Der Kampf gegen Bologna
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Im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses soll die Ausbildung an den Universitäten in den Dienst der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit Europas gestellt werden. Gegen diese Denkweise erhebt eine Generation ihre Stimme, weil sie ihre Zukunft selbst bestimmen will.
Am 11. März 2010 hat Wien gebebt. Und das nicht nur wegen der 7000 Watt Techno-Sound, mit denen „für die Freiheit des Individuums“ gedröhnt wurde. Die Demonstration österreichischer und internationaler Studentinnen und Studenten gegen den Bologna-Prozess und den Bologna-Gipfel in der Wiener Hofburg geriet zu einem lauten und farbenfrohen Großereignis, das nachhaltig in Erinnerung bleiben wird.
Tausende Menschen versammelten sich beim Westbahnhof und zogen dann – in Anwesenheit einer Heerschar von Polizisten – durch die Mariahilferstraße über die Zweier-Linie zum Parlament. Die Kundgebung verlief völlig friedlich und gewaltfrei. Da waren keine „Chaoten“ am Werk, wie Politik und öffentliche Meinung schnell einmal Demonstranten stigmatisieren, sondern wache, kluge, denkende Menschen. Ein buntes und vielfältiges Bild voll von jungen Menschen mit einem gemeinsamen Anliegen, begleitet von Clowns und Trommlern, aber auch von Frauen mit grauen Haaren und Männern mit grauen Bärten.
Auf der Mariahilfer Kirche schwangen ein paar Verwegene rote Fahnen, auf denen das Wort „Revolution“ mäanderte. Und nicht weniger als eine Revolution, eine Umwälzung, bahnt sich mit der Bologna-Protestbewegung an.
Kein ministerielles Verständnis
Bei den Protesten der Studierenden geht es nicht nur um Details in der Umsetzung des Bologna-Prozesses. Da geht es nicht nur um Kritik an verschulten und überfrachteten Studienplänen, an überfüllten Studiengängen, an der „McUniversity“ der Bachelor-Studien oder an der Umdeutung der Mindeststudienzeit zur Regelstudienzeit. All das sind wichtige Kritikpunkte, sie greifen aber zu kurz. Deswegen wurde von den Studenten die Aufforderung von Wissenschaftsministerin Beatrix Karl (ÖVP), sie sollten „mitgestalten statt zu demonstrieren“, nicht besonders ernst genommen.
Karl will die Umsetzung der Reformen an Österreichs Universitäten mit dem markig benannten Zehn-Punkte-Programm „Bologna reloaded“ verbessern. Damit negiert sie wissentlich und sehenden Auges das Anliegen der Protestierenden, die den Bologna-Prozess generell infrage stellen. Und dass die neue Ministerin kurz vor dem Demo-Termin auch noch Zugangsbeschränkungen für alle Studienrichtungen gefordert hat, weist sie einmal mehr selbst als gestandene „Bologneserin“ aus.
Kritik am Neoliberalismus
Worum geht es also bei den Protestbewegungen „Bologna burns“ und „Uni brennt“ wirklich? Wer das verstehen will, muss sich zuerst einmal gründlich mit dem Begriff und dem Wesen des Neoliberalismus befassen. Denn es gibt kein Flugblatt, keinen Aufruf und keine Wortmeldung der Protestierenden, in denen das Wort „neoliberal“ fehlt. Dort setzt ihre Kritik an, und es ist im wahrsten Sinn des Wortes eine radikale Kritik, die die Wurzel des Übels anpacken will.
Der Neoliberalismus ist ein Wirtschaftsmodell, das von den sogenannten „Chicago Boys“ unter Milton Friedman erfunden wurde. Man kann es in Kurzform als radikale „freie Marktwirtschaft“ charakterisieren, die davon ausgeht, dass nur freie, also „deregulierte, liberalisierte und privatisierte“ Märkte zu einem veritablen Wirtschaftswachstum führen. Das heißt im Klartext: Der Staat verscherbelt alles öffentliche Gut an privatwirtschaftliche Unternehmen und mischt sich anschließend möglichst wenig in die Gebarung dieser Unternehmen ein.
