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04. Juli 2024

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Einfach und kurz, aber aha

Einfach und kurz, aber ahaEPA

Intelligenz macht zwar angeblich sexy, hat aber einen Kommunikationsfehler: Sie ist schwer verständlich. Müssen wir diesen Umstand wirklich einfach so hinnehmen? Und sind wir tatsächlich immer selber schuld, wenn wir etwas nicht verstehen?

Kennen Sie diese Situation? Sie blättern in einem komplizierten Fachbuch oder hören, wie ein Politiker im Fernsehen verschachtelte Sätze von sich gibt, und wagen kaum auszusprechen, was sie sich daraufhin denken. Denn die monosyllabische Antwort beeindruckt weder inhaltlich noch macht sie klanglich viel her: „Hä?“ Wer sich also auch schon einmal gewünscht hat, wichtige Informationen einfacher formuliert und in mundgerechten Happen zu bekommen, schätze sich glücklich, denn er bekommt Rückendeckung von unvermuteter Seite: von der Philosophie. „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“, verlangte der in Wien geborene Philosoph Karl Popper. In einem unter dem Titel Wider die großen Worte veröffentlichten Brief sah er klare Formulierungen als wichtige Aufgabe der Philosophie und legte das Rezept diverser Scharlatane auf diesem Gebiet offen: „Schreibe schwer verständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialitäten hinzu. Das schmeckt dem Leser, der geschmeichelt ist, in einem so ‚tiefen‘ Buch Gedanken zu finden, die er selbst schon einmal gedacht hat.“

Warum nicht einfach einfach?
Noam Chomsky, Professor für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology, gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart. Auch er stellt sich gegen philosophische Phrasendrescherei und gegen Schriften, bei denen sich sämtlicher Ehrgeiz des Autors rein in der Länge seiner Sätze anstatt in deren verständlicher Formulierung widerspiegelt.
Chomsky hat eine recht pragmatische Erklärung für dieses Phänomen: „Es gehört ja (...) zur intellektuellen Berufung, sich eine Nische zu schaffen und möglichst dafür zu sorgen, dass niemand einen versteht; anderenfalls ist man nichts Besonderes. Man muss sich seine Unverständlichkeit hart erarbeiten, um die Grundlage für eigene Macht und Privilegien zu schaffen.“
Wer also nicht genug Neues zu sagen hat, muss darauf achten, dass er es dafür möglichst kompliziert sagt, um die einzige Anlaufstelle auf diesem Gebiet zu bleiben, sich ein Deutungsmonopol aufzubauen und zu erhalten. Zur Ausdrucksschwierigkeit kommt somit die Angst, verstanden zu werden, hinzu.
„Viersilbige Wörter machen mich misstrauisch, weil ich wissen möchte, ob man das, worum es geht, nicht auch mit Einsilbern sagen kann“, gesteht Chomsky. Den Beweis, dass es meistens tatsächlich einfacher geht, liefert wiederum Popper. In seinem Brief „übersetzte“ er Zitate aus einem Werk des Philosophen Jürgen Habermas.
„Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefassten, aus dem sie selbst besteht“, schrieb Habermas. Schämen Sie sich nicht, wenn Sie diesen Satz jetzt noch einmal lesen müssen. Die Formulierung des Satzes ist tatsächlich wesentlich komplizierter, als es der Inhalt an sich erfordern würde. So lautete Karl Poppers Übersetzung schlicht, aber exakt:„Die Gesellschaft besteht aus den gesellschaftlichen Beziehungen.“
Laut dem englischen Sprachphilosophen Paul Grice (1913–1988) besteht erfolgreiche Kommunikation aus beidseitiger Kooperation. Seinem Kooperationsprinzip legt er mehrere Regeln zugrunde. Das Gesagte muss demnach so ausgedrückt werden, dass es auch verständlich ist. Unklarheit, irrelevante Informationen, langatmige und komplizierte Formulierungen oder Unwahrheiten sind „verboten“.

Gegen die „Spielregeln“
Regelbrüche haben immer einen Effekt. Dieser kann unterhaltsam sein, wie etwa, wenn ein Kind auf die Frage „Wie war die Schularbeit?“ mit „Ist das Wetter heute nicht schön?“ antwortet. Komiker arbeiten teils ganz bewusst mit diesen Regelbrüchen, um eine Pointe aufzubauen. In anderen Fällen können konstante Regelbrüche aber auch zur Schaffung einer Art Nische dienen und einem – wie Chomsky sagen würde – „Scharlatan“ zu Macht und Prestige verhelfen.
Auch in der Politik werden Grices Maximen erwartungsgemäß strapaziert. Gerade bei unangenehmen Fragen lässt sich oft beobachten, wie die Antwort durch unnötige Ausschweifungen hinausgezögert wird – und schließlich gar nicht kommt. Wissenschaftlich gesehen reicht eine Ausschweifung von sieben bis zehn Sekunden, bis wir die Frage vergessen haben. Andererseits haben kryptische Formulierungen den Vorteil, dass sie inhaltlich wenig Angriffsfläche bieten. Das erklärt, warum sich in die Enge getriebene Politiker in der Regel unverständlicher ausdrücken als sonst.
Natürlich kann nicht alles einfach ausgedrückt werden, dazu ist die menschliche Sprache nicht exakt genug. Aufwendige Um- oder Beschreibungen sind gerade bei neuartigen Konzepten oft unumgänglich. Dennoch ließe sich in vielen Bereichen erfolgreicher kommunizieren, würde man mehr auf Einfachheit und Bescheidenheit setzen und zumindest ein gesundes Misstrauen gegenüber langen Schachtelsätzen pflegen.

Emanuel Riedmann, Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Kleine Verlage mit großen Büchern

Kleine Verlage mit großen BüchernDPA/Rumpenhorst

Ohne öffentliche Förderungen ist es für heimische literarische Verlage fast unmöglich zu überleben. Warum man trotzdem einen Verlag gründet, hat mehr mit Qualitätsansprüchen als mit Hoffnung auf kommerziellen Erfolg zu tun.

„Viele Verleger sind Idealisten, denen es darum geht, ein gutes Programm zu machen“, sagt Ralph Klever. Sein eigenes Programm stellt der Verleger seit knapp zwei Jahren zusammen. Zuvor arbeitete er 14 Jahre als Lektor in der Verlagsbranche, bis er im Frühjahr 2008 seinen Verlag gründete: den Klever Verlag.
Autoren wie die Heimrad-Bäcker-Preisträgerin Waltraud Seidlhofer und junge Stimmen wie Ann Cotten und Robert Prosser sind bereits in dem Wiener Kleinverlag erschienen, 15 Titel hat Klever bisher verlegt. Der Verlag ist ein Ein-Personen-Unternehmen, nur manche Dinge wie die Cover-Gestaltung sind ausgelagert. „Der Vorteil eines kleinen Verlages ist die Überschaubarkeit und die Möglichkeit zu improvisieren, was aber auch ein Nachteil sein kann“, sagt Klever.

Keine Belletristik ohne Förderung
394 Verlage sind im aktuellen Verlagsführer Österreich registriert. Aufgenommen wird, wer die gewerberechtliche und aktive Ausübung der Verlagstätigkeit erfüllt. „Ein Großteil der österreichischen Verlage sind Kleinverlage“, sagt Herausgeber Michael Schnepf. Und auch die großen österreichischen Verlage haben im internationalen Vergleich kleine Ausmaße: „Wir haben nicht so große Zugpferde wie etwa die Schweiz mit Diogenes.“
Vor allem Literaturverlage kommen ohne Fördermittel kaum aus. Der österreichische Markt ist beschränkt, in Deutschland Fuß zu fassen nicht einfach. Kleinere Verlage sind daher oft von öffentlichen Unterstützungen stärker abhängig als von den Marktbedingungen. Allein die Druckkosten seien über die Einnahmen aus dem Verkauf schwer zu bewältigen, erzählt der Verleger Ralph Klever. Und: Richtig gut leben könne man vom Büchermachen ohnehin nicht.

