Genormtes Wissen für die Massen
APA/Helmut Fohringer Staatliche Schulen mögen zwar ihrem demokratischen Bildungsauftrag folgen, das inhärente Ziel ist allerdings nicht von der Hand zu weisen: mit dem Monopol auf Wissen Normen in der Gesellschaft sicherzustellen.
In demokratischen Gesellschaften herrscht gemeinhin die Auffassung, dass eine der wesentlichen Aufgaben des Staates die Zuverfügungstellung von Bildung sei. Dies ergibt natürlich auch in vielerlei Hinsicht Sinn. Bildung ist der Unterbau einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft, unerlässlich für ein Wachstum der Wirtschaft, für die kulturelle Selbstbestimmtheit und für politischen Diskurs, ohne den eine Demokratie nicht funktionieren kann.
Was Staaten allerdings aus diesem Bildungsauftrag machen, ist in höchstem Maße unterschiedlich. In Ländern mit angelsächsischem Kulturerbe, etwa in Großbritannien, den USA und Australien, ist der Bildungsauftrag eng mit Elitenbildung verknüpft, und daher wird Bildung, je höher sie ist, immer mehr zur käuflichen Ware. In europäischen Ländern mit liberaler oder sozialdemokratischer Tradition ist Bildung eine Sache, die der Staat, also die Gesellschaft zur Verfügung stellt, die also mehrheitlich kostenfrei oder nahezu kostenfrei ist.
Beide Systeme haben ihre Vorzüge und ihre Nachteile. In Großbritannien etwa ist die Teilnahmequote an Bildungswegen über die Schulpflicht hinaus im Vergleich zu anderen Industrienationen relativ gering. Dies wird teilweise auf die hohen Gebühren zurückgeführt, die für Schulbesuch und Hochschulbesuch mancherorts anfallen. In den USA ist es ähnlich. Hier werden teilweise sehr hohe Studiengebühren verlangt. Da die Universitäten in den USA ganz im Gegensatz zu den High Schools allerdings einen sehr hohen Status haben, nehmen es Eltern auf sich, sich entweder für das Studium zu verschulden oder aber bereits Jahre vorher Ersparnisse für die Ausbildung der Kinder anzulegen. In beiden Fällen ist somit Bildung mit dem jeweiligen Wohlstand der Familien verknüpft. Wer es sich nicht leisten kann, und das sind eben Bevölkerungsschichten mit geringem Einkommen oder Familien mit Migrationshintergrund, der bleibt von höherer Bildung meist ausgeschlossen.
Ganz anders in Europa, dort ist in den meisten Ländern der Besuch höherer Schulen und Universitäten kostenlos oder zumindest großzügig staatlich gefördert, womit es wesentlich niedrigere Barrieren für Schüler auch aus schwacheren Einkommensschichten gibt, zu höherer Bildung zu gelangen.
Verzerrte Akademikerquoten
Doch was sind die Effekte dieser beiden Zugänge? Anhand der Akademikerquoten der einzelnen Länder kann man schwer die Vorzüge oder Nachteile der beiden Systeme ablesen. So hat etwa Kanada mit einem ähnlichen Bildungssystem wie die USA traditionell eine der weltweit höchsten Akademikerquoten unter Jugendlichen mit fast 50 Prozent, allerdings knapp gefolgt von Finnland, Norwegen und Schweden, Ländern mit einem freien Hochschulzugang und einem großzügigen Stipendienwesen. Die USA, Belgien, Frankreich, Australien, Dänemark und Großbritannien folgen mit ebenfalls hohen Akademikerquoten. Eine Mischung also, aus der nicht notwendigerweise der Vorzug eines freien Hochschulzugangs oder teurer Bezahluniversitäten ablesbar ist. Nebenbei erwähnt liegt die Akademikerquote in Österreich bei mageren 14 Prozent.
Die Frage ist, was die Zahlen aussagen. Herauslesen kann man aus ihnen in erster Linie, welcher Teil der Bevölkerung als „universitär zugerichtete Arbeitskraft“ in den Wirtschaftskreislauf entlassen wird. Es herrsche in diesen Bildungssystemen, vor allem in den kostenpflichtigen, „eine Logik der Verwertung“, wie Ralf Hoffrogge, der Hochschulreferent des Allgemeinen Studierendenausschusses der Freien Uni Berlin, meint. Seine Kritik gilt naturgemäß den Studiengebühren: „Die Universitäten verlassen in diesem Prozess die staatliche Sphäre und treten direkt in einen marktförmig organisierten Wettbewerb. Nicht nur die universitär zugerichtete Arbeitskraft, sondern auch die modular genormte Bildung wird zur Ware, die per Studiengebühr erworben werden muss“, kritisiert Hoffrogge.
Der Vorteil von Bezahluniversitäten aber ist es wiederum, dass sie sich vom eng genormten Korsett der staatlichen Bildungspolitik freimachen können. So sind Privatuniversitäten, mögen sie noch so sehr von Drittmittelfinanzierung und von Geldgebern und Lobbygruppen abhängig sein, wenigstens bis zu einem gewissen Maß frei in der Wahl der Lehre. Anders bei den staatlichen höheren Schulen. Dort herrscht – etwa besonders intensiv bei Gymnasien in Österreich – die Vermittlung genormten Wissens vor, das sich nach starren Studienplänen richtet. Wer nun sagt, staatliche höhere Bildungsvermittlung setze zum Zwecke ihrer Administrierbarkeit auch eine gewisse Normung des Wissens voraus, mag verwaltungstechnisch recht haben.
Deschooling-Bewegung
Das Problem ist aber, dass genormtes Wissen vorhersehbares Verhalten erzeugt. Anders gesagt: Genormtes Wissen bedingt ein genormtes Leben, für das staatliche Gemeinwesen positiv, für das Individuum nicht so sehr. Mit dem Problem der Normung des Menschen durch die (staatlichen) Schulen hat sich schon eine Reihe von Pädagogen befasst. Am Ende dieser Nachdenkprozesse sind auch radikale Antworten auf dieses Phänomen entstanden.
So etwa das „Deschooling“-Konzept, geprägt vom österreichisch-amerikanischen Autor und Theologen Ivan Illich und getragen von einer ganzen Reihe von Schulkritikern, von Psychologen bis Anarchisten. Die „Deschooling“-Bewegung argumentiert, dass das Monopol der Schule auf die Vermittlung von Wissen und auf die Vergabe von Titeln und Berechtigungen gebrochen werden muss. Die Schule sei außerdem ein „politischer Akteur – und damit Gefängnissen, Hospitälern, Psychiatrien, Kasernen und Kirchen zu vergleichen –, indem sie politisch erzieht. Jeweils im Sinne dessen, der gerade die Macht im Staate hat. Und die Schule vermittle statt Aufklärung und freier Bildung hauptsächlich Leistungskonkurrenz und Normkonformität zur späteren Verwertbarkeit.
Economy Ausgabe 76-09-2009, 25.09.2009