Gescheiterter Probelauf
Es sei noch mal daran erinnert: Der Praxistest des neoliberalen Wirtschaftsmodells begann 1973 in Chile. Für seine Einführung wurde durch die US-Regierung extra ein Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende organisiert und eine blutige Militärdiktatur etabliert. Nur so konnte diese Wirtschaftspolitik in der Praxis durchgesetzt werden. Fast zwei Jahrzehnte, bis zum Ende des Pinochet-Regimes 1990, dauerte der Probelauf. Zu der Zeit lag das durchschnittliche Bruttosozialprodukt deutlich niedriger als in der Zeit vor 1973, als der Staat noch eine gewichtige Rolle in der chilenischen Wirtschaft eingenommen hatte. Auch waren die soziale Ungleichheit und Armut signifikant gewachsen. Die Praxis hatte die Theorie Lügen gestraft. Ironie der Geschichte: 1976 erhielt Milton Friedman den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Theorie des Geldes!
Doch Chile war nur der Startblock. Anfang der 80er Jahre brachten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank mit ihren sogenannten „Strukturanpassungsprogrammen“ das Paradigma des freien Marktes in die Länder des Südens – der Beginn der Globalisierung des Neoliberalismus. Unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher wurde der Neoliberalismus in der Folge in Anglo-Amerika eingeführt. 1989 wurde der sogenannte „Washington Consensus“ formuliert, der mit „Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung“ weltweit zu allgemeiner Freiheit, allgemein steigendem Wohlstand und ebensolchem Wachstum zu führen behauptete.
Die Lissabon-Erklärung
Die Denkweise des Neoliberalismus prägt auch die Lissabon-Strategie der Europäischen Union, die im März 2000 von den europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in Lissabon beschlossen wurde. Diese Strategie muss vor dem Hintergrund eines wettbewerbsorientierten globalisierten Wirtschaftssystems gesehen werden, in dem nicht mehr einzelne Länder, sondern ganze Regionen miteinander in Konkurrenz stehen.
Als Reaktion auf den verschärften globalisierten Wettbewerb mit den USA, Japan, den asiatischen Tigerstaaten, bald aber auch mit den Schwellenländern China und Indien hat sich die EU zum Handeln entschlossen. Im Punkt 5 der Lissabon-Erklärung vom 24. März 2000 wird dieser „Weg in die Zukunft“ so beschrieben: „Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“
Bei der Lissabon-Strategie geht es also um handfeste Wirtschaftsinteressen. Und was hat das mit Bologna zu tun? Lernen und Studieren sind Teil dieser Wirtschaftsmaschinerie, das sagt auch schon der Punkt 25 der Lissabon-Erklärung: „Europas Bildungs- und Ausbildungssysteme müssen sich auf den Bedarf der Wissensgesellschaft und die Notwendigkeit von mehr und besserer Beschäftigung einstellen.“ In neoliberalen, spätkapitalistischen Zeiten weht ein harter Wind. Das alte Wortspiel „Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten?“ hat ausgedient; heute geht es darum, zu „arbeiten, um zu überleben“.
Die Rolle der Universitäten
Auch wenn spitzfindige Kritiker oft einwenden, dass die Bologna-Deklaration schon am 19. Juni 1999, also vor Lissabon, verfasst worden sei, ändert das nichts daran, dass die Bologna-Reform in engem Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie steht. Mit ihr soll ein gemeinsamer europäischer Hochschulraum geschaffen und mit dem europäischen Wirtschaftsraum zur Deckung gebracht werden.
