Der Jazz der Geschäftsprozesse
Andy Urban August-Wilhelm Scheer: „Es kommt darauf an, das Gleichgewicht zwischen Struktur und Flexibilität zu finden. Natürlich braucht man Organisationsstrukturen, weil man sonst ins Chaos abgleitet. Aber man darf nicht überregulieren, weil man sonst in Bürokratie versinkt und die Innovationskraft abtötet.“
1975 gründete August-Wilhelm Scheer als Professor an der Universität Saarbrücken das Institut für Wirtschaftsinformatik. Schwerpunkt seiner Forschung war das Informations- und Geschäftsprozess-Management.
1984 gründete er als Spin-off seines Instituts die IDS Scheer GmbH, die 1999 in eine börsennotierte AG umgewandelt wurde. Auf Basis seiner Forschung entwickelte er die wissenschaftliche Grundlage für das Aris-Konzept und die darauf aufbauende Aris-Software. 2008 erwirtschaftete das Unternehmen mit weltweit 3000 Mitarbeitern einen Umsatz von knapp 400 Mio. Euro.
Welchen zentralen Ansatz verfolgen Sie mit Ihrem Business Process Management (BPM)?
Wir erleben einen großen Wandel in den Organisationsparadigmen: vom Taylorismus, der Arbeitsabläufe in immer kleinere Schritte zerlegt und im vorigen Jahrhundert lange Zeit vorgeherrscht hat, hin zu einer ganzheitlichen Prozessbetrachtung. Der Grund liegt in der Informationsverarbeitung: weil man mehrere Tätigkeiten wieder an einem Arbeitsplatz macht. Viele Funktionen, die man früher auf verschiedene Personen verteilt hat, kann man wieder bündeln und in einem Ablauf erledigen, weil eben die Technik weiter ist.
Und dieser ganzheitlichen Prozessbetrachtung unterziehen Sie das ganze Unternehmen.
Genau, denn das, was – unterstützt durch die Informationstechnologie – an einem einzelnen Arbeitplatz passiert, sehen wir auch im gesamten Unternehmen: dass man die einzelnen Teile, die man auf Abteilungen zerstreut hat – und das Wort Abteilung ist ja schon selbsterklärend: man teilt ab –, wieder in einen Zusammenhang bringt und dadurch den gesamten Ablauf von Anfang bis zum Ende durchorganisiert. Und das ist die Idee, die wir verfolgen.
Was unterscheidet die von Ihnen entwickelte Aris-Software von ähnlichen Programmen?
Die Software basiert ja auf einem theoretischen Konzept. Ich habe zuerst ein Buch geschrieben, und anschließend haben wir die Software entwickelt. Dahinter steht also ein Rahmenkonzept; und das ist von der Konkurrenz schwer zu kopieren. Die Benutzeroberfläche oder so was, das kann man nachmachen, aber der Gedankengang, der dahintersteht, der ist schwer zu kopieren. Insofern haben wir schon eine einzigartige Stellung.
Und was ist das Besondere an dieser Software?
Das Besondere ist der Ansatz, dass man Organisationsprobleme nicht von der Technologie her betrachtet. Sonstige Informationsverarbeitung ist ja immer sehr technologieorientiert; da geht es um neueste Datenbanksysteme oder die neueste Programmiersprache. Wir hingegen schauen, was man mit dieser Technologie eigentlich macht. Bei uns geht es vor allem um die Performance: Wie kann man den Nutzen messen, einen Prozess bewerten und Prozesse durch Verkürzung und Verschlankung optimieren?
Was hat den Wissenschaftler 1984 bewegt, mit dieser Idee ins Geschäftsleben einzutreten?
