Die Welt ist aus den Fugen
Wilke/Liessmann Konrad Paul Liessmann: „Was die wahren Probleme sind, ist eine Frage der eigenen Interpretation von Wirklichkeit.“ Der Philosoph fordert Verständnis für das, „was Gewordensein bedeutet“, und appelliert an den gesunden Hausverstand.
Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann entlarvt vieles, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert wird, als rhetorische Geste: Weniger um die Idee von Bildung gehe es als um handfeste politische und ökonomische Interessen. In seinem 2006 erschienenen Buch Theorie der Unbildung ist das Bildungsideal der Aufklärung – nicht Wissen, sondern Erkenntnisstreben – der archimedische Punkt seines Räsonnements. Bildung soll das Programm der Menschwerdung durch die geistige Arbeit der Individuen an sich und an der Welt sein, Bildung als Formung und Entfaltung von Körper, Geist und Seele, von Talenten und Begabungen, die den Einzelnen zu einer entwickelten Individualität und zu einem selbstbewussten Teilnehmer am Gemeinwesen führen soll.
economy: Ich will mit dem geläufigen Bild des Philosophen im Elfenbeinturm beginnen. Es gab noch eine andere Gestalt, Götz von Berlichingen, der im Turm zu Heilbronn meinte, die Welt gerate aus den Angeln. Und im „Hamlet“ heißt es: „Die Welt ist aus den Fugen.“ Kann man das dieser Tage behaupten?
Konrad Paul Liessmann: Das ist gar keine so einfache Frage. Wer könnte heute noch von sich behaupten, die Welt in den Griff zu bekommen, auch nur zu begreifen? Andererseits ist eine solche Aussage immer auch Ausdruck einer zeitgenössischen Befindlichkeit, und man weiß oft erst viel später, ob etwas wirklich aus den Fugen geraten ist, und ob es eine Entwicklung war, die nachvollziehbar ist, ja vielleicht sogar begrüßenswert ist. Bei der Interpretation unserer heutigen Zeit sollte man vorsichtig sein. Aber ich gebe zu, dass es einige Indizien gibt, die darauf hinweisen, dass es einen Bruch gibt.
Welcher Art?
Also, ich denke, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise eine Zäsur darstellt. Man weiß noch nicht: War das eine Krise, die das Weltwirtschaftssystem und das Finanzsystem zwingen wird, sich neu zu organisieren – die Anzeichen dafür schauen eher schlecht aus – oder war es eine Krise, die erst den Auftakt bildet für Verwerfungen, die ökonomisch und politisch auf uns zukommen. Soweit ich es sehr laienhaft beobachten kann: Eine Wirtschafts- und Finanzwelt, die hochriskante Spekulationen in einem Maße zulässt, dass nicht nur einige Menschen, sondern ganze Volkswirtschaften davon betroffen sind, kann auf Dauer keine gesunde und vernünftige Basis für eine produktive Gesellschaft sein.
An wen denken Sie dabei konkret?
An das Desaster in Griechenland, wo eine Handvoll Politiker und Spekulanten mit einigen Mio. Bürgern spielt.
War es auch ein Unwissen, oder ist man ganz bewusst in diese Krisen hineingeschlittert?
Ich denke, es war auch ein Unwissen, allerdings eher in Form der Ignoranz: Manches hätte man wahrscheinlich wissen können, man hat es aber nicht wahrhaben wollen. Mehr Bescheidenheit im sokratischen Sinne stünde uns an. Wir wissen nicht mehr, was wir alles nicht wissen!
In der Wirtschaftskrise hat „Unwissen“ Konjunktur, viele reklamieren es dann für sich.
Es gab natürlich Anzeichen, es gab Menschen, die so eine Krise prognostiziert haben. Aber man wollte etwas nicht sehen. Weil es nicht in das eigene Konzept passte, weil es nicht in die eigene Ideologie passte. Das ist dann meines Erachtens aus einer bestimmten Interessenlage heraus ein verantwortungsloser Umgang mit dem, was sein könnte.
