Blitzlicht im Gehirn
Photos.com Die Hirnforschung widerlegt ihre eigenen Dogmen. Bisher galt, das Gehirn könne keine neuen Nervenzellen bilden. Der altersbedingte Verfall des Gehirns schien unumgänglich. Alles falsch. Das Gehirn kann doch Neuronen bilden. Wer Sport betreibt, fördert die Neurogenese. Wer ständig Neues lernt, erhält die kostbaren Zellen länger am Leben.
Hundert Milliarden Neuronen, die das Gehirn eines erwachsenen Menschen enthält, sind ab dem Ende der Lern- und Ausbildungsphase unterbeschäftigt. Wenn der Mensch seinen täglichen Tätigkeiten wie Aufstehen, Autofahren, Arbeiten und Ausruhen nachgeht, aber nichts Neues dazulernt, verkümmern die Nervenzellen im Gehirn. Selbst wenn dieser Mensch ein hyperaktiver Manager ist, aber im Wesentlichen nur das macht, was er bereits kann, atrophieren die Neuronen im Laufe der Zeit wie ein nicht gebrauchter Muskel. Bis am Ende die altersbedingte Vergesslichkeit oder gar Alzheimer einsetzt.
Dass Bewegung und richtige Ernährung den Alterungsprozess des Körpers verlangsamen können, ist mittlerweile Allgemeinwissen. Die Verkäufer diverser Zusatzstoffe, die Pharmabranche, die Kosmetikindustrie und die Schönheitschirurgen verdienen gut am Nicht-faltig-werden-Wollen.
Anti-Aging im Kopf
Dass wir ständig Neues lernen müssen, um unser Gehirn fit zu halten, ist relativ neu. Erst im vergangenen Jahrzehnt haben Neurowissenschaftler das bisherige Wissen über das Gehirn auf den Kopf gestellt und die Dogmen ihres Fachs zertrümmert.
Bis vor Kurzem galt, dass der Mensch mit einer bestimmten Menge an Neuronen auf die Welt kommt, die im Laufe des Lebens abgebaut werden. Die Neuronen vernetzen sich zwar über Milliarden von Synapsen miteinander, doch die Nervenzellen selber können keine neuen Zellen bilden. Ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Organen. Die Haut bildet nach einer Verletzung neue Hautzellen, die Knochen Knochenzellen, die Leber Leberzellen. Nur das Gehirn könne sich nicht regenerieren, glaubte man. „Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenstränge fix und unbeweglich“, schrieb 1913 der auf das Nervensystem spezialisierte Mediziner und Nobelpreisträger Santiago Ramón y Cajal. Er suchte jahrelang nach Anzeichen, dass sich Gehirn oder Rückenmark nach einer Verletzung regenerieren könnten. Vergeblich.
So blieben die Dinge fast ein Jahrhundert lang. Bis der Vogelkundler Fernando Nottebohm bemerkte, dass Singvögel jedes Jahr ein neues Lied zwitschern. Bei einer Untersuchung ihrer Gehirne entdeckte er, dass die Vögel im fürs Liederlernen zuständigen Areal neue Gehirnzellen entwickelt hatten. 1984 präsentierte er seine Ergebnisse einer skeptischen Forschergemeinde.
Am Dogma gekratzt
Man glaubte ihm nicht, und selbst wenn – es waren ja nur Vögel. 1989 entdeckte die junge Verhaltenspsychologin Elizabeth Gould, dass Ratten im Hippocampus neue Neuronen produzierten. Doch sie konnte ihre vom Mainstream weit abweichende Entdeckung ein Jahrzehnt lang nicht in den besten Wissenschaftsjournalen publizieren. 1997, mittlerweile Professorin an der Princeton University, entdeckte Gould neue Neuronen in Affenhirnen.