Sie müssen sehen: Das war damals höchst ungewöhnlich; vor 25 Jahren war die Kluft zwischen Wirtschaft und universitärer Forschung noch viel größer. Ich hatte in Saarbrücken ein großes Forschungsinstitut mit 70 Mitarbeitern, das ich von null weg aufgebaut hatte. Doch in der Forschung kam ich immer nur bis zum Prototyp eines Software-Systems; das lief aber nie wirklich stabil. Es gab auch keine Strategie, es weiterzuentwickeln, keinen Vertrieb, kein Marketing, kein Benutzerhandbuch, gar nichts. Die Software diente ja nur dazu, ab und an für einen Vortrag oder im Rahmen einer Dissertation vorgeführt zu werden, aber sie musste nicht der Anwendung von Tausenden von Benutzern gerecht werden. Und insofern brauchte die Software auch nicht stabil zu sein. Genau das ist aber der Unterschied zwischen einem Prototypen, wie er in der Forschung entsteht, und einem Produkt, das alle diese Bedingungen erfüllen muss. Ein Produkt für den Markt muss stabil sein; es darf nicht ständig abstürzen, wenn Tausende von Benutzern damit arbeiten. Dafür braucht es eine konstante Entwicklungstruppe – an der Uni hat man die Assistenten immer nur drei, vier Jahre, dann gehen sie weg, und mit ihnen verschwindet das Know-how. Deswegen braucht man, um ein Produkt zu entwickeln, eine andere Organisationsform.
Aber noch mal gefragt: Warum haben Sie das selber in die Hand genommen?
Ganz einfach: Weil ich keinen anderen gefunden habe, der es machen wollte. Ich habe damals versucht, Industriepartner zu finden, die meine Idee umsetzen könnten. Aber die haben gesagt: Ja, die Idee ist sehr schön, aber da müssten wir investieren, und wir haben schon intern mehr Ideen, als wir umsetzen können. Da hab ich gesagt: Okay, wenn die es nicht wollen, und ich glaub an die Sache, dann muss ich es eben selber machen; und da hab ich die IDS Scheer GmbH gegründet.
Nun, Sie mussten ja auch investieren. Wie haben Sie die Finanzierung geschafft?
Ich hatte gerade nur 50.000 DM, um die GmbH zu gründen, aber ich hatte ein sehr gutes Geschäftsmodell: nämlich, dass man mit Consulting anfängt und dann die Rückflüsse aus dieser Beratungstätigkeit zur Entwicklung von Produkten einsetzt. Der Vorteil ist, dass man dann schon ständig Kundenkontakt hat. Ich halte nicht so viel von den Modellen mit Venture Capital, wo man erst einmal zwei, drei Jahre im stillen Kämmerchen etwas entwickelt und hofft, in die nächste Finanzierungsrunde zu kommen. Das ist der falsche Fokus: Der Erfolg ist nicht, den Finanzier zu überzeugen, sondern der Erfolg ist, den Kunden zu überzeugen, der hinterher auch kauft.
Und Ihre Idee und Ihr Geschäftsmodell sind von Anfang an durchgestartet?
Ja; der Grund war natürlich auch, dass wir als Erste auf dem Markt waren. Und vor allem: Die Idee war neu. Das ist ebenso notwendig, sonst gibt es ja keinen Grund für ein neues Unternehmen. Wenn ein Unternehmen genau dasselbe macht, was andere auch schon haben, dann fragt man sich doch, was das soll. Also man muss schon was Neues haben. Dann haben wir auch Kunden bekommen, die so ähnlich dachten wie wir. Auch wenn wir Daimler oder SAP als erste Kunden hatten, waren unsere Ansprechpartner im Grunde einige wenige Personen. Teilweise kamen die sogar von unserem Institut, hatten also die gleiche Denkweise wie wir.
Man könnte also überspitzt sagen, Sie haben Ihre Ansprechpartner in der Wirtschaft vorher in Ihrem Institut ausgebildet.
Na ja, nicht so ganz, aber bei einigen ist das schon der Fall gewesen.
Aber man kann sagen, dass Sie selbst zum einen mit Forschung und Lehre und zum anderen mit Ihren wirtschaftlichen Aktivitäten dieses Feld aufbereitet haben.
Ja, und ich hab das ja immer parallel betrieben; ich bin aus meinem Universitätsjob erst vor drei Jahren emeritiert worden. Dadurch hatte ich immer einen leicht distanzierten Blick auf das Unternehmen; ich konnte immer abgleichen, was die Trends in der Wissenschaft sind und was die IDS macht. Mit Blickrichtung vom Unternehmen auf das Forschungsinstitut konnte ich sehen, ob das, was in der Forschung gemacht wurde, eine Chance hatte, umgesetzt zu werden; und umgekehrt konnte ich sehen, ob das, was wir bei der IDS machten, veraltetes Zeug war oder noch auf der Höhe der Zeit.
