Hörsaal statt Vorstrafe
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65 wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung angezeigte Jugendliche besuchten an der Uni Linz als Diversionsmaßnahme den Kurs „Geschichte und Demokratie“. Das Projekt ist seit einiger Zeit abgeschlossen, Niemand wurde rückfällig. Die Projektleiterinnen Irene Dyk-Ploss und Brigitte Kepplinger ziehen Bilanz.
Es waren großteils Mitläufer im Alter von 15 bis 20 Jahren, angezeigt wegen NS-Verherrlichung, Schmieraktionen, Sachbeschädigungen und Gewalttätigkeiten. In Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft Linz entwickelten Irene Dyk-Ploss und Brigitte Kepplinger vom Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Uni Linz mit dem Diplompsychologen Walter Hanke 2001 eine Lehrveranstaltung, die diese 50 Jugendlichen im Rahmen der Diversion besuchten und sich dadurch eine Vorstrafe ersparten. In der Endphase des Projekts kamen noch 15 Verurteilte hinzu, deren unbedingte Haftstrafe mit der Auflage, das Seminar zu besuchen, in eine bedingte umgewandelt wurde.
Das Diversionsprojekt an der Uni Linz lief 2003 aus, nachdem sich zu wenig Probanden fanden. Irene Dyk-Ploss arbeitet derzeit an einer umfassenden Evaluierung. Momentan gibt es kein vergleichbares Angebot in
Österreich.
economy: Es ist einige Zeit vergangen, seit das Diversionsprojekt abgeschlossen wurde. Was sind Ihre Erfahrungen damit?
Irene Dyk-Ploss: Unseres Wissens gab es bisher keine Rückschläge. Ich bin dabei, das zu evaluieren und die Kontakte wieder aufzunehmen, mit Einzelnen von den Jugendlichen und allen Staatsanwaltschaften, die wir hatten, zu reden.
Die Jugendlichen wurden von Studierenden in Tandems betreut. Fiel es den Studierenden schwer, Vorurteile abzulegen?
I. D.-P.: Sie sind deshalb vorurteilslos in das Projekt gegangen, weil nur ich die Straftaten kannte. Das war vereinbart, um die Unbefangenheit zu wahren.
Was waren Voraussetzungen, um als Student an dem Projekt teilzunehmen?
I. D.-P.: Entsprechende Kommunikationsfähigkeit, Basiswissen über den Nationalsozialismus, und wir haben gesagt: „Dagegenhalten – aber ihr müsst sie trotzdem mögen können.“ Wenn jemand mit missionarischem Hasseifer an die Sache herangeht, dann kann das nicht funktionieren.
Haben die Jugendlichen die Studierenden akzeptiert?
I. D.-P.: Zum Teil sind die Probanden so zutraulich geworden, dass sie den Studierenden mehr erzählt haben als der Polizei oder der Bewährungshilfe. Es hat deshalb auch eine absolute Verschwiegenheitspflicht gegolten.
Was waren die Inhalte des Kurses?
Brigitte Kepplinger: Einerseits historische Informationsvermittlung, damit die Probanden reflektieren, was sie da verherrlicht haben. Die zweite Ebene war Reflexion über Politik und Demokratie heute.
Wie war der Wissensstand der Jugendlichen?
B. K.: Das Wissen über den Nationalsozialismus war sehr gering. Sie kannten nur ihre Propagandahülsen; wenn man näher nachfragte, war sehr viel nicht bekannt. Politische Bildung war ihnen völlig fremd – das heißt, politische Zusammenhänge zu reflektieren, einfach nur zu wissen, wie Politik funktioniert.
Stichwort Propagandahülsen: Wie vermittelt man einschlägig vorgeprägten Jugendlichen die Zeit des Nationalsozialismus?
B. K.: Mir war wichtig, den Nationalsozialismus nicht aus unserer Gesellschaft zu externalisieren und nicht mit der moralischen Abschreckung zu arbeiten. Ich habe versucht, einerseits Kontinuitäten zu unserer Gesellschaft aufzuzeigen und andererseits den Jugendlichen zu vermitteln, was wäre, wenn sie im Nationalsozialismus leben würden. Wie wäre es euch in der Zeit, die für euch eine Zieldimension darstellt, ergangen? Da war die Erkenntnis, dass es mit ihren Delikten vielleicht gar nicht so schön gewesen wäre, denn sie wären in einem Jugendstraflager gelandet.
