Der Jazz der Geschäftsprozesse
Wilke August-Wilhelm Scheer: „Es kommt darauf an, das Gleichgewicht zwischen Struktur und Flexibilität zu finden. Natürlich braucht man Organisationsstrukturen, weil man sonst ins Chaos abgleitet. Aber man darf nicht überregulieren, weil man sonst in Bürokratie versinkt und die Innovationskraft abtötet.“
1975 gründete August-Wilhelm Scheer als Professor an der Universität Saarbrücken das Institut für Wirtschaftsinformatik. Schwerpunkt seiner Forschung war das Informations- und Geschäftsprozessmanagement.
1984 gründete er als Spin-off seines Instituts die IDS Scheer GmbH, die 1999 in eine börsennotierte AG umgewandelt wurde. Auf Basis seiner Forschung entwickelte er die wissenschaftliche Grundlage für das Aris-Konzept und die darauf aufbauende Aris-Software. 2008 erwirtschaftete das Unternehmen mit weltweit 3000 Mitarbeitern einen Umsatz von knapp 400 Mio. Euro.
economy: Welchen zentralen Ansatz verfolgen Sie mit Ihrem Business Process Management (BPM)?
August-Wilhelm Scheer: Wir erleben einen großen Wandel in den Organisationsparadigmen: vom Taylorismus, der Arbeitsabläufe in immer kleinere Schritte zerlegt und im vorigen Jahrhundert lange Zeit vorgeherrscht hat, hin zu einer ganzheitlichen Prozessbetrachtung. Der Grund liegt in der Informationsverarbeitung: weil man mehrere Tätigkeiten wieder an einem Arbeitsplatz macht. Viele Funktionen, die man früher auf verschiedene Personen verteilt hat, kann man wieder bündeln und in einem Ablauf erledigen, weil die Technik weiter ist.
Und dieser ganzheitlichen Prozessbetrachtung unterziehen Sie das ganze Unternehmen.
Genau, denn das, was – unterstützt durch die Informationstechnologie – an einem einzelnen Arbeitplatz passiert, sehen wir auch im gesamten Unternehmen: dass man die einzelnen Teile, die man auf Abteilungen zerstreut hat – und das Wort Abteilung ist ja schon selbsterklärend: man teilt ab –, wieder in einen Zusammenhang bringt und dadurch den gesamten Ablauf vom Anfang bis zum Ende durchorganisiert. Und das ist die Idee, die wir verfolgen.
Was unterscheidet die von Ihnen entwickelte Aris-Software von ähnlichen Programmen?
Die Software basiert ja auf einem theoretischen Konzept. Ich habe zuerst ein Buch geschrieben, anschließend haben wir die Software entwickelt. Dahinter steht also ein Rahmenkonzept; und das ist von der Konkurrenz schwer zu kopieren. Die Benutzeroberfläche oder so was, das kann man nachmachen, aber der Gedankengang, der dahintersteht, ist schwer zu kopieren. Insofern haben wir eine einzigartige Stellung.
Und was ist das Besondere an dieser Software?
Das Besondere ist der Ansatz, dass man Organisationsprobleme nicht von der Technologie her betrachtet. Sonstige Informationsverarbeitung ist ja immer sehr technologieorientiert; da geht es um neueste Datenbanksysteme oder die neueste Programmiersprache. Wir hingegen schauen, was man mit dieser Technologie eigentlich macht. Bei uns geht es vor allem um die Performance: Wie kann man den Nutzen messen, einen Prozess bewerten und Prozesse durch Verkürzung und Verschlankung optimieren?
Was hat den Wissenschaftler 1984 bewegt, mit dieser Idee ins Geschäftsleben einzutreten?
Sie müssen sehen: Das war damals höchst ungewöhnlich; vor 25 Jahren war ja die Kluft zwischen Wirtschaft und universitärer Forschung noch viel größer. Ich hatte in Saarbrücken ein großes Forschungsinstitut mit 70 Mitarbeitern, das ich von null weg aufgebaut hatte. Doch in der Forschung kam ich immer nur bis zum Prototyp eines Software-Systems; das war aber nie wirklich stabil und musste es auch nicht sein. Es gab zudem keine Strategie, es weiterzuentwickeln. Aber ein Produkt für den Markt muss stabil sein, weil ständig Tausende von Benutzern damit arbeiten. Deswegen braucht man, um ein Produkt zu entwickeln, eine andere Organisationsform.
Aber noch mal gefragt: Warum haben Sie das selber in die Hand genommen?