Ich habe gelesen, dass Sie von Ihren Forschungskollegen, ich sage mal den Lehrpuristen, am Anfang etwas scheel angeschaut wurden oder sogar Gegenwind bekommen haben.
Ja, ein sogar recht bekannter Kollege hat einen Brief an das Ministerium geschrieben: Also, man müsste doch einmal nachschauen, was ich denn da eigentlich mache und ob das überhaupt mit den rechtlichen Gegebenheiten eines Universitätsprofessors vereinbar wäre. Ich weiß das vom gegenwärtigen Ministerpräsidenten vom Saarland, Peter Müller, er war zu der Zeit Assistent am juristischen Lehrstuhl. Und dieser Hinweis wurde damals zum Anlass genommen, zu überprüfen, ob das denn nicht ein Verstoß gegen den Grundgesetz-Artikel über die Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre wäre.
Aber diese Haltung hat sich doch seither deutlich verändert.
Auf jeden Fall, denn heute sieht man doch, dass, wenn wir als Volkswirtschaft innovativ bleiben wollen, wir diese Verbindung zwischen Forschung und Umsetzung enger schließen müssen. Heute werden Professoren eher animiert, Unternehmen zu gründen. Ich durfte auch als Universitätsprofessor kein Geschäftsführer im Unternehmen sein. Am Anfang war ich das, war ich der erste Geschäftsführer, weil der einzige Mitarbeiter, aber dann gab es einen Brief vom Kultusminister, dass ich das nicht sein durfte.
Wie aber haben Sie den dann folgenden Wertewandel oder den Wandel der alten Sichtweise erlebt?
Ich möchte das mit einer Ergänzung zum vorigen Punkt beantworten. Ich habe das positiv dargestellt, dass nun auch viele Universitätsprofessoren Unternehmen gründen oder auch die Forschungsinstitutionen selber, wie die Max-Planck-Gesellschaft oder die Fraunhofer-Gesellschaft, die heute ausweisen, dass sie Gründungen haben und das auch forcieren. Aber keines dieser Unternehmen ist bisher auf die Größenordnung von IDS Scheer gekommen; also zwischen 2000 und 5000 Mitarbeiter. Häufig bleiben diese Unternehmen relativ klein und werden dann aufgekauft, gerade auch von größeren ausländischen Unternehmen. Das bedeutet, dass wir als Volkswirtschaft mit Steuergeldern und der Forschungsförderung diese riskante Aufbauphase unterstützen, auch noch den Sprung in Unternehmensgründungen, und dann werden diese Unternehmen von anderen aufgekauft. Und das ist ein Ansatz, der aus Sicht des Steuerzahlers einfach nicht vernünftig ist. Wenn man die ersten Phasen unterstützt, muss man sehen, dass man dann auch in den Genuss jener Phasen kommt, wo die Steuern wieder zurückgezahlt werden.
Also, Forschung und Implementierung werden aus Steuergeldern finanziert, und die späteren Erträge und Gewinne werden privatisiert.
Genau, privatisiert oder sogar ins Ausland verkauft. Wir müssen versuchen, dass wir die Unternehmen auch selbst groß machen. Deswegen habe ich ebenso in der Politik immer eine derartige Wachstumsstrategie gefordert, weil ich glaube, dass das der größte Engpass ist. Wir in Europa sind gut in der Forschung, die Unternehmensgründungen könnten besser sein, aber unterm Strich kriegen wir da zu wenige internationale Player raus. Ich habe in Deutschland ein Programm „100 mal 100“ gefordert, also in kurzer Frist 100 Unternehmen zu identifizieren und die auf einen Umsatz von jeweils 100 Mio. Euro zu bringen. Das wäre ein Niveau von 500 Mitarbeitern, und damit kann man sich auch internationalisieren.
Einfache Formel, großes Ziel.
Ja, und mittlerweile hat auch die Politik versucht, das zu übernehmen. Es wurde schon einmal versucht, 100 Unternehmen zu identifizieren, aber wir haben keine gefunden. Und das zeigt ja den dringenden Bedarf: Wenn wir gar keine Unternehmen mit der Perspektive haben, in fünf Jahren auf 100 Mio. Umsatz zu kommen, dann sehen wir, dass wir da ein echtes Problem haben.