I. D.-P.: „So hat es uns noch nie wer erklärt“, das kam immer wieder. Meine Kollegin hat die Zeit in ihren Facetten auf die unmittelbare Ebene runtergebracht. Sie hat zum Beispiel über die Hitlerbauten gesprochen und erklärt, dass man die Wohnung im Hitlerbau verloren hat, wenn die Oma Alzheimer hatte.
Was war das zentrale Thema für die von Ihnen betreuten Jugendlichen?
I. D.-P.: Es gab einmal eine Diskussion zwischen Probanden und Studenten – was tut man am Abend, müde, frustriert und sonst was. Da ist herausgekommen: Die Studenten gehen joggen, und die Jugendlichen gehen schlägern. Aber im Endeffekt, nach dem Schlägern, ist es ein ähnliches Gefühl. Nicht alle wollten ein neues Drittes Reich.
B. K.: Dass man mit der speziellen Politik etwas aussagen möchte, war eigentlich sekundär. Ein ganz zentrales Problem war das Ausländerthema. Da haben die Neonazis Rezepte. Schnell wirksam, einfach durchzuführen und sehr schlüssig, wenn man keine Ahnung hat. Da hat sich überhaupt nichts geändert, wenn man die knapp zehn Jahre Revue passieren lässt. Das hat sich jetzt eher noch verschärft.
Inwiefern hat sich die rechte Szene seither Ihrer Meinung nach geändert?
B. K.: Die Vernetzung ist durch die modernen Medien eine andere. Man braucht jetzt nicht mehr das volle Programm zu akzeptieren, man fährt vielleicht nur auf die Musik ab oder auf entsprechende Kampfsportarten. Die Szene ist flexibler geworden – wie Bienenwaben. Die hängen nur mehr an einem Punkt zusammen und bilden trotzdem ein relativ stabiles Netzwerk. Und es scheint so zu sein, dass für die Jugendlichen diese
Neonaziszene wie ein riesengroßer Abenteuerspielplatz funktioniert.
Es ist zwar etwas Verbotenes, aber auf der anderen Seite haben sich auch die Gesellschaft und die politische Situation geändert.
I. D.-P.: Rechtsextreme Jugendliche sind äußerlich nicht mehr wirklich erkennbar. Springerstiefel mit weißen Schuhbändern, das war einmal. Der Dresscode ändert sich sehr schnell.
B. K.: Das zeigt, dass die Szene hoch flexibel ist, dass sie andere Methoden und Mittel suchen, um die Gesellschaft nach ihren Idealen umzuformen und Einfluss zu gewinnen.
Wird der Rechtsextremismus mit der Wirtschaftskrise zunehmen?
B. K.: Vor allem bei den Jugendlichen, die einmal den Eintritt ins Erwerbsleben schaffen müssen, da denke ich, steht uns noch einiges bevor.
Wo könnte man präventiv ansetzen?
B. K.: Eine wirklich fundierte politische Bildung der Jugendlichen wäre enorm wichtig. Da wird noch viel zu wenig angeboten. Ein weiterer Punkt ist der Staat. Nicht tolerieren, sondern aktiv dagegen vorgehen und demonstrieren, dass ein demokratisches Gemeinwesen das nicht duldet.
Also keine „Lausbubenstreiche“.
I. D.-P.: Nein. Der Schock, wenn um sechs in der Früh die Polizei daheim anläutet, der ist nicht von schlechten Eltern.
B. K.: In Mecklenburg-Vorpommern ist eine Kursänderung in diese Richtung erfolgt, und da sind die Straftaten und Provokationen signifikant zurückgegangen. Das inkludiert auch, dass man durch das entschiedene Auftreten der staatlichen Stellen die Bürger ermutigt, sich entschieden dagegenzustellen. Da wird immerfort nach Zivilcourage gerufen, aber wenn ich nicht sicher sein kann, dass die Staatsgewalt auch hinter mir steht, wenn ich Zivilcourage ausübe, dann werde ich es mir sehr gut überlegen.