Ganz einfach: weil ich keinen anderen gefunden habe, der es machen wollte. Ich habe damals versucht, Industriepartner zu finden, die meine Idee umsetzen könnten. Aber die haben gesagt: Ja, die Idee ist sehr schön, aber da müssten wir investieren, und wir haben schon intern mehr Ideen, als wir umsetzen können. Da hab ich gesagt: Okay, wenn die es nicht wollen, und ich glaube an die Sache, muss ich es eben selber machen; und da habe ich die IDS Scheer GmbH gegründet.
Nun, Sie mussten ja auch investieren. Wie haben Sie die Finanzierung geschafft?
Ich hatte gerade nur 50.000 Deutsche Mark, um die GmbH zu gründen, aber ich hatte ein sehr gutes Geschäftsmodell: nämlich, dass man mit Consulting anfängt und dann die Rückflüsse aus dieser Beratungstätigkeit zur Entwicklung von Produkten einsetzt. Der Vorteil ist, dass man so schon ständig Kundenkontakt hat. Ich halte nicht so viel von den Modellen mit Venture Capital, wo man erst einmal zwei, drei Jahre im stillen Kämmerchen etwas entwickelt und hofft, in die nächste Finanzierungsrunde zu kommen. Das ist der falsche Fokus: Der Erfolg ist nicht, den Finanzier zu überzeugen, sondern der Erfolg ist, den Kunden zu überzeugen, der hinterher auch kauft.
Und Ihre Idee und Ihr Geschäftsmodell sind von Anfang an durchgestartet?
Ja; der Grund war natürlich auch, dass wir als Erste auf dem Markt waren. Und vor allem: Die Idee war neu. Das ist auch notwendig, sonst gibt es ja keinen Grund für ein neues Unternehmen. Wenn ein Unternehmen genau dasselbe macht, was andere auch schon haben, fragt man sich doch, was das soll. Also, man muss schon was Neues haben. Dann haben wir auch Kunden bekommen, die so ähnlich dachten wie wir. Auch wenn wir Daimler oder SAP als erste Kunden hatten, waren unsere Ansprechpartner im Grunde einige wenige Personen. Teilweise kamen die sogar von unserem Institut, hatten also die gleiche Denkweise wie wir.
Man kann also sagen, dass Sie selbst zum einen mit Forschung und Lehre und zum anderen mit Ihren wirtschaftlichen Aktivitäten dieses Feld aufbereitet haben.
Ja, und ich habe das ja immer parallel betrieben; ich bin aus meinem Universitätsjob erst vor drei Jahren emeritiert worden. Dadurch hatte ich immer einen leicht distanzierten Blick auf das Unternehmen; ich konnte immer abgleichen, was die Trends in der Wissenschaft sind und was die IDS macht. Mit Blickrichtung vom Unternehmen auf das Forschungsins-titut konnte ich sehen, ob das, was in der Forschung gemacht wurde, eine Chance hatte, umgesetzt zu werden; und umgekehrt konnte ich sehen, ob das, was wir bei der IDS machten, veraltetes Zeug war oder noch auf der Höhe der Zeit.
Wie beurteilen Sie im Rückblick den Börsengang Ihres Unternehmens 1999?
Es war absolut richtig, an die Börse zu gehen, weil das Unternehmen damit einen wesentlich höheren Bekanntheitsgrad erreicht und von der Wirtschafts-und Finanzpresse stärker beachtet wird. Das Geld, das dadurch hereinkommt, muss man allerdings vernünftig einsetzen. Wir sind ja kurz vor dem Höhepunkt der Internet-Blase an die Börse gegangen. Viele Unternehmen haben damals andere Unternehmen zu weit überhöhten Preisen gekauft und damit das Geld gleichsam aus dem Fenster geschmissen. Das haben wir nicht gemacht; wir haben sorgfältig überlegt, welche Unternehmen wir zukaufen wollten, und haben das auch ganz gut hingekriegt.
Welche Auswirkungen brachte die Börsennotierung für das Unternehmen mit sich?
Der Druck ist dadurch natürlich enorm gestiegen, weil jedes Quartal berichtet werden muss. Aber das ist auch heilsam, weil das Unternehmen ständig unter Kontrolle ist. Man muss nur aufpassen, dass das nicht auf Kosten der mittel- und langfristigen Entwicklung geht. Aber man kann mit den Analysten reden und ihnen die Entwicklungsvorhaben und Investitionen kommunizieren. Dann kann die Ebitda-Marge kurzfristig ein bisschen runtergehen, aber man muss in ein, zwei Jahren auch die Zahlen liefern, die man versprochen hat. Dieses Zuverlässigsein-Müssen hat eine sehr heilsame Wirkung auf das Unternehmen.