Nischen finden
Warum man trotzdem einen Verlag gründet, hat mehr mit der Liebe zur Literatur und gut gemachten Büchern als mit der Hoffnung auf kommerziellen Erfolg zu tun. „Die Autoren sollen mit den Büchern, die wir machen, zufrieden sein“, sagt Klever. Eine eigene Programmnische zu finden, spiele für Kleinverlage eine wichtige Rolle. „Wir sind ein reiner Literaturverlag mit zwei Schienen: Essayistik und Literatur.“
Eine Nische hofft auch der Welser Mitter Verlag für sich entdeckt zu haben – die intermediale Literatur. Eine erste Anthologie, die sich dem Miteinander von Text und Fotografie widmet, erscheint Anfang März unter dem Titel Verschlusslaute, eine Zeitschrift soll folgen. „Wir versuchen, mit intermedialen Texten in eine Nische zu gehen, in der wir noch allein sind, und hoffen, diese ausbauen zu können. Das sind Wege, die ein Kleinverlag gehen muss, wenn er wahrgenommen werden will. Neue Wege sind immer mit einem Risiko verbunden; man weiß nicht, wie man aufgenommen wird“, sagt Alfred Gelbmann vom Mitter Verlag. Gemeinsam mit seiner Frau hat er 2006 den Verlag gegründet. Bislang ist im Mitter Verlag Lyrik und Prosa österreichischer Gegenwartsautoren, darunter Erich Wolfgang Skwara, erschienen. „Es erfüllt mich mit Freude, ein Buch zu machen. Wir sind kein wirtschaftliches Unternehmen, sondern ein literarisches“, sagt Gelbmann über seinen Verlag.

Im siebenten Jahr
„Was ein Kleinverlag ist, da gibt es verschiedene Definitionen, wir sehen uns nach wie vor als Kleinverlag“, sagt Stefan Buchberger vom Wiener Luftschacht Verlag. Zwölf Titel erscheinen pro Jahr, der Verlag wurde vor sieben Jahren gegründet und hat mittlerweile in der Branche einen bekannten Namen – bis hin nach Deutschland. „Es hat uns sehr geholfen, dass wir uns dort schon früh mit der Gruppe unabhängiger Verlage zusammengetan haben“, sagt Buchberger, der gemeinsam mit Jürgen Lagger den Verlag betreibt. Geholfen hat anfangs auch die Anthologie des FM4-Nachwuchsliteraturwettbewerbs „Wortlaut“, die jährlich bei Luftschacht erscheint. Lukas Meschik wurde von Luftschacht über den Wettbewerb entdeckt. Im März erscheint das zweite Buch des 21-Jährigen, dessen Debüt auch im deutschen Feuilleton rezensiert wurde.
Programm ist bei Luftschacht, was stimmig ist. Neben Romanen, längeren Erzählungen und Anthologien finden sich die Sparten Comic und Kinderbuch im Verlagsprogramm. Angemessen verpackte Bücher, die einen Anspruch haben: „Ich möchte nichts machen, was irgendwann peinlich ist, dann könnte ich gleich in einer Bank arbeiten.“

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Anna Weidenholzer, Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Auskenner unter sich

Auskenner unter sichFM4

Ich werde (aus dubiosen Gründen) bei Twitter öfters von Mode-Bloggerinnen geaddet. Ich sehe mir deren Seiten dann gerne an und stelle nicht nur fest, dass es davon selbst im kleinen Österreich eine erstaunliche Menge gibt, sondern vor allem, dass ich nur Bahnhof verstehe: Es ist eine sehr hermetische Welt, in der sich diese Expertinnen bewegen. Sie schreiben in einer Fachsprache, die sich wiederum nur anderen Expertinnen erschließt. Trotzdem funktioniert das System: Die Welt der Mode-Berichterstattung ist mittlerweile auf diesen Blogs aufgebaut. Diese anschaulichere und doch so fremde Medien-Nische ermöglicht mir einen wertfreien Blick auf die eigene Philosophie, die eigene Strategie und die Frage, ob Nische (beziehungsweise Nischen-Politik) tatsächlich gleich Nische ist.
Im Regelfall steht „eine Nische bedienen“ nämlich für den Transfer von Herrschaftswissen, egal ob es sich dabei um das Web-Angebot des Wall Street Journal oder um Modepilot.de handelt. Auskenner geben ihre Information an Verwender weiter, die daraus Nutzen ziehen. Einen aufklärerischen Anspruch haben diese Produkte nicht, sie folgen der klassischen Verwertungslogik des Kapitalismus; auch wenn sie noch so nischig daherkommen.
Wenn die Nische, die man belegt, jedoch einen kulturellen Anspruch hat, dreht sich das Bild wie die Kulisse in einem Castorf-Stück. Wenn man – wie FM4 – Jugend- und Popkultur nicht als Produkt und Verkaufsmodell, sondern als Zugang, als grundlegende „Attitude“ betrachtet, verliert sich das klare Geschäftsmodell schnell im Diffusen. Weshalb es dann auch logisch ist, dass diese Leistung (das Schärfen von Blickwinkeln, das Bereitstellen von Tools zur Durchforschung neuer interessanter Welten abseits des Mainstreams und der Appell an die lebenslange Neugier) nur innerhalb eines öffentlich-rechtlichen Auftrags angeboten werden kann.
Martin Blumenau ist FM4-Gründungsmitglied, Chief Coordinator, Moderator und Blogger.

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Martin Blumenau, Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Der ewige Konkurrenzkampf der (sogenannten) Qualitätszeitungen Standard und Presse.

Der ewige Konkurrenzkampf der (sogenannten) Qualitätszeitungen Standard und Presse.

Kammerwahl: Stellenwert von Kleinunternehmen.

Was macht ein Qualitätsmedium aus? Ein Jahr nach der letzten Erörterung dieses Themas in economy haben wir dazu wiederum mit über 30 Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik und Werbung gesprochen. Von Beginn an reduzierten sich die Gespräche dann aber auf Die Presse versus Der Standard. Bei der Presse wird ein „täglich vielseitiger und internationaler Wirtschaftsteil“ gelobt, beim Standard „besteht der Wirtschaftsteil fast nur mehr aus Kurstabellen von Investmentfonds“. Der Presse werden „das Aufgreifen von nicht alltäglichen Themen“ sowie „gut recherchierte Artikel“ und „viel Lesestoff, besonders am Wochenende“ attestiert. Am Standard werden „austauschbare Allerweltsthemen“, eine „zunehmend boulevardeske Sprache“ und „schlecht recherchierte Storys“ sowie das „Verschwinden der Grenzen zwischen objektiven Fakten und tendenziöser Meinung auch in normalen Berichten“ kritisiert. Auch wenn diese Meinungen nicht repräsentativ sind, ein Trend kann daraus abgeleitet werden.
Wie schauen nun die Reichweiten der beiden Medien aus? Die letzten Zahlen aus der Mediaanalyse weisen für den Standard 421.000 Leser aus, gegenüber 265.000 Lesern für Die Presse. Der Standard liegt also deutlich voran – was Michael Fleischhacker von der Presse nicht so sieht. Er bezeichnete die Mediaanalyse als „sinnfreie Methode zur Erhebung von Reichweiten“ und sieht eine Unschärfe bei der Erhebungsmethode durch den Einfluss von Derstandard.at. Diese Sichtweise teilen auch Werbungstreibende: „Die Strahlkraft des Online-Standard wirkt sich sicher positiv auf die Reichweitenerhebung bei der Printausgabe aus. Wir berücksichtigen das bei unseren Planungen und beziehen hier auch die Auflagen-Werte mit ein“, so der Mediaeinkäufer einer großen Schaltagentur. Das scheint sinnvoll: In Relation Reichweite zu Zahlen der Auflagenkontrolle (Standard: 112.000 Druckauflage, Presse: 108.000) kommen rund zweieinhalb Menschen auf eine Presse. Hingegen müssten rund vier Menschen einen (gedruckten) Standard lesen. Die Qualität von Leistungserhebungen bei Medien ist aber eine andere Geschichte.
Wahlen zur Vertretung von unternehmerischen Interessen stehen an. In den kommunikativen Auftritten der Wirtschaftskammern spielen nahezu nur Industriebetriebe wie ÖBB, Siemens oder Steyr eine Rolle. Klein- und selbstständige Unternehmer sind anscheinend nicht existent. Obwohl laut Christoph Matznetter (SPÖ) im Kurier „diese kleinen Selbstständigen mittlerweile die zweitstärkste Gruppe von Sozialhilfeempfängern sind, mit Pfändungen zugepflastert wie ein k.&k. Stabsoffizier“. Auch Volker Plass, Bundessprecher der Grünen Wirtschaft, ortet großen Aufholbedarf seitens der Wirtschaftskammer in der Wahrnehmung von Klein- und Einzelpersonenunternehmen. „Die von der Kammer getrommelte Selbstständigenvorsorge ist ein inadäquates Modell, insbesondere im Alter muss es eine Grundsicherung geben. Es geht auch nicht darum, ob der erste Mitarbeiter oder eine kleine Beratung gefördert wird, das ist der Vollflop schlechthin“, so Plass im Kurier. Und zum Unterschied zwischen Groß- und Kleinunternehmen: „Der klassische Unternehmer strebt nach Profit. Einzel- und Kleinunternehmen wollen sich selbst verwirklichen, aus Liebe zur Arbeit und zur Selbstständigkeit.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Zu halber Tat mit halben Mitteln

Zu halber Tat mit halben MittelnAPA/Robert Schlager

2002 sollte die Wende für die Unis bringen. 2010 kämpfen sie unvermindert gegen Geldmangel.