Wäre es vor dem heutigen Hintergrund sinnvoll, ein Projekt wie das Ihre wieder einzuführen?
I. D.-P.: Ja. Es gibt im Moment gar nichts in diese Richtung.
DIVERSIONSPROJEKT
50 Studierende haben die Jugendlichen als Tandempartner in dem Diversionsprojekt begleitet. Nach jeder Input-Einheit fanden sich die Tandems zusammen und besprachen, was sie zuvor gehört hatten. Das Diversionsprojekt bezeichnen die ehemaligen Studierenden heute als Erfahrung, aus der sie sehr viel gelernt haben.
Thorsten Rathner (31): Ich habe zwei Probanden betreut, und meine Erfahrungen waren sehr positiv. Beide haben sich nach einer kurzen Zeit geöffnet und deutlich gemacht, dass sie bereits sehr weit weg von der Szene sind. Ich denke, dass man eine medial geprägte Vorstellung von rechtsradikalen Jugendlichen hat. Ich habe gelernt, Vorurteile zu überdenken, zu akzeptieren, dass es auch Mitläufer gibt und den Hintergrund zu sehen. Einer meiner Probanden war zum Beispiel sehr übergewichtig, in der Szene konnte er sich Respekt verschaffen. Es ist wichtig, die Hintergründe zu sehen, ohne verharmlosen zu wollen.
Erika Breuer (47): Die Zusammenarbeit mit den Jugendlichen war problemlos. Es waren oft Außenseiter, die in rechtsextremen Gruppierungen Anschluss gefunden haben und dort extrem aufgewertet wurden. Sie konnten kleine Funktionen übernehmen. Dort ist man wer, man wird gehört. Ich arbeite nach wie vor mit Jugendlichen. Ich habe keine Angst, wenn fünf Typen in Bomberjacken auf mich zukommen, weil im Grunde sind das arme Würstel. Etwas sofort zu verurteilen ist nicht sinnvoll, Dinge gehören ausdiskutiert. Ich habe das Diversionsprojekt als gegenseitiges Geben und Nehmen erlebt, das Horizonte erweitern kann.
Gerald Rachbauer (31): Ich habe mit meinen beiden Probanden durchwegs positive Erfahrungen gemacht. Der eine war sehr verschlossen, der andere offen – so, wie ganz normale Jugendliche sind. Klar hatte ich vor dem Projekt gewisse Vorurteile, aber eigentlich waren das normale Jugendliche, die wo reingerutscht sind. Man lernt zu verstehen, wie rechtsextreme Jugendliche in die Szene kommen und denken. Ich habe vier Jahre in einem Flüchtlingshaus gearbeitet. Die Erfahrungswelten der Jugendlichen dort waren ziemlich ähnlich.
Cathrin Dorner (34): Ich habe mehrere Probanden betreut, die sehr unterschiedlich waren. Einer war sehr unwillig, hat alles verweigert und nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, ob es Sinn ergibt, was er da sagt. Das war ein kleiner, schmächtiger Typ, der immer unterschätzt wurde und unterschwellig aggressiv war. Dann gab es aber auch ganz andere Typen, die eigentlich sympathisch waren und mit denen man Spaß haben konnte, die nur durch Zufälle in die falsche Ecke geraten waren. Unter der Oberfläche kann oft etwas ganz anderes stecken.
Markus Feichtinger (33): Die meisten Jugendlichen waren klassische Mitläufer, die nicht über die Ideologie, sondern über Freundschaften in die rechtsextreme Szene gekommen waren. Während des Kurses gab es viele Aha-Erlebnisse: „Das habe ich gar nicht gewusst.“ Es gab schon auch ein paar, bei denen die Ideologie verfestigt war, da weiß ich nicht, ob das Projekt etwas geändert hat. Aber sie haben trotzdem etwas gelernt. Hätte man sie eingesperrt, hätte sich nichts geändert. Die Jugendlichen bekamen das Gefühl, dass sie ernst genommen werden. Wenn es nur ein Kurs gewesen wäre, wo jemand einen Vortrag hält, hätten sie wahrscheinlich abgeblockt.