Andererseits kann man bestimmte Dinge ganz einfach nicht wissen. Menschliches Handeln ist nicht ausrechenbar, ist nicht prognostizierbar. Ich weiß, wer wann welche Handlungen setzt, aber welche Kettenreaktionen das nach sich ziehen kann, ist Spekulation.
Sollte die Reaktion aber aus einer gewissen Panik heraus erfolgen, haben wir eine Krise, eine Bankenkrise, das heißt Gegebenheiten, die eine Mischung aus massenmedialer Kommunikation sind; wie wird es kommuniziert, was wird eingeblendet, was wird ausgeblendet, wie reagieren Einzelne darauf – das lässt sich nicht endgültig prognostizieren.
Was heißt das?
Der Grundfehler der Wirtschaftswissenschaften, der Ökonomie war, dass man den Homo oeconomicus als rein rational pragmatisches, Nutzen maximierendes Wesen zu sehen gewohnt war und übersah, was Psychologie, Anthrophilosophie und andere Disziplinen wissen: dass der Mensch aus anderen Motiven handelt und diese Motive schwer kalkulierbar sind. Es gibt sozusagen auch so etwas wie ein notwendiges Nichtwissen. Und das muss man im Auge behalten.
Wie beurteilen Sie Mechanismen, die eine solche Eigendynamik gewinnen konnten, und das über 30 Jahre hinweg?
Man muss das Ganze ambivalent sehen. Es hat genug Insider gegeben, die rechtzeitig ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Da muss man vorsichtig sein. Ich denke, dass es zu diesen Insidergeschäften gehört hat, dass man nichts ausschlagen kann und häufig etwas anderes sagt, als man weiß. Toyota hat angeblich auch schon länger gewusst, dass mit den Gaspedalen etwas nicht stimmt. Und hat, so lange es ging, mit der Wahrheit zurückgehalten.
Niklas Luhmann entließ seine Studenten immer mit dem Spruch Kafkas „Es gibt viel Hoffnung, aber nicht für uns“. Wie werten Sie die heutige Stimmung? Sind es nur Placebos, die wir von Politikern über die Medien ablenkend erhalten? Werden die wahren Probleme gar nicht angegangen? Al Gore kennt mittlerweile doch niemand mehr.
Das Interessante ist, es gibt unter Politikern und Experten keinen Konsens übe die „wahren Probleme“. Denn wenn man nachfragt, was denn die wahren Probleme seien, wird jeder eine andere Antwort haben. Was die wahren Probleme sind, ist eine Frage der eigenen Interpretation der Wirklichkeit. Derjenige, der sich intensiv mit dem Schutz der Umwelt beschäftigt, wird natürlich sagen, das wahre Problem sei die Klimakatastrophe; der Verfechter der Liberalisierung wird sagen, die wahren Probleme bestünden im Kündigungsschutz und mangelnder Privatisierung; der Bildungsexperte wird sagen, die wahren Probleme bestünden in der Ineffizienz unserer Bildungssysteme und so weiter.
Ihr Buch „Theorie der Unbildung“ hat für Furore gesorgt.
Es sind seit der Theorie der Unbildung zwei weitere Bücher erschienen. Das eine ist Zukunft kommt, das passt genau zu unserem Thema und handelt von „säkularisierter Heilserwartung und ihrer Enttäuschung“, so der Untertitel. Es ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dieser Haltung, die wir so gerne haben, uns selbst in unserem Handeln und Gegenwartsbewusstsein einzuschränken, in dem wir so gebannt auf die Zukunft schauen. Das ist ein Topos, den ich etwas kritisch reflektiere. Dann ist noch ein anderes Buch mit dem schlichten, einfachen Titel Schönheit erschienen.
Das vielfach propagierte lebenslange Lernen klingt gut, führt aber zu nichts, oder doch?
