Das große Hoffen auf Keuschheit
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In keinem westlichen Land werden mehr Schülerinnen ungewollt schwanger als in den USA, in keinem treiben mehr ab. Die Debatte über Form und Inhalt von Sexualunterricht an Schulen kommt dennoch nicht vom Fleck. Über das Politikum, Teenagern Verhütung beizubringen.
Auf wissenschaftliche Erkenntnisse zugunsten einer aus dem Bauch heraus empfundenen Moral zu pfeifen und Politik so stark mit Religion zu tränken wie seit hundert Jahren nicht mehr: Das waren nach Ansicht vieler die Grundzüge der US-Regierung unter George W. Bush. Eines der wichtigen Themen: wie Teenager an Sexualerziehung herangebracht oder vielmehr davon ferngehalten werden sollten. Kritiker sagen, dass dabei Realitätsverleugnung als politisches Programm verkauft wurde. Zu hoffen, dass Pubertierende möglichst bis zur Uni ihre Finger voneinander lassen, sei nun einmal keine Bildungsstrategie.
Die Vernachlässigung des Sexualunterrichts ist nur die Spitze des Eisbergs. Der Werte-Rechtsruck hin zu militanten Pro-Life-Befürwortern ist so stark, dass eine Pro-Choice-Einstellung von Politikern heute als geradezu „linke“ Gesinnung gilt. Allzu schnell entstand inmitten der Extrempositionen ein Wertekrieg, der, sobald er die Familie tangiert, unantastbar ist, und zwar auch für die Liberalen des Landes. Die Berkeley-Wissenschaftlerin Kristin Luker, die für ihr Buch When Sex Goes to School (Wenn Sex zur Schule geht) unter anderem politisch konservative Erziehende im ganzen Land befragte, kam zu dem Schluss: „Für diese Eltern ist die Art und Weise, wie ihre Kinder über Sex unterrichtet werden, weit wichtiger als Politik, Religion oder sogar Freundschaft.“
Enthaltsamkeit statt Wissen
Die Gräben im Land sind so tief, dass unklar ist, was der Extremismus eigentlich über den Bevölkerungsdurchschnitt aussagt. Auf der einen Seite dominiert die Angst vor Sexualerziehung, weil diese die Jungen auf Gedanken bringen könnte, die sie vorher noch nicht hatten. Entsprechend wird auf Enthaltsamkeit gesetzt, die in Extremfällen für Jugendliche die einzige Information bleibt, auf die sie sich berufen können.
Tatsächlich lässt es sich dagegen nicht einmal besonders gut mit wissenschaftlichen Studien argumentieren, zumal das Wissen über Verhütung alleine noch nicht ungewollte Teenager-Schwangerschaften verhindert. Was nicht weiter überraschend erscheint: Sexerziehung geschieht eben nicht durch Lehrer, sondern zumeist über die eigene Sozialisierung.
Zensierte Wörterbücher
Am anderen Ende der Skala wird kaum ein Widerspruch darin gesehen, wenn etwa Bristol Palin, die Tochter von Sarah Palin, der ehemaligen Gouverneurin von Alaska, als Schülerin ein Baby zur Welt bringt und dann für Enthaltsamheit eintritt. Auch tut Sarah Palins vermeintliches elterliches „Versagen“ ihrem Status als Aushängeschild der neuen konservativen Teabagger-Bewegung keinen Abbruch. Nicht von der Hand zu weisen ist indes, dass die USA die höchste Teenager-Schwangerschaftsrate aller westlichen Industrienationen aufweisen. Jedes 14. Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren wird schwanger. Ebenso führen die Vereinigten Staaten die Abtreibungsrate in dieser Altersgruppe an.
An absurden Beispielen selbst ernannter Moralapostel fehlt es nicht. Im kalifornischen Schulbezirk Menifee Union etwa wurden zu Jahresbeginn Wörterbücher von Merriam Webster (vergleichbar mit Duden) aus den Schulbibliotheken entfernt, weil ein Volksschüler darin auf eine „allzu bildliche“ Beschreibung des Begriffs Oralsex gestoßen war. Die Sprecherin des Schulbezirks erklärte, dass ihr Team die Wörterbücher weiter nach ähnlichen Beispielen durchkämmen würde.
Für Aufregung sorgte zuletzt eine Erhebung des Guttmacher Institute, wonach Teenager-Schwangerschaften just 2006, gegen Ende der zweiten Bush-Amtsperiode, um drei Prozent zulegten. Für Befürworter von schulischer Sexerziehung schien damit das Scheitern der Bush-Politik endlich auch mit Zahlen belegbar. Tatsächlich steckte die Bush-Regierung viel Geld in die Abstinenz-Kampagnen. Begonnen hat der Trend jedoch unter Bill Clinton. Und auch unter Barack Obama scheint er noch nicht zu Ende. So wird künftig neben „medizinisch korrekten und altersgerechten Informationen“ auch Enthaltsamkeit ihren Platz in den Aufklärungskampagnen haben.