Zur ungefähr selben Zeit gelang dem schwedischen Neurowissenschaftler Peter Eriksson und dem US-Amerikaner Fred H. Gage, einem der Größten der Zunft, der erste Beweis, dass Neurogenese auch im Gehirn von Menschen stattfindet. Die Forscher analysierten die Gehirne von fünf an Krebs verstorbenen Patienten – mit Einverständnis der Familien. Den Patienten war ein Marker injiziert worden, der alle neu gebildeten Zellen sichtbar machte. Der Marker war Teil der Krebsbehandlung, um das Zellenwachstum des Tumors zu kontrollieren. Eriksson und Gage entdeckten tatsächlich neue Stammzellen im Hippocampus, die mithilfe der Marker sichtbar wurden. Das Paper wurde 1998 in Nature Medicine publiziert. Als führende Wissenschaftler, die die Neurogenese-Hypothese lang bekämpft hatten, die Methode selber anwendeten und ebenfalls neue Neuronen entdeckten, wurde die bahnbrechende Erkenntnis endlich akzeptiert.
Laufen tut Mäusehirnen gut
Unter welchen Bedingungen besonders viele Neuronen gebildet werden, haben Gage und sein Team an älteren Mäusen erforscht. Eine Mäusegruppe durfte sich mit Bällen, Laufrädern und anderem Spielzeug vergnügen, die zweite Gruppe hingegen lebte im Käfig. Nach 45 Tagen wurden die Mäuse getötet und ihre Gehirne untersucht. Die in anregender Umgebung lebenden Mäuse hatten 40.000 neue Neuronen gebildet – und um 15 Prozent mehr Neuronen als die Kontrollgruppe. Bei einem anderen Experiment durften Mäuse, die eine Lebenserwartung von zwei Jahren haben, in ihrer zweiten Lebenshälfte zehn Monate lang lernen. Nachher hatten sie fünfmal so viele neue Neuronen wie die Kontrollgruppe.
Die Wirkung des Mäuseklugheitsprogramms wurde genau untersucht: Mäuse, die viel Bewegung am Laufrad machten, bildeten überwiegend neue Neuronen aus. Bei Mäusen, die hauptsächlich das Spielzeug nutzten, blieben die im Gehirn bereits bestehenden Neuronen am längsten am Leben.
Gehirnjogging für Menschen
Auch für Menschen gibt es Spielzeug, um das Gedächtnis anzuregen. Eine ganze Kreuzworträtsel- und Sudokukultur soll nicht nur der Zerstreuung dienen, sondern Jogging fürs Gehirn sein.
Der Neurowissenschaftler Ryuta Kawashima veröffentlichte 2005 in Japan das Buch Train Your Brain und erlaubte Nintendo, eine Version für seine Spielkonsole herauszugeben. Beide Versionen wurden im Land, in dem es mehr als 40.000 über Hundertjährige gibt, Bestseller und bereits ins Englische übersetzt. Buch und Spiel bieten eine Mischung aus Rechenaufgaben, Geschichten-Nacherzählen und Sudoku.
Ob diese Art von Gehirnjogging sinnvoll ist, wird heftig diskutiert und wissenschaftlich erforscht. Als erwiesen gilt bisher nur eines: Nach eifrigem Sudoku-Lösen wird man tatsächlich schneller und besser – im Sudoku-Lösen. Essenziell wäre aber, die allgemeine Merkfähigkeit sowie alle für ein selbstständiges Leben wichtigen Gehirnfunktionen zu trainieren.
Der US-Neurowissenschaftler Michael Merzenich hat mehrere Computerprogramme kreiert, mit denen ältere Menschen ihre Hör- und Sehfähigkeit verbessern können. Mit dem neuesten Produkt „Drive Sharp“ soll die Fähigkeit trainiert werden, mehrere Objekte gleichzeitig wahrzunehmen und das altersbedingt eingeschränkte Gesichtsfeld wieder zu erweitern. Die Programme sind Folgeprodukte eines aufwendigen Computerspiels, das Merzenich und seine Kollegin Paula Tallal 1996 für legasthenische Kinder herausgebracht haben.