Schon die antike Philosophie hat dieses Ideal propagiert, dass Neugier, Wissenwollen, Erkennenwollen, das Entwickeln von Kreativität das ist, was zum Menschsein gehört und nicht auf eine Lebensspanne reduzierbar ist. So gesehen ist dieses Bild vom lebenslangen Lernen nichts Neues. Neu ist, und das ist dann auch prekär, dass das „lebenslange Lernen“ nicht nur diese grundsätzliche Dimension der Offenheit für das Neue bedeutet, die Weiterentwicklung der Persönlichkeit, sondern ganz stark unter dem Diktat ökonomischer Erfordernisse steht: Es geht um Qualifizierungsmaßnahmen für flexible, hart umkämpfte Arbeitsmärkte.
Bemerkenswert ist, dass die Wissensgesellschaft das Wissen verachtet. Es ist immer nur die Rede davon, wie schnell wir vergessen. Wie kurz die Halbwertszeit des Wissens ist. Vergessen, vergessen, vergessen. Vielleicht sollten wir uns mal wieder überlegen, welches Wissen wirklich wichtig ist und von dem wir wissen: Es lohnt sich, dieses Wissen zu erwerben. Weil es eine bestimmte Konstanz hat, weil es auch eine bestimmte Erkenntnis hat beziehungsweise mit einer bestimmten Weisheit verbunden ist.
Früher hat man in Lehr- und Wanderjahren viel verinnerlicht. Heute ist vieles durch „Ergoogelung“, durch Wikipedia, durch unreflektierte, unkritische Übernahme oberflächlich geworden.
Sie sagen, nicht Wissen, sondern das Erkenntnisstreben sei wichtig. Was bedeutet das?
Ein allumfassendes, kosmopolitisches Wissen wird ja kaum noch vermittelt.
Es geht nicht darum, dass der Einzelne ein enzyklopädisches Wissen hat – dafür gab es früher die Bibliotheken, nun die digitalen Speicher. Und auch die berühmten Universalgenies wie Goethe oder Nietzsche waren nicht auf allen Wissensgebieten auf dem Stand der Zeit. Heute ist alles ohnehin nicht mehr überschaubar. Der Mensch muss aus einer unzähligen Menge von Informationen auswählen und ist permanent damit überfordert. Wichtiger ist, Wissen nicht mit Information zu verwechseln; das Erwerben von Wissen geht über reine Informationsbeschaffung hinaus: Es handelt sich bei Wissen immer um etwas, das verstanden, eingeordnet, bewertet werden kann. Wenn man etwa die Naturwissenschaften hernimmt: Man kann sich zwar nicht alle Zweige davon aneignen und reproduzieren, aber Zeitgenossen sollten doch eine Vorstellung davon haben, wie diese Wissenschaften „funktionieren“. Was ist ein Naturgesetz, was ist ein naturwissenschaftliches Experiment, was heißt es, statistisch signifikante Ergebnisse produziert zu haben? Das heißt, es geht mir hier eher um die Prinzipien. Mann muss nicht alle Details kennen, aber einschätzen können, welchen Stellenwert, welche Bedeutung, auch welche Signifikanz diese Ergebnisse haben.
Das Zweite, was absolut notwendig ist: Wir brauchen ein Verständnis für das, was Gewordensein bedeutet. Was wir jetzt erleben, ist Resultat einer Geschichte. Ich werde mich in dieser Welt nicht orientieren können, wenn ich ihre Geschichte weder kenne noch verstehe. Und drittens – das hat viel mit dem klassischen Bildungsbegriff zu tun – benötigen wir eine geschärfte Urteilskraft und ein verfeinertes Gespür für das, was in der Antike das Angemessene genannt wurde. Wenn ein deutscher Außenminister die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung mit den dekadenten Eliten des Römischen Reiches vergleicht, mangelt es ihm nicht nur an der vorhin eingeforderten Geschichtskenntnis, sondern auch an einem Gespür dafür, welche Vergleiche möglich oder eben unmöglich sind. Also, ich habe schon das Gefühl, dass in unserer Welt etwas „aus den Fugen geraten“ ist. Dass die Sensibilität für Angemessenheit fehlt.