So stellt auch die Europäische Kommission per Mitteilung vom 5. Februar 2003 über „Die Rolle der Universitäten im Europa des Wissens“ klar: „Es soll erreicht werden, dass die europäischen Hochschulen eine maßgebliche Rolle bei der Erreichung des strategischen Ziels spielen, das der Europäische Rat auf seiner Tagung von Lissabon festgelegt hat: die europäische Union zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.“
Wissen als Ressource und Kapital
Und hier setzt ein zentraler Kritikpunkt der Bologna-Gegner an; dass nämlich Wissen um der Erkenntnis willen ausgedient hat und ab sofort voll und ganz als Ressource und Kapital für wirtschaftliche Zwecke instrumentalisiert werden soll, wie auch die Kommission ungeschminkt schreibt: „Das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung zur Wissensgesellschaft sind offensichtlich in hohem Maße abhängig von vier miteinander zusammenhängenden Elementen: Schaffung neuen Wissens, Einbringung dieses Wissens in die allgemeine und berufliche Bildung, Verbreitung mittels Informations- und Kommunikationstechnologien und Nutzung durch die Industrie oder im Rahmen neuer Dienstleistungen. Die europäischen Hochschulen spielen demnach die Schlüsselrolle in diesem neuen Prozess.“
Bologna im gesellschaftlichen Kontext
„Was ist so verwerflich daran, mit besserer Bildung höher qualifizierte Arbeitskräfte hervorzubringen und damit die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken?“, werden viele Menschen fragen. Lassen wir die Studenten selber antworten: „Neben dem Kampf gegen Bologna als europäisches Bildungskonzept ist es uns genauso wichtig, den Bologna-Prozess in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen. Er ist Teil der EU-Lissabon-Strategie, die Bildung als Kapital sieht und damit der Wettbewerbsfähigkeit unterordnet. Außerdem bedeutet sie einen Angriff auf den Sozialstaat, den Ausverkauf öffentlichen Eigentums und die Anpassung der Lohnstandards nach unten. Unser Motto lautet daher: Gemeinsam dem Bildungs- und Sozialabbau entgegentreten.“
Wortwörtlich so formulierte es eine Sprecherin im Aufruf zur Wiener Bologna-Demo. Deshalb ist das am Anfang gebrauchte Wort „Revolution“ keineswegs übertrieben oder marktschreierisch. Es geht ums Ganze! Die jungen Menschen wollen sich nicht mehr für dumm verkaufen lassen. „Angesichts der Milliardenunterstützung für Banken ist das Argument der Politik, es gäbe weder Geld für die Finanzierung der öffentlichen Bildung noch für Pensionen und Sozialleistungen, blanker Zynismus“, heißt es in einer „Bologna-burns“-Erklärung. Wissen und Bildung stellt für die Aktivisten „als öffentliches Gut auch ein soziales Recht dar, und ihr Nutzen geht weit über den einer ökonomischen Verwertbarkeit hinaus“.
Eine Generation begehrt auf
Hier erhebt eine Generation selbstbewusst die Stimme und sagt es laut: „Niemand kann unser Denken regieren.“ Hier wird Jugend politisch, aber die alteingesessene Politik reagiert verschnupft, weil ja damit ihr ganzes Weltbild infrage gestellt wird. Doch die Jugend fordert Mitspracherecht: „Wir wollen selber über unsere Zukunft diskutieren, damit das nicht immer nur andere tun, und dann über unsere Zukunft entscheiden.“ So lautete auch das Motto des Alternativ-Gipfels „Endstation Bologna?!“, der im Anschluss an die Demonstration drei Tage lang zu Workshops und zum Aktiv-Mitgestalten einlud.
Nein, diese Jugend ist nicht unpolitisch. Diese Jugend will selbstbestimmt denken, Ansprüche formulieren und Visionen leben. Zitat: „Gemeinsam stehen wir für eine politische Praxis, die Menschen vor Profite stellt, über Alternativen eines sozialen Europas diskutiert und zu einer politischen Wende weg von Neoliberalismus hin zu solidarischen und verantwortungsvollen Formen des Zusammenlebens beiträgt.“ Aber wie soll das politische Establishment das verstehen, wo doch schon ein ehemaliger Bundeskanzler süffisant meinte: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“
Berechtigte Skepsis
Und wer die Skepsis der Studenten gegenüber Lissabon-Strategie und Bologna-Reform noch immer nicht nachvollziehen kann, dem sei der Punkt 20 der Lissabon-Erklärung ins Stammbuch geschrieben. Denn dort heißt es: „Effiziente und transparente Finanzmärkte tragen durch eine bessere Bereitstellung von Kapital und durch eine Verringerung der Kapitalkosten zu Wachstum und Beschäftigung bei.“ Und diese Absichtserklärung ist ja schließlich auch voll aufgegangen – oder doch nicht?
Da wundert es nicht, dass eine Demo-Teilnehmerin meinte: „Jetzt ist Kasachstan als 47. Bologna-Land aufgenommen worden. Ich frage mich bei dieser ganzen Bologna-Geschichte schön langsam, ob ich nicht einfach nur in einem neuen Borat-Film gelandet bin.“