Sieben Jahre nachdem Österreichs Unis in die Selbstständigkeit entlassen wurden, besetzen Studenten das Audimax der Universität Wien. Sie protestieren gegen Bildungsabbau und Zugangsbeschränkungen. 60 Tage nach Beginn der Aktion lässt das Rektorat den Hörsaal räumen, aus Sicherheitsgründen wie es heißt. Erreichtes Ziel: 30 Mio. Euro aus einer Reserve des Wissenschaftsministeriums und eine öffentliche Diskussion, die aufgeheizt, aber den Anliegen der Studenten nicht allzu gewogen scheint.

Studentenansturm
2008 studierten 74.000 Studenten an der Wiener Hauptuni. Heuer sind es 85.000. Hörsäle platzten davor schon aus allen Nähten. Fächer wie Psychologie und Publizistik sind überlaufener denn je. „Es fehlt an der Planbarkeit im Studienbereich“, erklärt Universitätssprecherin Cornelia Blum. Die enorme Zunahme an Inskribierten wird auf den weitgehenden Wegfall der Studiengebühren zurückgeführt.
Finanziell abgegolten, so Blum, würde den Unis der Studentenansturm nicht. Diese fordern seit Langem eine Studienplatzfinanzierung, wie sie bei den Fachhochschulen im Einsatz ist: Die Universitäten würden vom Staat je Student bezahlt. Hans Sünkel, Chef der Österreichischen Rektorenkonferenz, ist zuversichtlich, dass das Wissenschaftsministerium das Thema ernst nimmt. Die nächsten Leistungsvereinbarungsverhandlungen, in deren Rahmen das Ministerium mit den Universitäten dreijährige Globalbudgets ausverhandelt und im Gegenzug einen Anforderungskatalog vorlegt, werden im Jahr 2013 stattfinden. Bei ihnen könnte die Studienplatzfinanzierung zum zentralen Thema werden. Voraussetzung dafür, so Sünkel, sei allerdings eine Kosten-Leistungsrechnung. Und die gibt es an den Unis noch nicht.

Ins Zeug gelegt
Etwas weniger gedrängt geht es an der Technischen Universität (TU) Graz zu. In den letzten sechs Jahren stiegen die Studentenzahlen um jeweils rund fünf Prozent an. Im vergangenen Jahr legten die Raten um mehr als das Doppelte zu. Die Folgen auch hier: Knappheit bei Räumlichkeiten und Infrastruktur. Voraussetzung, um mehr Studenten an die Universität zu holen, könnten „erheblich höhere Studiengebühren sein“, sagt Sünkel, der Rektor der TU Graz ist: „Mehr jedenfalls als 720 Euro. Der Betrag wird im Ausland mitunter als lachhaft bezeichnet.“ Unter anderem in China sei das Interesse an österreichischen Studienplätzen groß: „Viele würden kommen wollen und wären auch bereit, deutlich mehr Geld bezahlen“, erklärt der Rektor.
Innerhalb einer gewissen Bandbreite sollten die Unis selbst bestimmen können, wie viel sie Studenten in Rechnung stellen. „Im Rahmen der Autonomie gibt es Bereiche, die nichts mit Autonomie zu tun haben. Die Höhe der Studiengebühren gehört dazu“, kritisiert Sünkel. Finanziell stehen die Grazer im österreichischen Vergleich aber gut da. Die Fremdmitteleinwerbungen konnten in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt werden. Erfolgsgeheimnis seien neben der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung bis 2008 die motivierten Forscher: „Die Wissenschaftler haben sich gewaltig ins Zeug gelegt“, so der Universitätsleiter.

Kollektivvertrag neu
Jahrelang gerungen wurde um eine Reform im Beschäftigungssystem der Universitäten. Seit Oktober 2009 ist der neue Kollektivvertrag schließlich in Kraft. Eingeführt wurde damit ein Karrieremodell, das dem Tenure-System in den USA ähnelt. Assistenzprofessoren werden nach fünf Jahren einer Leistungsevaluierung unterzogen. Bei positivem Ausgang geht das Arbeitsverhältnis in ein unbefristetes über. Auf diesem Weg soll Jungwissenschaftlern eine gewisse Planbarkeit ihres Karriereweges ermög­licht werden.
Kritik am Uni-KV kommt unter anderem von Rudolf Grimm, Professor für Experimentalphysik an der Universität Innsbruck und Wissenschaftler des Jahres 2009. Weil für die Besetzung einer Laufbahnstelle kein Berufungsverfahren vorgeschrieben sei, könnten Personalentscheidungen je nach Handhabung der einzelnen Universitäten „von einer oder wenigen Personen“ getroffen werden. „Da sind dann viel zu viele Eigeninteressen im Spiel, und es kommt doch wieder zur Abhängigkeit“, zeigt sich Grimm besorgt. Sünkel moniert, dass die zahlreichen neuen Inhalte des Kollektivvertrags, darunter etwa ein Sabbatical, nur schwer zu finanzieren seien, zumal der Bund nur einen Teil der Kosten übernimmt. „Da könnte man fast Grillparzer zitieren“, sagt Sünkel: Österreicher, die „auf halben Wegen und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft“ streben.

Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Zuverlässige Business-Software

Zuverlässige Business-SoftwarePhotos.com

Mit einem neuen Software-Angebot unterstützt IBM Unternehmen bei der Entwicklung innovativer Software-Produkte und Dienste sowie bei der Integration der Entwicklung in praktikable und agile Prozesse. Die Zeichen stehen auf Vereinfachung immer komplexerer Anwendungen.

Von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt: Um den langen Entwicklungsprozess der Produkte erfolgreich zu bewältigen, müssen Software-Architekten und -entwickler verschiedenste Design- und Compliance-Kriterien, Industrie- und Kompatibilitätsstandards erfüllen sowie einen zuverlässigen Datenaustausch zwischen Design- und Entwicklungsteams sicherstellen. Denn angesichts immer komplexerer Produkte, die mit verschiedenen Komponenten wie anderen Anwendungen, Online-Diensten oder auch global verteilten Nutzern in Verbindung stehen, benötigen Unternehmen einen umfassenden Ansatz in Software-Design und -Entwicklung. Im wachsenden Sektor der nachhaltigen Energien beispielsweise müssen hoch entwickelte Windturbinen, Kontrollstationen, Stromerzeugungsanlagen, Stromnetze und Versorgungsunternehmen als Einheit zusammenarbeiten, um sauberen Strom an die Haushalte liefern zu können.
„Software ist der unsichtbare Faden, der smartere Produkte erst möglich macht“, erklärt Andreas Stejskal, Direktor IBM Software Group Österreich. „Das erfordert einen bislang unbekannten Koordinationsaufwand zwischen den Unternehmen, Partnern und Kunden über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. Mithilfe branchen­übergreifender Erfahrung, Services rund um Geschäftstransformationen und Software-Lösungen kann IBM Unternehmen bei diesen Herausforderungen unterstützen.“