Was heißt das?
Es ist schon richtig, dass Terror und Gewalt etwas sehr Unangenehmes sind, aber ob es angemessen ist, nahezu alle Menschenrechte außer Kraft zu setzen, um den Terror zu bekämpfen, nur weil man ein Bedrohungsszenario hysterisch aufbläht, das bezweifle ich. Dort habe ich das Gefühl, das die Sensibilität von dem, was man erreichen will, und dem, was man dafür hergeben muss, in keinem Verhältnis zueinander stehen.
Stichwort Urteilskraft: Einen Berater zu haben, ist heute „en vogue“.
Es sind nicht nur Politiker, die sich beraten lassen. Es gibt niemanden mehr, der es wagt, sich einen Vorhang aufzuhängen, ohne vorher bei seiner Innenarchitektin gewesen zu sein. Niemanden, der es wagt, ein sexuelles Verhältnis einzugehen, ohne bei einer psychotherapeutischen Beratung gewesen zu sein. Niemanden, der es wagt, nach eigenem Dünken seine Kinder auf eine Schule zu schicken, ohne entsprechende Beratungen in Anspruch genommen zu haben.
Das Erste, was arrivierte Menschen in exponierter Stellung, ob in Politik, Wirtschaft oder im Showbiz haben, ist ein Beraterstab, sind Experten, Spindoctors. Warum gibt es eine große Sehnsucht nach dieser Spezies Mensch, die für einen selbst entscheiden?
Es gibt ein natürliches Bedürfnis nach Beratung, dort, wo man wirklich auf Expertenwissen zurückgreifen muss, das man selbst nicht hat. Und dass man sich Expertenwissen einkauft, ist seit der Antike gang und gäbe, ob es nun Priester waren, das Orakel von Delphi, Astronomen oder Astrologen. Walter Benjamin hat einmal gesagt: „Der Ratsuchende sucht keinen Rat, sondern die Bestätigung einer Entscheidung, die er getroffen hat.“ Es hat also psychologische, unterstützende Wirkung. Was wir gegenwärtig beobachten können ist, dass man Rat sucht, dessen einzige Qualifikation darin besteht, dass man Beratung anbieten kann, nicht, weil man Experte ist, nicht, weil man sich irgendwo gut auskennt. Nicht so wie wenn mir etwas wehtut und ich den Arzt rufe und ihn um Diagnose und Rat bitte, weil ich ihn als Experte für Körper und pathologische Erscheinungen wahrnehme. Nein, wer heute eine Beratung aufsucht, sucht eine Institution auf, die nicht besser wirtschaften kann als andere. Das Beratungsgeschäft ist ein ontologisches Geschäft geworden. Berater beraten Berater, die Berater beraten. Das ist einerseits ein riesiger Geschäftszweig. Andererseits denke ich, lässt sich das nur noch sozialpsychologisch erklären, als Abwehr der Übernahme von Verantwortung derjenigen, die angeblich zur Elite gehören, die sich dadurch auszeichnet, breite Verantwortung zu übernehmen. Eine paradoxe Situation.
Natürlich ist es wunderbar, dass man sich bei all seinen Entscheidungen herausreden kann, dass eben die Expertise dies ergeben hat. Wenn sie sich die Beratungsfirmen anschauen, ist alles ganz einfach, es schaut immer unterm Strich so aus, dass Menschen entlassen werden. Die Uni Wien hat sich auch einmal von einem Beratungsunternehmen beraten lassen. Herausgekommen ist, man solle 30 Prozent Personal einsparen. Was bei steigenden Studentenzahlen absoluter Unsinn war. Was einem Menschen mit Hausverstand niemals in den Sinn gekommen wäre. Beratungsfirmen kassieren dafür Millionen. Das sind zum Teil ziemlich ärgerliche Erscheinungen. Und ich glaube, eine gute Idee unserer Gesellschaft wäre es einmal, alle diese Beratungsfirmen lahmzulegen.