Sie weisen gerne auf die Analogie zwischen Jazz und Unternehmensführung hin. Was haben Prozesse und improvisierte Musik gemeinsam?
Dass es darauf ankommt, das Gleichgewicht zwischen Struktur und Flexibilität zu finden. Natürlich braucht man Organisationsstrukturen, weil man sonst ins Chaos abgleitet. Aber man darf nicht überregulieren, weil man sonst in Bürokratie versinkt und die Innovationskraft abtötet. Und wie im Jazz gibt es auch in der Unternehmensführung kein einfaches Textbuch, aus dem man alles lernen kann. Ich vergleiche Unternehmensführung mit Jazz, weil beide eine Gesamtleistung erzeugen und dafür das Zusammenspiel und die Kreativität unterschiedlicher Menschen brauchen. Beim Jazz übernimmt jeder Musiker Verantwortung für den Gesamtklang, hat aber in der Ausgestaltung seines Parts großen Freiraum und kreative Freiheit.
Und umgelegt auf Geschäftsprozesse bedeutet das?
Auch in modernen Organisationen brauchen wir einerseits ein Gerüst, das die Prozesse festlegt, andererseits müssen wir aber noch so viele Freiheiten haben, dass man auch Abweichungen davon organisieren kann. Deswegen hat ein gutes Workflow-System immer auch ein Exception-Handling; dass man also Ausnahmeregeln machen kann oder die Prozesse im Rahmen einer generellen Struktur ad hoc festlegt. Man hat zwar ein Rahmenkonzept, wie ein Kundenauftrag bearbeitet wird, aber wenn ein Auftrag kommt, erhält der seine individuelle Beschreibung ad hoc, weil er ja ganz eigene Eigenschaften und Anforderungen hat.
Sie würden dann, analog zur Jazz-Terminologie, von Improvisation sprechen.
Ja, das ist genau wie beim Jazz. Wenn die eine Lösung nicht funktioniert oder man einen Fehler gemacht hat, dann liegt vielleicht die richtige Lösung nur knapp daneben. Wenn man meint, man habe einen falschen Ton gegriffen, braucht man nur einen Halbton höher oder tiefer zu gehen, und der passt dann schon wieder zu der Harmonie. Das ist ein wichtiger Punkt: dass man nicht bürokratisch sagt, Projekt aufsetzen, so und so ist die Aufgabe, und wenn es nicht klappt, geh ich wieder zum Start zurück, sondern dass man überlegt, wo können Lösungen in der Nähe liegen, die besser funktionieren als die ursprüngliche.
Wie bei dem von Ihnen oft zitierten Beispiel Honda.
Genau so. In den 90er Jahren plante Honda den Markteintritt mit schweren Motorrädern in den USA. Ein Team wurde losgeschickt, war aber nur mit geringem Budget ausgestattet; deswegen nahm es für die eigene Fortbewegung lediglich Leichtmotorräder mit. Da in den USA durch Marken wie Harley Davidson bereits ein erfolgreicher heimischer Markt für schwere Maschinen bestand, war es für Honda schwer, in dieses Marktsegment einzudringen. Das Team merkte aber, dass Leichtmotorräder ein Erfolg sein könnten. Daraufhin wurde die ursprüngliche Strategie spontan geändert, und Honda konnte in dem neu anvisierten Marktsegment erfolgreich punkten.
Sie betreiben Ihr Saxofonspiel mit viel Enthusiasmus. Machen Sie das auch für Ihre persönliche Entwicklung?
Schon, denn der Mensch ist ja mehrdimensional; jeder hat mehrere Seiten an sich: berufliche, private, gesellschaftliche, individuelle. Und man kann die Dinge ja nicht nacheinander machen, sondern nur parallel. Bei mir gibt es die wissenschaftliche Seite, dann die unternehmerische, etwas die politische und zusätzlich auch die künstlerische Seite. Ich mache das unheimlich gerne. Es ist auch ein wenig Teil meines Anti-Aging-Programms, weil beim Jazz muss man schnell denken, man hat eine emotionale Beziehung zur Musik und man muss die Motorik beherrschen. Und man kann das bis ins hohe Alter machen.
Sie sind jedenfalls schon deutlich älter, als es John Coltrane geworden ist.
Das stimmt; und den Charlie Parker hab ich sogar schon verdoppelt.
Economy Ausgabe 79-12-2009, 18.12.2009