Zahlreiche Erweiterungen
Unternehmen benötigen einen übergreifenden Blick auf ihre Lösungsarchitektur und IT-Infrastruktur, um Prozesse zu verbessern und unterschiedliche Szenarien zu verwalten. IBM Rational System Architect ermöglicht zudem Wirkungs­analysen, um die Auswirkungen von Veränderungen auch adäquat abschätzen zu können.
Erweiterungen von IBM Rational Doors Web Access helfen Unternehmen dabei, neue Produkt- und Projektanforderungen über eine einfache Webbrowser-Schnittstelle zu erstellen und die Erfüllung entscheidender Design-Kriterien und Vorgaben zu überprüfen. IBM Rational Software Architect for Websphere Software hilft Entwicklern, die bisher kaum Erfahrung mit serviceorientierten Architekturen (SOA) hatten, in kurzer Zeit SOA-Lösungen zu entwickeln, sie mit verbreiteten intelligenten Geräten zu verbinden und deren Kompatibilität sicherzustellen.
IBM Rational Software Architect ermöglicht auch Design und Entwicklung von Kommunikationsdiensten der nächsten Generation, wie „Click-to-Call“-Eigenschaften, integrierte Sprachkommunikation, Video und Web.
Erweiterungen von IBM Rational Rhapsody steigern die Zusammenarbeit von Entwicklungs- und Qualitätssicherungsteams und verbessern damit in weiterer Folge Spezifikationen sowie die Erfassung und Dokumentation von Systemarchitektur-Designs.

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Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Optimierungen mit Potenzial

Optimierungen mit PotenzialPhotos.com

Wer die Prozesse im eigenen Unternehmen nicht kennt, kann sie nicht verbessern und verliert daher an Reaktionsgeschwindigkeit und Wettbewerbskraft. Die Lösung: innovative Analysetechniken à la Process Intelligence.

Gerade in turbulenten Konjunkturzeiten ist Agilität ein unabdingbarer Faktor für den finanziellen Erfolg eines Unternehmens. Nur wer in der Lage ist, seine Unternehmensprozesse zu vermessen, erkennt den Handlungsbedarf, um im Wettbewerb zu bestehen. Das Geschäftsprozessmanagement (Business Process Management – BPM) ist im Umfeld der Unternehmenslösungen nun keine neue Thematik. Das gilt insbesondere für SAP-Anwendungen, deren Referenzprozesse als Aris-Modelle mit der Lösung ausgeliefert werden.
Im Rahmen der kundenspezifischen Anpassungen lassen sich diese an den konkreten Prozess­anforderungen eines Unternehmens ausrichten, wobei im Rahmen der Modellierung kompletter End-to-End-Prozesse aus betriebswirtschaftlicher Sicht in der Regel SAP-fremde Prozesselemente mit einbezogen werden. Die SAP-relevanten Teile werden im Anschluss für das weitere Vorgehen bis hin zur Inbetriebnahme in den SAP Solution Manager überführt.

Innovative Analysen
Im produktiven Einsatz entwickeln SAP-Anwendungen jedoch ein gewisses „Eigenleben“. Wünsche aus den Fachabteilungen und betriebliche Notwendigkeiten führen mit der Zeit dazu, dass die einst formulierten Soll-Prozessmodelle und die real „gelebten“ Geschäftsprozesse immer weiter auseinanderklaffen. Ohne die Kenntnis der Ist-Prozesse lässt sich jedoch keine belastbare Analyse der Prozessleistung etablieren. Das trifft umso mehr auf Organisationen zu, in denen nicht einmal eine Dokumentation der angestrebten Soll-Prozesse vorliegt.
Zu mehr Klarheit kann hier ein innovatives Prozessanalyse- und Controlling-Werkzeug wie Aris PPM (Process Performance Manager) führen. Es dient in erster Linie der objektiven Messung der Kennzahlen von End-to-End-Prozessen, die eine Bewertung der Geschäftsprozesse im Hinblick auf Zeit, Kosten, Qualität und Mengen erlauben. In Erweiterung klassischer Business-Intelligence-Technologien liefert das System für jede berechnete Kennzahl die Erklärung gleich mit: Da die Ursache für Performance-Abweichungen natürlich in der Prozessausführung steckt, ist es möglich, zu jeder Kennzahl die ursächlichen Prozesse zu betrachten und Schwachstellen sofort zu identifizieren.

Realitätsnahe Prozesse

Aris PPM liefert diese Analysen, ohne dass der Soll-Prozess a priori im Detail manuell modelliert wurde. Die Technik der Process Discovery rekonstruiert aus den prozessrelevanten Daten oder Ereignissen der beteiligten Anwendungen weitgehend automatisch die Struktur der im betrieblichen Alltag tatsächlich durchgeführten Geschäftsprozesse. Dieser Rekonstruktionsprozess kann auf eine einfache Folge von Aktivitäten und Funktionen oder auf eine komplexe grafische Darstellung mit Rückwärtssprüngen, Schleifen und Verzweigungen hinauslaufen.
Um die grafischen Prozessdarstellungen zu erstellen, sind zwei Schritte nötig: Erstens müssen die Ereignisse/Prozessfragmente identifiziert werden, die zur selben Prozessinstanz gehören, und zweitens müssen all diese Ereignisse in der korrekten Ablauffolge angeordnet werden. Neben der Visualisierung der Struktur jeder einzelnen Prozessinstanz ist Aris PPM zur Unterstützung der Analyse und des Controllings zusätzlich in der Lage, eine sogenannte aggregierte Prozesssicht dynamisch zu erzeugen. Damit ist das Zusammenfassen von Massenprozessen zu einem einzigen Prozessmuster gemeint.
Dieser automatisch angelegte Geschäftsprozess stellt im Grunde das durchschnittliche Verhalten der zugrunde liegenden, tatsächlich durchlaufenen Prozessinstanzen dar. Visualisierungen erlauben dem Prozessverantwortlichen, sofort zu erkennen, wo Probleme und Engpässe auftreten.
Kurzum: Die Visualisierung der Geschäftsprozesse wird hier nicht auf dem traditionellen manuellen Modellierungsweg entworfen. Ganz im Gegenteil: Die Modelle werden aus den im Unternehmensalltag real gelebten Prozessen durch Zusammenführung und Sortierung von Ereignissen generiert. Der Geschäftsprozessfluss lässt sich automatisch auf Prozessinstanz-Ebene bestimmen, ohne vorab das Prozessverhalten modellieren zu müssen.
Diese Kennzahlen bilden in weiterer Folge eine verlässliche Grundlage für flexible Auswertungen zu Fragen, die Unternehmer wirklich beschäftigen beziehungsweise fürs Geschäft relevant sind.

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Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Test: Qualitätszeitungen auf dem Genussprüfstand

Test: Qualitätszeitungen auf dem GenussprüfstandBilderbox.com

Beim Sonntagsbrunch ist Die Zeit bereits etwas abgegriffen, ein Daumenabdruck zieht sich über Roland Koch von der CDU (Nr. 5/10), das Politik-Buch ist zweimal gefaltet, einmal eingerissen und war am Samstagmorgen schon ausgelesen.

Jetzt wird gefrühstückt: der vorzügliche Wirtschaftsteil, das Dossier, dazu Toast mit Erdbeermarmelade. Die Zeit ist Genuss. Die New York Times-Sonntagsausgabe löst als einzige andere Zeitung bei der Testerin diese Vorfreude auf Bereicherung aus. In einem Buchladen in Boston sagt der Mann, der ihr Die Zeit auf die Rechnung setzt: „Aaah, die Ssaaait.“ Auch ein Genießer.
Gegen diese Zeitung spricht: Ihre Bedeutung liest sich oft nicht nur zwischen den Zeilen heraus. Die New York Times weiß ebenso viel – serviert das Menü aber nie dünkelhaft. Wer sich Zeit-Texte vorlesen lässt (Zeit Audio), manche Worte bis zur Schmerzgrenze betont, dem entgeht etwa nicht, wenn Tomas Niederberghaus der „Distanz und Sehnsucht“ unleistbarer Luxushotels hinterhertrauert („Gäste sind Luxus“, Nr. 29/09).
Dafür spricht: Die Menge an Wissen, die sich mit einer einzigen Ausgabe aufsaugen lässt, beschämt mitunter. Dabei fühlt der Leser sich, als habe er das alles gelernt, nicht bloß aufgeschnappt. Doch die Erfahrung einiger Zeit-Redakteure endet leider bei manchen zeitgemäßen Themen wie dem Internet, das als exotisches Tier betrachtet wird (wenngleich die Zeit-Website tadellos ist und es sogar ein PDF-Abo gibt). Das schafft zwar einen Gegenpol zu modegeile Berichterstattung, es lässt Die Zeit aber alt aussehen: Das Internet ist eine Kulturrevolution, kein Modegeschmack. Bei Brand eins etwa wird Modernes gescheit verpackt, ohne bemüht modisch zu sein.
Mitunter gerät die Distanz in der Zeit zu empörten Pauschalierungen, etwa bei „Intimrasur – Schönheit unter der Gürtellinie“ (Nr. 29/09). Modisch wird’s dafür im Zeit Magazin. Das gelingt manchmal wunderbar. Leider sind da Wolfram Siebeck und Harald Martenstein. Der eine lässt sich als Legende umwerben, der andere scheint der Testerin in seinen Fähigkeiten als Kolumnist überschätzt. Doch sind Siebecks Kochrezepte die einer Legende, womit wir wieder bei Genuss wären.

