu machen. In der New Economy des Kunstmarktes begeben zeitgenössische Künstler ihre Werke wie ein Wertpapier, und die Preisbildung rund um ein Werk folgt einem komplexen Zusammenspiel zwischen den Protagonisten des Kunstmarktes und der Fähigkeit des Künstlers selbst, sich und sein Werk zu vermarkten.
Im Gegensatz zur eher solitären Kunstauffassung des „intellektuellen“ Künstlers, der den Kunstmarkt verachtet und Kunst als Selbstverwirklichung, als individuell-kreativen Akt, als verklausulierte Antwort auf Gesellschaft und Ästhetik sieht, ist der Kunstschaffende der Postmoderne eher Eklektizist, der die Grenzen zwischen Design, Popkultur und Hochkultur verschwimmen lässt.

Preisfindung heute
Ein wesentliches Merkmal des modernen Kunstmarktes ist es, dass die avantgardistische Rolle des Künstlers kaum mehr wichtig ist. Die Beurteilung von Wert und Relevanz eines Kunstwerkes hat nichts mehr mit einem Eliteverständnis zu tun, wie es zu Beginn der Moderne der Fall war. Heute werden Wert und künstlerischer Impetus eines Werkes von einem komplexen Netzwerk aus privaten Sammlern, Auktionshäusern, Kunstberatern, Museumskuratoren und Kunstkritikern bestimmt, und im Wesentlichen geht es darum, kurzfristige Modeströmungen von nachhaltigen Werken zu unterscheiden – im Sinne einer gewinnbringenden Geldanlage.
Den letzten Rekordpreis bei einer Auktion erzielte allerdings nicht das Werk eines aufstrebenden jungen Künstlers, sondern ein Bild von Pablo Picasso aus dem Jahr 1932, das kürzlich bei Christie’s für 106,4 Mio. Dollar (86,2 Mio. Euro) versteigert wurde. Damit holte Picasso den bisherigen Rekordhalter Alberto Giacometti ein, von dem eine Skulptur im Februar 2010 um 104 Mio. Dollar versteigert wurde.
„Wir beobachten, dass vor allem die großen Namen gesammelt werden: Picasso, Monet, Matisse, Rothko. Alles, was einen nachweisbaren Erfolg bei Auktionen hat, befindet sich auch im Fokus der Käufer“, sagt Simon Shaw, Vizepräsident des Auktionshauses Sotheby’s in New York.
„Das, was jetzt auf dem Kunstmarkt ist, kann man mit dem vergleichen, was auf dem Aktienmarkt als ‚Blue Chip‘ bezeichnet wird – Aktien von namhaften, soliden Unternehmen, die in den Indizes gelistet sind“, beschreibt Shaw die derzeitige Situation auf dem Kunstmarkt.

Kreditkrise fordert Opfer
Ab Mitte 2005 erlebte der Kunstmarkt einen wahren Boom, mit der Kreditkrise folgte 2008 jedoch die Ernüchterung in Form einer markanten Korrektur. Viele Auktionshäuser reagierten auf das negative Umfeld, indem sie weniger oder weniger teure Objekte in ihren Katalog aufnahmen oder dem Verkäufer keinen Mindestpreis mehr garantierten, erklärt Juliette Lim Fat, Analystin bei der Credit Suisse.
„Die Tage, als Kunstwerke in Sekundenschnelle den Besitzer wechselten, sind längst vorbei. Die Käufer wiederum zeigten sich zurückhaltender, weil ihr Vermögen 2008 und Anfang 2009 durch die Aktienbaisse geschmälert worden ist“, so Fat.
Ein wesentlicher Teil der Grenzkäufer von (zeitgenössischer) Kunst waren nämlich in den vergangenen Jahren erfolgreiche Hedgefonds-manager und sehr vermögende Privatpersonen aus Schwellenländern. Mit der Korrektur im Kunstmarkt boten sich allerdings Sammlern, die länger nicht aktiv und damit nicht am jüngsten Boom beteiligt waren, auch attraktive Gelegenheiten. Zudem bleibt den Interessenten nun mehr Zeit, sich mit einem Bild zu befassen, bevor sie eine Kaufentscheidung treffen.
Kunst, so Fat, sei für ein ausgewogenes Anlageportfolio weiterhin von Interesse, unter anderem zur Diversifizierung und Inflationsabsicherung.

Economy Ausgabe 84-05-2010, 28.05.2010

Digitales und Reales

Digitales und RealesPhotos.com

Die ersten von PEEK geförderten Projekte werden bereits umgesetzt.