Sie hatten Angebote, in die Politik zu gehen, und sind ja so ein Entwickler von Ideen. Was hat Sie abgehalten, diesen Schritt zu tun?
Ich bin ja in gewisser Weise in der Politik tätig, als Präsident von Bitkom (Anm. d. Red.: Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien). Ich habe in dieser Funktion viele Ansprechpartner in der Politik, mit denen ich dann solche Fragen diskutiere. Es stimmt, vor zehn Jahren habe ich einmal überlegt, Wirtschaftsminister im Saarland zu werden, aber da hätte ich meine Rolle bei IDS Scheer aufgeben müssen. Gerade zu der Zeit war ja der Börsengang des Unternehmens, und das hätte unglaubwürdig ausgesehen: Erst geht er mit seinem Unternehmen an die Börse, und dann macht er was anderes. Ich hätte letztlich das Unternehmen im Stich gelassen, und das wollte ich verständlicherweise nicht.
Wie beurteilen Sie im Rückblick den Börsengang Ihres Unternehmens 1999?
Es war absolut richtig, an die Börse zu gehen, weil das Unternehmen damit einen wesentlich höheren Bekanntheitsgrad erreicht und von der Wirtschafts-und Finanzpresse stärker beachtet wird. Das Geld, das dadurch hereinkommt, muss man allerdings vernünftig einsetzen. Wir sind ja kurz vor dem Höhepunkt der Internet-Blase an die Börse gegangen. Viele Unternehmen haben damals andere Unternehmen zu weit überhöhten Preisen gekauft und damit das Geld gleichsam aus dem Fenster geschmissen. Das haben wir nicht gemacht; wir haben sorgfältig überlegt, welche Unternehmen wir zukaufen wollen, und haben das auch ganz gut hingekriegt.
Welche Auswirkungen brachte die Börsennotierung für das Unternehmen mit sich?
Der Druck ist dadurch natürlich enorm gestiegen, weil jedes Quartal berichtet werden muss. Aber das ist auch heilsam, weil das Unternehmen ständig unter Kontrolle ist. Man muss nur aufpassen, dass das nicht auf Kosten der mittel- und langfristigen Entwicklung geht. Aber man kann mit den Analysten reden und ihnen die Entwicklungsvorhaben und Investitionen kommunizieren. Dann kann die Ebitda-Marge kurzfristig ein bisschen runtergehen, aber man muss dann in ein, zwei Jahren auch die Zahlen liefern, die man versprochen hat. Dieses Zuverlässigsein-Müssen hat eine sehr heilsame Wirkung auf das Unternehmen.
Anderes Thema: Wie haben Sie die Bereitschaft erfahren, innovative Entwicklungen anzunehmen? Können Sie kurz eine Art Landkarte der Innovationsbereitschaft skizzieren.
Da sieht man natürlich große Unterschiede. Es wird häufig gesagt, und das stimmt aus meiner Sicht auch, dass Amerika wesentlich robuster in der Annahme neuer Ideen ist; in Deutschland müssen die schon perfektioniert sein, bevor man sie einsetzt. Amerikanische Produkte gehen häufig schon mit Beta-Versionen auf den Markt. Da wird viel stärker der Spieltrieb angesprochen, dass man mit etwas Neuem arbeiten muss; das Produkt muss noch nicht bis ins Letzte stabil sein, dort werden solche Schwächen akzeptiert. In Deutschland ist das weniger der Fall, deswegen brauchen wir dann auch manchmal ein bisschen länger mit Neuentwicklungen. In Japan ist man sehr detailorientiert und verspielt, liebt witzige Ideen, ist aber auch neugierig. China, das auf der Aufholjagd ist, ein Land, das uns mittlerweile schon als die Region der Vergangenheit ansieht, ist enorm aufgeschlossen, kopiert aber auch viel. Die kommen, sag ich gern, vom Kopieren zum Kapieren. Und das ist ja auch nicht schlecht, das hat Japan auch gemacht. Die haben schon in den 50er Jahren kopiert und danach darauf aufbauend eigene Dinge entwickelt. Und in China ist das Kopieren ja teilweise auch eine Ehrenbezeugung. Man will nicht jemandem etwas stehlen, wie es bei uns oft dargestellt wird, sondern man drückt jemandem auch seine Anerkennung aus, indem man ihn kopiert. Da prallen dann unterschiedliche Kulturen, rechtliche Systeme und Interessen aufeinander.