Treue Liebe: FAS
Nichts gegen gut gemachte Erdbeermarmeladen, nach denen man sich die Finger leckt, aber einen perfekten Sonntagmorgen macht seit 30. September 2001 beim Tester neben dem üblichen Ensemble von Kaffee, Konfitüre und Croissant erst die Lektüre der besser als gut gemachten, als beste Sonntagszeitung der Welt prämierten Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) aus. Köstlich. Bereits der Kauf wird zelebriert; nie wird das oberste oder vorderste Exemplar vom Ständer genommen, ein Eselsohr wäre ein Affront. Es folgt der ritualisierte erste Blick auf die Titelseite, in durchgängiger Vierfarbigkeit und einer eigenen Brotschrift, der Janson, gestaltet. Dem Produkt stehen trotz der gemeinsamen Nutzung redaktioneller Ressourcen der FAZ zusätzlich 50 eigene Redakteure zur Verfügung. Tadelloser Qualitätsjournalismus mit geballter Power.
Als Ouvertüre hält die Glosse auf Seite eins her („Alles verpulvert. Marine ohne Munition“), sodann wird beim ersten Durchblättern der Greser & Lenz Comic freudigst und mit Schmunzeln begrüßt. Hinüber zum zweiten Produkt, dem Sport, dann wird genüsslich im Feuilleton verweilt, nach einer Stunde im Wirtschaftsteil das Interview mit der kanadischen Psychologin Susan Pinker „über Hormone, die die Karriere steuern, erfolgreiche Frauen, die unzufrieden sind, und abgehängte Jungs“ studiert.
Nach dem Schock und einem weiteren Schlückchen Sekt labt sich der Tester an Gourmandisen und Gastrotipps, schüttelt feixend über den Teledialog den Kopf, bis er – es ist mittlerweile Nachmittag geworden – am Höhepunkt angelangt ist: den geliebten Herzblattgeschichten. Zwar karikiert Jörg Thomann die boulevardeske Knallpresse nicht in Perfektion mit Verve und Esprit wie Hohepriester Peter Lütke­meier, dessen Kolumnen es allein wert waren, diese nahezu perfekte Zeitung zu erwerben, doch sie steigert sich von Ausgabe zu Ausgabe.
Wie immer nimmt sich der Tester vor, alle anderen Produkte „die Woche über“ zu studieren. Ja, die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die immer noch kein oder recht wenig Geld verdienen soll, ist ein wahres Kleinod. Während in den fast zehn Jahren dieser Wochenendlektüre Lebensabschnittsgefährtinnen wechselten, ist der Verfasser dieser Zeilen seiner Liebe zur FAS treu geblieben.

Alexandra Riegler und Ralf Dzioblowski, Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Qual und Qualität

Qual und Qualität

Per aspera ad astra – „auf rauen Wegen zu den Sternen“. Obwohl das Wort „Qualität“ an sich keine Bewertung beinhaltet, sondern vom lateinischen „qualitas“ herrührt und Beschaffenheit, Güte oder Wert eines Dinges beschreibt, wird es im täglichen Sprachgebrauch oft wertend gebraucht. So wird Qualität etwa als Gegenstück zu Quantität verstanden. Wie mit der Bezeichnung Qualität umgegangen wird und ob die Qualität aus der Qual quillt, wie der Mystiker Jakob Böhme behauptet, ist Ansichtssache. Thomas Alva Edison hatte 70 Jahre lang gearbeitet, als er 1931 mit 84 Jahren starb; 1033 Erfindungen bekam er patentiert, mehr als jeder andere Mensch; 6000 Versuche stellte er an, bis er für die Glühbirne den richtigen Glühfaden gefunden hatte. Edison wird der Ausspruch zugeschrieben: „Genie ist 99 Prozent Transpiration und ein Prozent Inspiration.“ Journalisten werden damit traktiert: „Wenn du etwas hingeschrieben hast, so wage nicht, es gut zu finden, bloß weil es von dir ist! Wenn die Zeit reicht, nutze die Einsicht, dass die Plage nun erst beginnt: nämlich an dem Text zu feilen, so lange, bis er sein Optimum erreicht hat.“ Da nehme ich mich nicht aus. Immer wieder ist es wie ein kleines Wunder, wenn ich doch noch nach längst überschrittener Deadline meine geliebte, immer wieder augenrollende Lektorin mit 26 Buchstaben beehre. Sollte ich es auch diesmal – nach all der Qual – wieder einmal geschafft haben? Tatsächlich, das ist ja schon der letzte Satz.

Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

Die Welt ist aus den Fugen

Die Welt ist aus den Fugen Wilke/Liessmann

Konrad Paul Liessmann: „Was die wahren Probleme sind, ist eine Frage der eigenen Interpretation von Wirklichkeit.“ Der Philosoph fordert Verständnis für das, „was Gewordensein bedeutet“, und appelliert an den gesunden Hausverstand.

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann entlarvt vieles, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert wird, als rhetorische Geste: Weniger um die Idee von Bildung gehe es als um handfeste politische und ökonomische Interessen. In seinem 2006 erschienenen Buch Theorie der Unbildung ist das Bildungsideal der Aufklärung – nicht Wissen, sondern Erkenntnisstreben – der archimedische Punkt seines Räsonnements. Bildung soll das Programm der Menschwerdung durch die geistige Arbeit der Individuen an sich und an der Welt sein, Bildung als Formung und Entfaltung von Körper, Geist und Seele, von Talenten und Begabungen, die den Einzelnen zu einer entwickelten Individualität und zu einem selbstbewussten Teilnehmer am Gemeinwesen führen soll.

economy: Ich will mit dem geläufigen Bild des Philosophen im Elfenbeinturm beginnen. Es gab noch eine andere Gestalt, Götz von Berlichingen, der im Turm zu Heilbronn meinte, die Welt gerate aus den Angeln. Und im „Hamlet“ heißt es: „Die Welt ist aus den Fugen.“ Kann man das dieser Tage behaupten?

Konrad Paul Liessmann: Das ist gar keine so einfache Frage. Wer könnte heute noch von sich behaupten, die Welt in den Griff zu bekommen, auch nur zu begreifen? Andererseits ist eine solche Aussage immer auch Ausdruck einer zeitgenössischen Befindlichkeit, und man weiß oft erst viel später, ob etwas wirklich aus den Fugen geraten ist, und ob es eine Entwicklung war, die nachvollziehbar ist, ja vielleicht sogar begrüßenswert ist. Bei der Interpretation unserer heutigen Zeit sollte man vorsichtig sein. Aber ich gebe zu, dass es einige Indizien gibt, die darauf hinweisen, dass es einen Bruch gibt.

Welcher Art?
Also, ich denke, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise eine Zäsur darstellt. Man weiß noch nicht: War das eine Krise, die das Weltwirtschaftssystem und das Finanzsystem zwingen wird, sich neu zu organisieren – die Anzeichen dafür schauen eher schlecht aus – oder war es eine Krise, die erst den Auftakt bildet für Verwerfungen, die ökonomisch und politisch auf uns zukommen. Soweit ich es sehr laienhaft beobachten kann: Eine Wirtschafts- und Finanzwelt, die hochriskante Spekulationen in einem Maße zulässt, dass nicht nur einige Menschen, sondern ganze Volkswirtschaften davon betroffen sind, kann auf Dauer keine gesunde und vernünftige Basis für eine produktive Gesellschaft sein.