Rund fünf Prozent der Volksschulkinder haben Lese- und Rechtschreibprobleme, die als Legasthenie diagnostiziert werden. Tallal fand heraus, dass die Kinder Probleme haben, schnell ausgesprochene Konsonanten wie b, d, g, p, t und k zu unterscheiden. Sie vermutete, dass sich bei den Kindern das Hirnareal, das für die Verarbeitung der schnellen Laute zuständig ist, unvollständig entwickelt hatte.
Erfolg auch bei Autismus
Das unordentliche Hören der Konsonanten, so Tallals Vermutung, führe zu Schwächen in der gesamten Sprachentwicklung, beim Sprechen, Lesen und Schreiben. Merzenich und Tallal entwickelten das Computerprogramm Fast For Word, mit dem man Hören trainieren kann. Die Töne werden zuerst in die Länge gezogen und so lange abgespielt, bis das Gehirn die Unterscheidung gelernt hat. Dann werden die Töne immer schneller. Wer die lustig aufbereiteten Spiele – mit muhenden, fliegenden Kühen – täglich mehrere Wochen lang durchführte, reduzierte seine Sprachprobleme signifikant. Das ist das Ergebnis mehrerer, aber nicht aller, wissenschaftlichen Studien.
Das Programm hatte Nebenwirkungen. Eltern und Betreuer von autistischen Kindern ließen die Kinder damit üben, weil auch sie Sprachprobleme haben. Die unerwartete Folge: Nicht nur die Sprachprobleme der Kinder verringerten sich, sondern die autistischen Symptome überhaupt. Nun werden eigene Programme für autistische Menschen konzipiert.
Lange Zeit dachten Neurowissenschaftler, das Gehirn sei fest verdrahtet und unveränderbar. Jede Funktion wie Sprechen, Hören oder Motorik habe einen festen Platz im Gehirn. Sollte dieses Areal durch einen Unfall oder Schlaganfall beschädigt werden, sei auch die davon betroffene Funktion verloren. Das ist widerlegt. Das Gehirn ist plastisch. Es ist formbar. Mit dem richtigen Training können Schlaganfallpatienten wieder sprechen und gehen lernen. Dabei übernehmen gesunde Gehirnareale die Funktionen der geschädigten Areale. Diese umstürzlerischen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die Formbarkeit des Gehirns und die Bildung von Neuronen ein ganzes Leben lang sollten eigentlich die gesamte Einstellung zum Lernen und zum Leben verändern.
Lernen, so dachte man früher, falle Kindern und Jugendlichen leicht. Je älter ein Erwachsener, desto schwerer falle ihm das Lernen, weil das Gehirn schließlich kontinuierlich Neuronen abbaue. Tatsächlich lässt die Merkfähigkeit mit zunehmendem Alter nach, und die Vergesslichkeit nimmt zu. Ganz falsch, meint Merzenich. Auf die wahre Ursache der schwindenden Leistungsfähigkeit des Gehirns werde nämlich vergessen: Wir lernen zu wenig substanziell Neues. Wir fordern das Gehirn nicht mehr heraus. In der Kindheit lernen wir jeden Tag etwas Neues. Davon zehrt der Erwachsene ein Leben lang. Die Zeitung lesen, den Beruf ausüben, die Muttersprache sprechen – das ist nur die ständige Wiederholung von früher erlernten Kenntnissen und Fähigkeiten. Wenn man dann 70 Jahre alt wird, hat man ein halbes Jahrhundert lang sein Gehirn unterfordert.