Aber die haben gerade Konjunktur.
Natürlich, in Zeiten der Unsicherheit, in Zeiten der Krise. Das Ganze darf als Idiom dafür gesehen werden, dass wir keine Verantwortung übernehmen, weil wir uns nicht nur keine Urteilskraft mehr zutrauen, sondern dass wir auch bis ins private Leben hinein zu unseren eigenen Entscheidungen nicht mehr stehen können. Es gibt keinen Lebensbereich – auch im Privaten – mehr, obwohl wir so viele Informationen haben wie keine Gesellschaft vor uns, in dem wir es uns auch nur zutrauen, die kleinsten Entscheidungen zu treffen. Welches aufgeklärte Elternpaar wagt es denn noch, sein Kind zu erziehen und ihm etwas zu erzählen ohne entsprechende Berater, Beratungsliteratur oder eben leibhaftige Ernährungsberater und dergleichen mehr.
Das Absurde ist: Je mehr beraten wird, je mehr vorgebliche Expertenmeinungen eingeholt und berücksichtigt werden, umso chaotischer und ineffizienter sind die Ergebnisse. Es gibt keine Frau mehr, die nicht schon hundert Kuren probiert hat, von denen sie in Frauenzeitschriften gelesen hat. Das Übermaß an Beratung delegiert uns nicht nur in eine Verantwortungslosigkeit, sondern tyrannisiert uns geradezu. Wir werden immer abhängiger von fremden Instanzen, und das ist dann dieser kindliche Zustand, der einem Menschen eigentlich nicht guttut.
Wie erklären Sie sich den phänomenalen Erfolg Ihres Buches?
Auf der einen Seite war ich einer der ersten Kritiker des sogenannten Bologna-Prozesses, also der Reform des Europäischen Hochschulwesens, und sehe durch die aktuelle Entwicklung im Hochschulbereich diese Kritik in hohem Maße auch bestätigt, doch als die Theorie der Unbildung 2006 publiziert wurde, war ich in der bolognagläubigen europäischen Wissenschaftsmanagergemeinde sicherlich ein Außenseiter. Aber offensichtlich hat das Buch wirklich einen Nerv der Zeit getroffen, das Gefühl angesprochen, dass im Bildungswesen etwas schiefläuft.
Dass Bologna jetzt in die Krise geraten ist und mein Buch so ein großer Erfolg war, hat zu etwas Paradoxem geführt, nämlich, dass auch Menschen, die meine Thesen überhaupt nicht teilen, beeindruckt von den Verkaufszahlen sind. In der Hard-Cover-Ausgabe liegt es jetzt in der 17. und als Paperback bereits in der vierten Auflage vor. Ich sehe das alles ambivalent, weil ich in diesem Gebiet Nutznießer des Zahlenfetischismus bin: Andere sind beeindruckt, nur weil sie meine Auflagenzahlen sehen. Auf der anderen Seite bedauere ich das, denn ich will ja gelesen werden und will nicht Anerkennung dafür finden, dass das Buch halt öfter verkauft worden ist als irgendein anderes philosophisches Sachbuch.
Sie sind in gewisser Weise auch ein Außenseiter, Sie sind nicht Mainstream. Ecken Sie im akademischen Tagwerk an, oder zollt man Ihnen eher Respekt, dass Sie den Mut haben, Ihre Ansichten auch zu publizieren und kundzutun?
Ich habe das Glück, dass ich in dem wissenschaftlichen Bereich, wo ich tätig bin, durchaus respektiert werde, und war immer der Auffassung, dass Wissenschaft ein Prozess von Kritik und Selbstkritik ist.
Welche Rolle sprechen Sie den Medien zu?