An wen denken Sie dabei konkret?
An das Desaster in Griechenland, wo eine Handvoll Politiker und Spekulanten mit einigen Mio. Bürgern spielt.

War es auch ein Unwissen, oder ist man ganz bewusst in diese Krisen hineingeschlittert?
Ich denke, es war auch ein Unwissen, allerdings eher in Form der Ignoranz: Manches hätte man wahrscheinlich wissen können, man hat es aber nicht wahrhaben wollen. Mehr Bescheidenheit im sokratischen Sinne stünde uns an. Wir wissen nicht mehr, was wir alles nicht wissen!

In der Wirtschaftskrise hat „Unwissen“ Konjunktur, viele reklamieren es dann für sich.
Es gab natürlich Anzeichen, es gab Menschen, die so eine Krise prognostiziert haben. Aber man wollte etwas nicht sehen. Weil es nicht in das eigene Konzept passte, weil es nicht in die eigene Ideologie passte. Das ist dann meines Erachtens aus einer bestimmten Interessenlage heraus ein verantwortungsloser Umgang mit dem, was sein könnte.
Andererseits kann man bestimmte Dinge ganz einfach nicht wissen. Menschliches Handeln ist nicht ausrechenbar, ist nicht prognostizierbar. Ich weiß, wer wann welche Handlungen setzt, aber welche Kettenreaktionen das nach sich ziehen kann, ist Spekulation.
Sollte die Reaktion aber aus einer gewissen Panik heraus erfolgen, haben wir eine Krise, eine Bankenkrise, das heißt Gegebenheiten, die eine Mischung aus massenmedialer Kommunikation sind; wie wird es kommuniziert, was wird eingeblendet, was wird ausgeblendet, wie reagieren Einzelne darauf – das lässt sich nicht endgültig prognostizieren.

Was heißt das?
Der Grundfehler der Wirtschaftswissenschaften, der Ökonomie war, dass man den Homo oeconomicus als rein rational pragmatisches, Nutzen maximierendes Wesen zu sehen gewohnt war und übersah, was Psychologie, Anthrophilosophie und andere Disziplinen wissen: dass der Mensch aus anderen Motiven handelt und diese Motive schwer kalkulierbar sind. Es gibt sozusagen auch so etwas wie ein notwendiges Nichtwissen. Und das muss man im Auge behalten.

Wie beurteilen Sie Mechanismen, die eine solche Eigendynamik gewinnen konnten, und das über 30 Jahre hinweg?
Man muss das Ganze ambivalent sehen. Es hat genug Insider gegeben, die rechtzeitig ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Da muss man vorsichtig sein. Ich denke, dass es zu diesen Insidergeschäften gehört hat, dass man nichts ausschlagen kann und häufig etwas anderes sagt, als man weiß. Toyota hat angeblich auch schon länger gewusst, dass mit den Gaspedalen etwas nicht stimmt. Und hat, so lange es ging, mit der Wahrheit zurückgehalten.

Niklas Luhmann entließ seine Studenten immer mit dem Spruch Kafkas „Es gibt viel Hoffnung, aber nicht für uns“. Wie werten Sie die heutige Stimmung? Sind es nur Placebos, die wir von Politikern über die Medien ablenkend erhalten? Werden die wahren Probleme gar nicht angegangen? Al Gore kennt mittlerweile doch niemand mehr.
Das Interessante ist, es gibt unter Politikern und Experten keinen Konsens übe die „wahren Probleme“. Denn wenn man nachfragt, was denn die wahren Probleme seien, wird jeder eine andere Antwort haben. Was die wahren Probleme sind, ist eine Frage der eigenen Interpretation der Wirklichkeit. Derjenige, der sich intensiv mit dem Schutz der Umwelt beschäftigt, wird natürlich sagen, das wahre Problem sei die Klimakatastrophe; der Verfechter der Liberalisierung wird sagen, die wahren Probleme bestünden im Kündigungsschutz und mangelnder Privatisierung; der Bildungsexperte wird sagen, die wahren Probleme bestünden in der Ineffizienz unserer Bildungssysteme und so weiter.

Ihr Buch „Theorie der Unbildung“ hat für Furore gesorgt.
Es sind seit der Theorie der Unbildung zwei weitere Bücher erschienen. Das eine ist Zukunft kommt, das passt genau zu unserem Thema und handelt von „säkularisierter Heilserwartung und ihrer Enttäuschung“, so der Untertitel. Es ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dieser Haltung, die wir so gerne haben, uns selbst in unserem Handeln und Gegenwartsbewusstsein einzuschränken, in dem wir so gebannt auf die Zukunft schauen. Das ist ein Topos, den ich etwas kritisch reflektiere. Dann ist noch ein anderes Buch mit dem schlichten, einfachen Titel Schönheit erschienen.

Das vielfach propagierte lebenslange Lernen klingt gut, führt aber zu nichts, oder doch?
Schon die antike Philosophie hat dieses Ideal propagiert, dass Neugier, Wissenwollen, Erkennenwollen, das Entwickeln von Kreativität das ist, was zum Menschsein gehört und nicht auf eine Lebensspanne reduzierbar ist. So gesehen ist dieses Bild vom lebenslangen Lernen nichts Neues. Neu ist, und das ist dann auch prekär, dass das „lebenslange Lernen“ nicht nur diese grundsätzliche Dimension der Offenheit für das Neue bedeutet, die Weiterentwicklung der Persönlichkeit, sondern ganz stark unter dem Diktat ökonomischer Erfordernisse steht: Es geht um Qualifizierungsmaßnahmen für flexible, hart umkämpfte Arbeitsmärkte.
Bemerkenswert ist, dass die Wissensgesellschaft das Wissen verachtet. Es ist immer nur die Rede davon, wie schnell wir vergessen. Wie kurz die Halbwertszeit des Wissens ist. Vergessen, vergessen, vergessen. Vielleicht sollten wir uns mal wieder überlegen, welches Wissen wirklich wichtig ist und von dem wir wissen: Es lohnt sich, dieses Wissen zu erwerben. Weil es eine bestimmte Konstanz hat, weil es auch eine bestimmte Erkenntnis hat beziehungsweise mit einer bestimmten Weisheit verbunden ist.
Früher hat man in Lehr- und Wanderjahren viel verinnerlicht. Heute ist vieles durch „Ergoogelung“, durch Wikipedia, durch unreflektierte, unkritische Übernahme oberflächlich geworden.

Sie sagen, nicht Wissen, sondern das Erkenntnisstreben sei wichtig. Was bedeutet das?
Ein allumfassendes, kosmopolitisches Wissen wird ja kaum noch vermittelt.
Es geht nicht darum, dass der Einzelne ein enzyklopädisches Wissen hat – dafür gab es früher die Bibliotheken, nun die digitalen Speicher. Und auch die berühmten Universalgenies wie Goethe oder Nietzsche waren nicht auf allen Wissensgebieten auf dem Stand der Zeit. Heute ist alles ohnehin nicht mehr überschaubar. Der Mensch muss aus einer unzähligen Menge von Informationen auswählen und ist permanent damit überfordert. Wichtiger ist, Wissen nicht mit Information zu verwechseln; das Erwerben von Wissen geht über reine Informationsbeschaffung hinaus: Es handelt sich bei Wissen immer um etwas, das verstanden, eingeordnet, bewertet werden kann. Wenn man etwa die Naturwissenschaften hernimmt: Man kann sich zwar nicht alle Zweige davon aneignen und reproduzieren, aber Zeitgenossen sollten doch eine Vorstellung davon haben, wie diese Wissenschaften „funktionieren“. Was ist ein Naturgesetz, was ist ein naturwissenschaftliches Experiment, was heißt es, statistisch signifikante Ergebnisse produziert zu haben? Das heißt, es geht mir hier eher um die Prinzipien. Mann muss nicht alle Details kennen, aber einschätzen können, welchen Stellenwert, welche Bedeutung, auch welche Signifikanz diese Ergebnisse haben.
Das Zweite, was absolut notwendig ist: Wir brauchen ein Verständnis für das, was Gewordensein bedeutet. Was wir jetzt erleben, ist Resultat einer Geschichte. Ich werde mich in dieser Welt nicht orientieren können, wenn ich ihre Geschichte weder kenne noch verstehe. Und drittens – das hat viel mit dem klassischen Bildungsbegriff zu tun – benötigen wir eine geschärfte Urteilskraft und ein verfeinertes Gespür für das, was in der Antike das Angemessene genannt wurde. Wenn ein deutscher Außenminister die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung mit den dekadenten Eliten des Römischen Reiches vergleicht, mangelt es ihm nicht nur an der vorhin eingeforderten Geschichtskenntnis, sondern auch an einem Gespür dafür, welche Vergleiche möglich oder eben unmöglich sind. Also, ich habe schon das Gefühl, dass in unserer Welt etwas „aus den Fugen geraten“ ist. Dass die Sensibilität für Angemessenheit fehlt.