Sie weisen gerne auf die Analogie zwischen Jazz und Unternehmensführung hin. Was haben BPM und improvisierte Musik gemein?
Dass es darauf ankommt, das Gleichgewicht zwischen Struktur und Flexibilität zu finden. Natürlich braucht man Organisationsstrukturen, weil man sonst ins Chaos abgleitet. Aber man darf nicht überregulieren, weil man sonst in Bürokratie versinkt und die Innovationskraft abtötet. Und wie im Jazz gibt es auch in der Unternehmensführung kein einfaches Textbuch, aus dem man alles lernen kann. Ich vergleiche Unternehmensführung mit Jazz, weil beide eine Gesamtleistung erzeugen und dafür das Zusammenspiel und die Kreativität unterschiedlicher Menschen brauchen. Beim Jazz übernimmt jeder Musiker Verantwortung für den Gesamtklang, hat aber in der Ausgestaltung seines Parts großen Freiraum und kreative Freiheit.
Und umgelegt auf Geschäftsprozesse bedeutet das?
Auch in modernen Organisationen brauchen wir einerseits ein Gerüst, das die Prozesse festlegt, andererseits müssen wir aber noch so viele Freiheiten haben, dass man auch Abweichungen davon organisieren kann. Deswegen hat ein gutes Workflow-System immer auch ein Exception-Handling; dass man also Ausnahmeregeln machen kann oder die Prozesse im Rahmen einer generellen Struktur ad hoc festlegt. Man hat zwar ein Rahmenkonzept, wie ein Kundenauftrag bearbeitet wird, aber wenn ein Auftrag kommt, erhält der seine individuelle Beschreibung ad hoc, weil er ja ganz eigene Eigenschaften und Anforderungen hat.
Sie würden dann, analog zur Jazz-Terminologie, von Improvisation sprechen.
Ja, das ist genau wie beim Jazz. Wenn die eine Lösung nicht funktioniert oder man hat einen Fehler gemacht, dann liegt vielleicht die richtige Lösung nur knapp daneben. Wenn man meint, man hat einen falschen Ton gegriffen, braucht man nur einen Halbton höher oder tiefer zu gehen, und der passt dann schon wieder zu der Harmonie. Das ist ein wichtiger Punkt: dass man nicht bürokratisch sagt, Projekt aufsetzen, so und so ist die Aufgabe, und wenn es nicht klappt, geh ich wieder zum Start zurück, sondern dass man überlegt, wo können Lösungen in der Nähe liegen, die besser funktionieren als die ursprüngliche.
Wie bei dem von Ihnen oft zitierten Beispiel Honda.
Genau so. In den 90er Jahren plante Honda den Markteintritt mit schweren Motorrädern in den USA. Ein Team wurde losgeschickt, war aber nur mit geringem Budget ausgestattet; deswegen nahm es für die eigene Fortbewegung lediglich Leichtmotorräder mit. Da in den USA durch Marken wie Harley Davidson bereits ein erfolgreicher heimischer Markt für schwere Maschinen bestand, war es für Honda schwer, in dieses Marktsegment einzudringen. Das Team merkte aber, dass Leichtmotorräder ein Erfolg sein könnten. Daraufhin wurde die ursprüngliche Strategie spontan geändert, und Honda konnte in dem neu anvisierten Marktsegment erfolgreich punkten.
Sie betreiben Ihr Saxofonspiel mit viel Enthusiasmus. Machen Sie das auch für Ihre persönliche Entwicklung?
Schon, denn der Mensch ist ja mehrdimensional; jeder hat mehrere Seiten an sich: berufliche, private, gesellschaftliche, individuelle. Und man kann die Dinge ja nicht nacheinander machen, sondern nur parallel. Bei mir gibt es die wissenschaftliche Seite, dann die unternehmerische, etwas die politische und zusätzlich auch die künstlerische Seite. Ich mache das unheimlich gerne. Es ist auch ein wenig Teil meines Anti-Aging-Programms, weil beim Jazz muss man schnell denken, man hat eine emotionale Beziehung zur Musik und man muss die Motorik beherrschen. Und man kann das bis ins hohe Alter machen.