Momentan tobt ein Kampf innerhalb der Medien. Wir haben diese große Konfrontation zwischen den traditionellen Medien und dem Internet 2.0. Medien versuchen Themen vorzugeben, Erregungen zu produzieren, die rasch kommen und rasch wieder verschwinden. 90 Prozent der Nachrichten sind inszenierte Hysterisierung, mit Empathie verkündete Schreckensszenarien. Wer erinnert sich noch an die Hysterie anlässlich der Vogelgrippe? Das ist Kaum ein paar Jahre her. Und war angeblich eine Bedrohung des Weltgesundheitssystems. Jetzt haben wir die Schweinegrippe gehabt. Wir leben in einer total vernetzten, oszillierenden Medienwelt, der sich nur selbst ernannte Asketen entziehen können.
Man kann ja nicht in eine Stadt gehen, ohne mit Bildern und Informationen, sei es in der U-Bahn oder auf Leuchtreklame, konfrontiert zu werden. Jeder, der einen Internet-Anschluss hat, wird mit diesen Nachrichten versorgt, ob er will oder nicht. Wir leben in einer total vernetzten medialen Welt und das führt natürlich dazu, dass das zu pulsieren beginnt. Immer rascher, man kann sich kaum der Lust an Sensationen und Skandalen entziehen. Haiti ist sicherlich spektakulär wegen des Erdbebens. Daraus können Medien etwas machen. Es gibt aber auch Menschen, die verhungern, weil zum Beispiel die Landwirtschaft ruiniert ist; das ist kein Aufhänger. Und so oszilliert die Medienwelt. Und ich bin der Letzte, der fordert, dass man sich dem entziehen soll. Unser individueller Lebensrhythmus hängt gerade von den Medien ab, ist damit verwoben. Aber, wie gesagt, 90 Prozent der Nachrichten sind medial inszenierte Hysterisierung. Die Geschichte der Medien lehrt auch, dass das ganz, ganz schnell verschwinden und vergessen wird. Und wir fiebern immer in einer gewissen distanzierten Gelassenheit mit. Hier wäre es eine Idee, wenn sich jemand an die Bildung dranmacht, mit so viel Wissen, so viel Denkkraft, so viel Urteilsvermögen, um in diesen Medien-Hypes und dieser Medien-Hysterie die Punkte herauszufinden, wo wirklich etwas Wichtiges passiert. Und da sind wir wieder bei der Eingangsfrage unseres Gesprächs: Was ist wichtig? Und ich gebe zu, dass das nicht ganz einfach ist.
Auf der anderen Seite ist es manchmal so einfach, dass man es nicht glaubt, dass es so einfach ist. Das propagierte Abschmelzen der Gletscher bedarf nur einer kurzen Phase des Nachdenkens – wie dick sind diese Gletscher, wie viel Zentimeter schmilzt ein Gletscher pro Jahr? Diese ganz einfache arithmetische Rechenoperation hätte reichen müssen, um zu erkennen, dass es sich um Fehlinformationen handelt. Aber nein, es hat so schön in die allgemeine Klimahysterie gepasst. Es hat in dieses Schreckensszenario gepasst, an dem wir uns weiden.
Wie kann sich das Individuum vor der Beeinflussung schützen?
Ich denke, das Wichtigste wäre, diese Distanz zu bewahren, auch in Zeiten großer medialer Hysterie, und die Fähigkeit zu haben, einfach nachzudenken und Dinge anhand der Information, die man hat oder die man selbst bekommen kann, auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen, um Fehlinformationen herauszufiltern.
In Wien findet die Jubiläumskonferenz „Zehn Jahre Bologna“ statt. Wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?
Es könnte eine Gelegenheit sein, selbstkritische Bilanz zu ziehen: dass man mit sehr, sehr guten Absichten unheimlich viel ruiniert hat.
Wodurch wird wissenschaftliche Qualität oder Exzellenz garantiert? Wie wird Bildung gemessen?
Ich denke, dass auch hier mehr Zutrauen in die eigene Urteilskraft nötig ist. Die Äußerung „Ich besuche eine Universität, die im Ranking auf Platz drei liegt“ sagt überhaupt nichts aus.