Was heißt das?
Es ist schon richtig, dass Terror und Gewalt etwas sehr Unangenehmes sind, aber ob es angemessen ist, nahezu alle Menschenrechte außer Kraft zu setzen, um den Terror zu bekämpfen, nur weil man ein Bedrohungsszenario hysterisch aufbläht, das bezweifle ich. Dort habe ich das Gefühl, das die Sensibilität von dem, was man erreichen will, und dem, was man dafür hergeben muss, in keinem Verhältnis zueinander stehen.

Stichwort Urteilskraft: Einen Berater zu haben, ist heute „en vogue“.
Es sind nicht nur Politiker, die sich beraten lassen. Es gibt niemanden mehr, der es wagt, sich einen Vorhang aufzuhängen, ohne vorher bei seiner Innenarchitektin gewesen zu sein. Niemanden, der es wagt, ein sexuelles Verhältnis einzugehen, ohne bei einer psychotherapeutischen Beratung gewesen zu sein. Niemanden, der es wagt, nach eigenem Dünken seine Kinder auf eine Schule zu schicken, ohne entsprechende Beratungen in Anspruch genommen zu haben.

Das Erste, was arrivierte Menschen in exponierter Stellung, ob in Politik, Wirtschaft oder im Showbiz haben, ist ein Beraterstab, sind Experten, Spindoctors. Warum gibt es eine große Sehnsucht nach dieser Spezies Mensch, die für einen selbst entscheiden?
Es gibt ein natürliches Bedürfnis nach Beratung, dort, wo man wirklich auf Expertenwissen zurückgreifen muss, das man selbst nicht hat. Und dass man sich Expertenwissen einkauft, ist seit der Antike gang und gäbe, ob es nun Priester waren, das Orakel von Delphi, Astronomen oder Astrologen. Walter Benjamin hat einmal gesagt: „Der Ratsuchende sucht keinen Rat, sondern die Bestätigung einer Entscheidung, die er getroffen hat.“ Es hat also psychologische, unterstützende Wirkung. Was wir gegenwärtig beobachten können ist, dass man Rat sucht, dessen einzige Qualifikation darin besteht, dass man Beratung anbieten kann, nicht, weil man Experte ist, nicht, weil man sich irgendwo gut auskennt. Nicht so wie wenn mir etwas wehtut und ich den Arzt rufe und ihn um Diagnose und Rat bitte, weil ich ihn als Experte für Körper und pathologische Erscheinungen wahrnehme. Nein, wer heute eine Beratung aufsucht, sucht eine Institution auf, die nicht besser wirtschaften kann als andere. Das Beratungsgeschäft ist ein ontologisches Geschäft geworden. Berater beraten Berater, die Berater beraten. Das ist einerseits ein riesiger Geschäftszweig. Andererseits denke ich, lässt sich das nur noch sozialpsychologisch erklären, als Abwehr der Übernahme von Verantwortung derjenigen, die angeblich zur Elite gehören, die sich dadurch auszeichnet, breite Verantwortung zu übernehmen. Eine paradoxe Situation.
Natürlich ist es wunderbar, dass man sich bei all seinen Entscheidungen herausreden kann, dass eben die Expertise dies ergeben hat. Wenn sie sich die Beratungsfirmen anschauen, ist alles ganz einfach, es schaut immer unterm Strich so aus, dass Menschen entlassen werden. Die Uni Wien hat sich auch einmal von einem Beratungsunternehmen beraten lassen. Herausgekommen ist, man solle 30 Prozent Personal einsparen. Was bei steigenden Studentenzahlen absoluter Unsinn war. Was einem Menschen mit Hausverstand niemals in den Sinn gekommen wäre. Beratungsfirmen kassieren dafür Millionen. Das sind zum Teil ziemlich ärgerliche Erscheinungen. Und ich glaube, eine gute Idee unserer Gesellschaft wäre es einmal, alle diese Beratungsfirmen lahmzulegen.

Aber die haben gerade Konjunktur.
Natürlich, in Zeiten der Unsicherheit, in Zeiten der Krise. Das Ganze darf als Idiom dafür gesehen werden, dass wir keine Verantwortung übernehmen, weil wir uns nicht nur keine Urteilskraft mehr zutrauen, sondern dass wir auch bis ins private Leben hinein zu unseren eigenen Entscheidungen nicht mehr stehen können. Es gibt keinen Lebensbereich – auch im Privaten – mehr, obwohl wir so viele Informationen haben wie keine Gesellschaft vor uns, in dem wir es uns auch nur zutrauen, die kleinsten Entscheidungen zu treffen. Welches aufgeklärte Elternpaar wagt es denn noch, sein Kind zu erziehen und ihm etwas zu erzählen ohne entsprechende Berater, Beratungsliteratur oder eben leibhaftige Ernährungsberater und dergleichen mehr.
Das Absurde ist: Je mehr beraten wird, je mehr vorgebliche Expertenmeinungen eingeholt und berücksichtigt werden, umso chaotischer und ineffizienter sind die Ergebnisse. Es gibt keine Frau mehr, die nicht schon hundert Kuren probiert hat, von denen sie in Frauenzeitschriften gelesen hat. Das Übermaß an Beratung delegiert uns nicht nur in eine Verantwortungslosigkeit, sondern tyrannisiert uns geradezu. Wir werden immer abhängiger von fremden Instanzen, und das ist dann dieser kindliche Zustand, der einem Menschen eigentlich nicht guttut.

Wie erklären Sie sich den phänomenalen Erfolg Ihres Buches?
Auf der einen Seite war ich einer der ersten Kritiker des sogenannten Bologna-Prozesses, also der Reform des Europäischen Hochschulwesens, und sehe durch die aktuelle Entwicklung im Hochschulbereich diese Kritik in hohem Maße auch bestätigt, doch als die Theorie der Unbildung 2006 publiziert wurde, war ich in der bolognagläubigen europäischen Wissenschaftsmanagergemeinde sicherlich ein Außenseiter. Aber offensichtlich hat das Buch wirklich einen Nerv der Zeit getroffen, das Gefühl angesprochen, dass im Bildungswesen etwas schiefläuft.
Dass Bologna jetzt in die Krise geraten ist und mein Buch so ein großer Erfolg war, hat zu etwas Paradoxem geführt, nämlich, dass auch Menschen, die meine Thesen überhaupt nicht teilen, beeindruckt von den Verkaufszahlen sind. In der Hard-Cover-Ausgabe liegt es jetzt in der 17. und als Paperback bereits in der vierten Auflage vor. Ich sehe das alles ambivalent, weil ich in diesem Gebiet Nutznießer des Zahlenfetischismus bin: Andere sind beeindruckt, nur weil sie meine Auflagenzahlen sehen. Auf der anderen Seite bedauere ich das, denn ich will ja gelesen werden und will nicht Anerkennung dafür finden, dass das Buch halt öfter verkauft worden ist als irgendein anderes philosophisches Sachbuch.

Sie sind in gewisser Weise auch ein Außenseiter, Sie sind nicht Mainstream. Ecken Sie im akademischen Tagwerk an, oder zollt man Ihnen eher Respekt, dass Sie den Mut haben, Ihre Ansichten auch zu publizieren und kundzutun?
Ich habe das Glück, dass ich in dem wissenschaftlichen Bereich, wo ich tätig bin, durchaus respektiert werde, und war immer der Auffassung, dass Wissenschaft ein Prozess von Kritik und Selbstkritik ist.