Lernen wie ein Baby
Das wirksamste Rezept gegen mentalen Verfall stellt das Lernen dar: etwa das Erlernen einer neuen Sprache, eines Musikinstruments oder neuer Tänze. „Alles, was in einem jungen Gehirn passiert, kann auch in älteren Gehirnen passieren“, sagt Merzenich. „Die Veränderungen können genauso groß sein wie bei Neugeborenen.“
Die wichtigsten Voraussetzungen für Lernen sind Enthusiasmus und Geduld. Als Vorbild sollten wir uns kleine Kinder nehmen. „Beobachten Sie ein Baby, wenn es lernt zu essen“, sagt die Lernpädagogin Ingrid Niehsner. „Das Baby versucht, einen Löffel Brei in den Mund zu schieben. Der Brei landet auf der Wange, auf der Nase. Doch das Baby gibt nicht auf. Wenn es dann endlich den Löffel in den Mund bekommt, strahlt es über das ganze Gesicht.“
Niehsner arbeitet als Lerntrainerin am Wifi und an Fachhochschulen. Sie berät Menschen, die oft nach langer Lernabstinenz etwas Neues lernen. Ihr Tipp: den Lernstoff in kleine Einheiten einteilen und sich selber viel loben. „Man muss sich realistische Ziele setzen und jeden kleinen Erfolg würdigen.“ Der Unterschied zwischen Gelingen und Versagen liege in der Einschätzung der eigenen Leistung. „Erfolgsorientierte Menschen nehmen sich nicht vor, 30 Seiten eines schwierigen Skripts in einem Zug zu lernen. Sie nehmen sich realistische zehn Seiten vor.“ Wer sich zu hohe Ziele setzt und scheitert, wird entmutigt und läuft Gefahr, die Sache insgesamt aufzugeben.
Lerntrainer schöpfen aus einer Vielzahl von Methoden, die in den vergangenen Jahrzehnten – oft mit dem Anspruch des Alleinseligmachens – entwickelt worden sind. Etwa die „rational-emotive Therapie“, mit der man sich seiner – oft schädlichen – Glaubenssätze bewusst werden kann und so die Möglichkeit erhält, sie einfach zu ändern.
Oder die Suggestopädie des bulgarischen Neurologen Georgi Lozanov. Für das Sprachenlernen schlug Lozanov vor, zur Entspannung vor und während des Lernens Barockmusik zu spielen und den Unterricht mit Rollenspielen kreativ zu gestalten. Zwei US-Amerikanerinnen entwickelten die Methode zum „Superlearning“ weiter, was wiederum Lozanov nicht gefiel.
Wichtig ist jedenfalls eine das Gehirn optimal versorgende Ernährung. Und natürlich Sport. „Das Allerwichtigste aber ist die Begeisterung“, sagt Niehsner. „Sie trägt einen über die unvermeidlichen Hürden und Einbrüche hinweg.“
Buchtipp
Mit Neustart im Kopf hat der kanadische Psychoanalytiker Norman Doidge einen Sachbuchthriller geschrieben. Er erzählt von Neurowissenschaftlern wie Michael Merzenich, die in den vergangenen Jahren das Dogma, wonach das Gehirn nicht veränderbar sei, zerstört haben. So schildert er das Leiden einer Frau, die durch Überdosierung eines Antibiotikums ihren Gleichgewichtssinn verloren hatte. Sie lebte im Gefühl, immer zu fallen – selbst wenn sie bereits auf dem Boden lag. Bis der Rehabilitationsmediziner Paul Bach-y-Rita eine Vorrichtung für sie baute, mit der ihr Gehirn einen neuen Gleichgewichtssinn entwickelte.
Bach-y-Rita wiederum entdeckte die Plastizität des Gehirns durch seinen Vater, der einen Schlaganfall erlitten hatte. Er überwand seine Lähmung, indem er wie ein Baby das Krabbeln und dann das Gehen lernte. Nach dem Tod des Vaters erfuhr Bach-y-Rita, was für eine medizinische Sensation er geschafft hatte – weite Teile des Gehirns waren zerstört gewesen.
Norman Doidge: Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert
Campus Verlag 2008, 22 Euro
ISBN: 978-3593385341
Economy Ausgabe 76-09-2009, 25.09.2009