Sieben Projekte wurden im Rahmen des ersten PEEK-Calls mit einer Summe von 1,8 Mio. Euro gefördert. Eines davon hat der österreichische Medienkünstler Peter Weibel, Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe und Lehrender an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, eingereicht.
Weibel will gemeinsam mit Künstlern und Forschern aus Wien und Graz mithilfe digitaler Medien eine Methodik entwickeln, Skulpturen zu schaffen, die den fortgeschrittenen Raumvorstellungen der Wissenschaft – etwa schwarzen Löchern oder der String-Theorie – entsprechen. Anlässlich einer Pressekonferenz Anfang Mai erklärte Weibel, dass PEEK „für österreichische Verhältnisse ein kleines Wunder“ sei, da die Wissenschaft der Kunst lange Zeit keine Innovationen zugetraut habe.

Kunst vom Chirurgen
Ein anderes Projekt der Wiener Universität für Angewandte Kunst widmet sich zeitgenössischen Praktiken des Porträtierens. Diese beschränken sich nämlich keineswegs auf künstlerische Formen, sondern beziehen die chirurgische Wiederherstellung des Gesichts mit ein. Ausgehend vom Selbstporträt und der Präsentation des Selbst im Alltag wird dabei das menschliche Ausdruckspotenzial untersucht.
Weitere Projekte sind „Quo vadis, Teufelsgeiger?“ (Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien), „Biornametics – Architektur und Muster aus der Natur“ (Universität für Angewandte Kunst, Wien), „Webschiffe, Kriegspfade“ (Institut für die Wissenschaften vom Mensch, Wien), „Die Choreografie des Klanges“ (Universität für Musik und darstellende Kunst, Graz) und „Public Space 2.0 – Räume, die der Vernetzung folgen“ (Universität für künstlerisches und industrielles Design, Linz).

Economy Ausgabe 84-05-2010, 28.05.2010

Die Lust am Überraschungseffekt

Die Lust am ÜberraschungseffektEPA

Der Instantfilm ist tot, lange lebe der Instantfilm: die Polaroid-Ära und ihre Auferstehungshelfer.

Weltweit eine Mrd. Sofortbildkameras soll es gegeben haben, als Polaroid 2008 seine Filmproduktion einstellte. Danach begann für Analogfotografen das große Horten von Restbeständen alter Filme – bis vor Kurzem.
Zu den Fertigungsstätten, die Polaroid aufließ, zählte auch eine Fabrik im niederländischen Enschede. Ein Team um den Wiener Künstler und Unternehmer Florian Kaps übernahm mit Unterstützung privater Investoren die gesamte Gerätschaft und sicherte sich für die nächsten zehn Jahre die Nutzung der Fabrik. Das Ziel: die Entwicklung eines neuen Instantfilms. Treffender Name des Vorhabens: The Impossible Project.
Sofortbilder werden ohne äußere Einwirkung entwickelt, der Film ist ein Hightechprodukt. Die teure Herstellung schlug sich auch zur Blütezeit der weiß eingerahmten Fotos in den 70er und 80er Jahren im Verkaufspreis nieder. Als die digitale Fotografie Ende der 90er Fuß fasste, brachen bei Polaroid die Verkaufszahlen weiter ein.

Künstlerisch und hochwertig
Ende April 2010 präsentierte The Impossible Project schließlich neue Filme: PX 100 und PX 600 Silver Shade/­First Flush sind experimentelle Schwarz-Weiß-Filme, die höchst sensibel auf Lichtmenge und Entwicklungstemperatur reagieren. Das Überraschungsmoment gilt dabei als Gegenbewegung zum Digitalen: Fotos kehren auf Papier zurück und sind kaum reproduzierbar. Über ihren Preis verkaufen sich auch die neuen Sofortbildfilme nicht. Acht Fotos der ersten, limitierten Auflage kosten 18 Euro. Weitere Filme sollen folgen. „Wir rechnen mit einem Markt von zehn Mio. Filmen pro Jahr“, nennt Kaps die Ziele. Edwin Land, dem Erfinder der Sofortbildfotografie und Gründer von Polaroid, hätte das Vorhaben wohl gefallen. „Unternimm kein Projekt, das nicht offenkundig wichtig und nahezu unmöglich ist“, soll er gesagt haben. Die Zielgruppe des Sofortbildfilms ähnelt jener der Lomo-Produktpalette, sei jedoch, so Kaps, „eher künstlerisch und hochwertig“ ausgerichtet.
Abseits künstlerischer Ambitionen spricht auch Nostalgie für die neuen, alten Filme. Viele potenzielle Kunden sind mit den Fotos aufgewachsen, die zum schnelleren Trocknen durch die Luft gefächelt wurden. Nicht zu unterschätzen dürfte auch der mächtige Markenname sein. Diesen darf The Impossible Project zwar nicht verwenden, aber das Team hält die Exklusivrechte für die Filmproduktion. Wenn Polaroid seine Pläne umsetzt und Ende 2010 wieder eine analoge Sofortbildkamera auf den Markt bringt, liefert Impossible die einzig verfügbaren Filme.

Economy Ausgabe 84-05-2010, 28.05.2010

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