Welche Rolle sprechen Sie den Medien zu?
Momentan tobt ein Kampf innerhalb der Medien. Wir haben diese große Konfrontation zwischen den traditionellen Medien und dem Internet 2.0. Medien versuchen Themen vorzugeben, Erregungen zu produzieren, die rasch kommen und rasch wieder verschwinden. 90 Prozent der Nachrichten sind inszenierte Hysterisierung, mit Empathie verkündete Schreckensszenarien. Wer erinnert sich noch an die Hysterie anlässlich der Vogelgrippe? Das ist Kaum ein paar Jahre her. Und war angeblich eine Bedrohung des Weltgesundheitssystems. Jetzt haben wir die Schweinegrippe gehabt. Wir leben in einer total vernetzten, oszillierenden Medienwelt, der sich nur selbst ernannte Asketen entziehen können.
Man kann ja nicht in eine Stadt gehen, ohne mit Bildern und Informationen, sei es in der U-Bahn oder auf Leuchtreklame, konfrontiert zu werden. Jeder, der einen Internet-Anschluss hat, wird mit diesen Nachrichten versorgt, ob er will oder nicht. Wir leben in einer total vernetzten medialen Welt und das führt natürlich dazu, dass das zu pulsieren beginnt. Immer rascher, man kann sich kaum der Lust an Sensationen und Skandalen entziehen. Haiti ist sicherlich spektakulär wegen des Erdbebens. Daraus können Medien etwas machen. Es gibt aber auch Menschen, die verhungern, weil zum Beispiel die Landwirtschaft ruiniert ist; das ist kein Aufhänger. Und so oszilliert die Medienwelt. Und ich bin der Letzte, der fordert, dass man sich dem entziehen soll. Unser individueller Lebensrhythmus hängt gerade von den Medien ab, ist damit verwoben. Aber, wie gesagt, 90 Prozent der Nachrichten sind medial inszenierte Hysterisierung. Die Geschichte der Medien lehrt auch, dass das ganz, ganz schnell verschwinden und vergessen wird. Und wir fiebern immer in einer gewissen distanzierten Gelassenheit mit. Hier wäre es eine Idee, wenn sich jemand an die Bildung dranmacht, mit so viel Wissen, so viel Denkkraft, so viel Urteilsvermögen, um in diesen Medien-Hypes und dieser Medien-Hysterie die Punkte herauszufinden, wo wirklich etwas Wichtiges passiert. Und da sind wir wieder bei der Eingangsfrage unseres Gesprächs: Was ist wichtig? Und ich gebe zu, dass das nicht ganz einfach ist.
Auf der anderen Seite ist es manchmal so einfach, dass man es nicht glaubt, dass es so einfach ist. Das propagierte Abschmelzen der Gletscher bedarf nur einer kurzen Phase des Nachdenkens – wie dick sind diese Gletscher, wie viel Zentimeter schmilzt ein Gletscher pro Jahr? Diese ganz einfache arithmetische Rechenoperation hätte reichen müssen, um zu erkennen, dass es sich um Fehlinformationen handelt. Aber nein, es hat so schön in die allgemeine Klimahysterie gepasst. Es hat in dieses Schreckensszenario gepasst, an dem wir uns weiden.

Wie kann sich das Individuum vor der Beeinflussung schützen?
Ich denke, das Wichtigste wäre, diese Distanz zu bewahren, auch in Zeiten großer medialer Hysterie, und die Fähigkeit zu haben, einfach nachzudenken und Dinge anhand der Information, die man hat oder die man selbst bekommen kann, auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen, um Fehlinformationen herauszufiltern.

In Wien findet die Jubiläumskonferenz „Zehn Jahre Bologna“ statt. Wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?
Es könnte eine Gelegenheit sein, selbstkritische Bilanz zu ziehen: dass man mit sehr, sehr guten Absichten unheimlich viel ruiniert hat.

Wodurch wird wissenschaftliche Qualität oder Exzellenz garantiert? Wie wird Bildung gemessen?
Ich denke, dass auch hier mehr Zutrauen in die eigene Urteilskraft nötig ist. Die Äußerung „Ich besuche eine Universität, die im Ranking auf Platz drei liegt“ sagt überhaupt nichts aus.
Wir stehen gegenwärtig unter einem nahezu schon pathologischen Qualitätssicherungsdruck. Überspitzt formuliert: Man hat kaum noch Zeit für ernsthafte Forschung, weil man ständig evaluiert wird. Und ich halte diesen Evaluierungs- und Ranking-Wahn für absolut kontraproduktiv. Wenn wissenschaftliche Leistung nur noch danach bemessen wird, wer wann wo publiziert hat, und niemand mehr liest, was publiziert wird, hebt sich Wissenschaft irgendwann einmal auf. Und es ist hybrid zu glauben, dass jede Form geistiger, kreativer oder innovativer Leistung quantifizierbar sei. Der letzte Schrei besteht ja darin, den „Social Impact“ wissenschaftlicher Arbeit zu messen, das heißt den Einfluss auf die Gesellschaft. Ja, wie will man das messen, und zweitens, was hat man davon? Jeder, der sich in der europäischen Begriffsgeschichte ein bisschen mit den Begriffen Qualität und Quantität auseinandergesetzt hat, weiß, dass Qualität das Gegenteil von Quantität ist. Wer glaubt, er könne Qualität nur dann erreichen, wenn er Quantitäten misst, irrt. Qualität ist nämlich per definitionem das, was nicht messbar ist, sonst wäre es nämlich nicht Qualität, sondern Quantität. Das Was einer Sache bestimmt ihre Qualität, das Wie viel ihre Quantität. Es waren, interessant genug, übrigens nur die Marxisten gewesen, die geglaubt hatten, dass Quantität in Qualität umschlagen kann.

Ihre Meinung von der Universität Wien?
Ich halte die Universität Wien im Großen und Ganzen für eine unheimlich interessante Universität, die der Vorstellung einer klassischen Universität, an der tatsächlich die Summe der Wissenschaften eine Heimstätte hat, noch entspricht. Wie in der Antike zwischen Agora und Akademie ist sie keine in sich abgeschlossene Campus-Universität, sondern 20 Meter vom Burgtheater und 100 Meter von der Staatsoper, 100 Meter vom Rathaus und Parlament entfernt, das heißt anders als eine noch so elitäre amerikanische Forschungsstätte – eingebettet in eine Form von Kultur, Öffentlichkeit und Politik.

Wie unterscheidet sich die heutige Studentengeneration von jener früherer Semester?

Die Studentengeneration der letzten Jahre ist wesentlich angepasster. Man merkt es: Sie denken anders, sie denken in der Erfüllung des Studienplans. Was muss ich tun, damit ich weiterkomme? Auf der anderen Seite sind sie leistungsbewusster und bringen zum Teil sehr, sehr gute Voraussetzungen mit, sind zielorientierter und bereit, einiges zu investieren. Und das hat mit Bologna zu tun, dass dieser Habitus der Freiheit und Freizügigkeit verloren geht.
Die Universität war ja früher immer der Hort, wo man aus den Zwangsanstalten der Schulen zur Freiheit der Wissenschaft gekommen ist; das bedauere ich sehr, dass wir das so zurückschrauben. Und Bologna wird für mich wirklich fraglich, wenn man auch beginnt, die inhaltlichen Themen aneinander anzugleichen, unter dem vermeintlichen Vorwand der nationalen Vergleichbarkeit. Früher ist man an Universitäten gegangen, zu Professoren, die man hören wollte; dieser Aspekt der Individualität, der Differenz in den Methoden der unterschiedlichen Perspektiven, die gerade in den Geistes- und Humanwissenschaften so wichtig sind, geht zunehmend verloren.

An der Uni Wien sind im Fachbereich Philosophie derzeit 7000 Philosophen inskribiert. Braucht unsere Gesellschaft – noch – mehr Philosophen?
Also, ich bin niemand, der glaubt, dass von irgendeiner Wissenschaft das allgemeine Heil kommt. Wir brauchen nicht mehr Philosophen, wie wir auch nicht mehr Techniker brauchen. Denn es funktioniert ja alles mehr oder weniger gut, und das hängt, glaube ich, nicht von deren Anzahl ab.

Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010

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