Sie sind jedenfalls schon deutlich älter, als es John Coltrane geworden ist.
Das stimmt; und den Charlie Parker hab ich sogar schon verdoppelt.
Welche Pläne haben Sie für die nächste Zukunft?
IDS Scheer hat ja jetzt einen neuen Eigentümer, da halte ich mich im Moment bewusst zurück, obwohl ich immer noch in viele Diskussionen eingebunden bin. Aber mir gehört ja – zu 60 Prozent – noch ein zweites Unternehmen, IMC (Anm. d. Red.: Information Multimedia Communication AG), das E-Learning-Systeme entwickelt; das ist nicht so groß, hat aber immerhin auch zwischen 150 und 200 Mitarbeiter. Und dann bin ich noch als Bitkom-Präsident und in verschiedenen Aufsichtsräten tätig.
Was sind Ihre persönlichen Ziele und Wünsche?
Ich bin in einer Umbruchphase. Mein Vermögen, das vorher im Unternehmen IDS Scheer steckte, habe ich jetzt in einer anderen Form, nämlich auf dem Bankkonto. Aber Bankkonten sind ja langweilig. Man muss sehen, dass man mit dem Geld auch etwas Vernünftiges macht. Ich will nichts überstürzen, aber ich kann damit Sponsoring-Aktivitäten im künstlerischen und im wissenschaftlichen Bereich finanzieren. Ich habe bereits zwei Stiftungen gegründet. Dafür überlege ich mir Konzeptionen, habe aber derzeit noch kein fertiges Konzept. Aber ich habe viele Ideen, die mir am Herzen liegen. Beispielsweise gibt es jetzt eine starke Diskussion über Managergehälter; und da muss man fragen, woran das liegt, dass die Dinge aus dem Ruder laufen, und wie man dagegensteuern kann. Generell glaube ich, dass in Europa gute Manager fehlen und man überlegen sollte, wie man dieses Gebiet mit Ethik verknüpfen und neue Ausbildungsmodelle für Manager entwickeln kann. Das interessiert mich, und da könnte ich wieder etwas bewegen.
Wollte ich gerade sagen, denn das ist ja ein weites Feld.
Ja, eben. Nur mal so eine Idee: dass ich ein Coaching für, sagen wir einmal, zehn Nachwuchsmanager ausschreibe. Ich kenne in dem Bereich wirklich gute Leute. Da kann man sich dann einmal im Monat zu einem Kaminabend treffen, und dort hält ein renommierter Manager einen kurzen Vortrag und diskutiert anschließend mit den zehn Leuten. Ich glaube, dass man Werte nur durch solche persönlichen Gespräche vermitteln kann; dass da Beispiele erzählt werden, dass berichtet wird, wie sich andere in unterschiedlichen Situationen verhalten haben, und dass man dann darüber ins Reden kommt. Ich denke das so, dass man in den Unternehmen High Potentials so um Mitte 30, die das Zeug haben, mal in höhere Positionen zu kommen, identifiziert und die schon einmal in Diskussion mit gestandenen und erfahrenen Managern bringt. Ich kenne ja auch diese Karrieristen, so nach dem Motto „Me, Myself & I“, die nur an sich selbst und ihr Fortkommen denken, schon fast autistisch sind und ihr ganzes Umfeld gar nicht richtig einschätzen können. Ich bin derzeit schon in die Analyse und Bewertung solcher High Potentials eingebunden, und ich muss Ihnen sagen, es ist wirklich so, dass die, die die besten Noten bekommen, tendenziell eine kleine Macke haben. Das ist leider so.
Also, wie man so sagt, dass Genies immer auch an etwas anderen Zuständen entlangschrammen.
Die stabilen Mitarbeiter, die das Unternehmen tragen, sind irgendwie durchschnittlich. Das ist aber auch positiv, denn die laufen nicht aus dem Ruder; aber die, die außergewöhnliche Ideen einbringen, die haben Ecken und Kanten und sind nicht so einfach; und da muss man sehen, wie man eben diese negativen Aspekte ein wenig abschleifen kann. Ich glaube, dass das nur durch Coaching, durch das individuelle Eingehen auf einzelne Persönlichkeiten funktioniert.
Economy Ausgabe 79-12-2009, 18.12.2009