Wir stehen gegenwärtig unter einem nahezu schon pathologischen Qualitätssicherungsdruck. Überspitzt formuliert: Man hat kaum noch Zeit für ernsthafte Forschung, weil man ständig evaluiert wird. Und ich halte diesen Evaluierungs- und Ranking-Wahn für absolut kontraproduktiv. Wenn wissenschaftliche Leistung nur noch danach bemessen wird, wer wann wo publiziert hat, und niemand mehr liest, was publiziert wird, hebt sich Wissenschaft irgendwann einmal auf. Und es ist hybrid zu glauben, dass jede Form geistiger, kreativer oder innovativer Leistung quantifizierbar sei. Der letzte Schrei besteht ja darin, den „Social Impact“ wissenschaftlicher Arbeit zu messen, das heißt den Einfluss auf die Gesellschaft. Ja, wie will man das messen, und zweitens, was hat man davon? Jeder, der sich in der europäischen Begriffsgeschichte ein bisschen mit den Begriffen Qualität und Quantität auseinandergesetzt hat, weiß, dass Qualität das Gegenteil von Quantität ist. Wer glaubt, er könne Qualität nur dann erreichen, wenn er Quantitäten misst, irrt. Qualität ist nämlich per definitionem das, was nicht messbar ist, sonst wäre es nämlich nicht Qualität, sondern Quantität. Das Was einer Sache bestimmt ihre Qualität, das Wie viel ihre Quantität. Es waren, interessant genug, übrigens nur die Marxisten gewesen, die geglaubt hatten, dass Quantität in Qualität umschlagen kann.
Ihre Meinung von der Universität Wien?
Ich halte die Universität Wien im Großen und Ganzen für eine unheimlich interessante Universität, die der Vorstellung einer klassischen Universität, an der tatsächlich die Summe der Wissenschaften eine Heimstätte hat, noch entspricht. Wie in der Antike zwischen Agora und Akademie ist sie keine in sich abgeschlossene Campus-Universität, sondern 20 Meter vom Burgtheater und 100 Meter von der Staatsoper, 100 Meter vom Rathaus und Parlament entfernt, das heißt anders als eine noch so elitäre amerikanische Forschungsstätte – eingebettet in eine Form von Kultur, Öffentlichkeit und Politik.
Wie unterscheidet sich die heutige Studentengeneration von jener früherer Semester?
Die Studentengeneration der letzten Jahre ist wesentlich angepasster. Man merkt es: Sie denken anders, sie denken in der Erfüllung des Studienplans. Was muss ich tun, damit ich weiterkomme? Auf der anderen Seite sind sie leistungsbewusster und bringen zum Teil sehr, sehr gute Voraussetzungen mit, sind zielorientierter und bereit, einiges zu investieren. Und das hat mit Bologna zu tun, dass dieser Habitus der Freiheit und Freizügigkeit verloren geht.
Die Universität war ja früher immer der Hort, wo man aus den Zwangsanstalten der Schulen zur Freiheit der Wissenschaft gekommen ist; das bedauere ich sehr, dass wir das so zurückschrauben. Und Bologna wird für mich wirklich fraglich, wenn man auch beginnt, die inhaltlichen Themen aneinander anzugleichen, unter dem vermeintlichen Vorwand der nationalen Vergleichbarkeit. Früher ist man an Universitäten gegangen, zu Professoren, die man hören wollte; dieser Aspekt der Individualität, der Differenz in den Methoden der unterschiedlichen Perspektiven, die gerade in den Geistes- und Humanwissenschaften so wichtig sind, geht zunehmend verloren.
An der Uni Wien sind im Fachbereich Philosophie derzeit 7000 Philosophen inskribiert. Braucht unsere Gesellschaft – noch – mehr Philosophen?
Also, ich bin niemand, der glaubt, dass von irgendeiner Wissenschaft das allgemeine Heil kommt. Wir brauchen nicht mehr Philosophen, wie wir auch nicht mehr Techniker brauchen. Denn es funktioniert ja alles mehr oder weniger gut, und das hängt, glaube ich, nicht von deren Anzahl ab.
Economy Ausgabe 81-02-2010, 26.02.2010