Für Leute, die unterwegs zu Hause sind
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Das Leben ist eine Reise. Und die größte Wachstumsbranche des 21. Jahrhunderts freut’s. „Koffer packen!“ lautet der kategorische Imperativ heute zu jeder Jahreszeit. Egal ob mit Krethi und Plethi zum All-Inclusive-Trip oder mit der High Society auf Kreuzflügen: Wenn das Fernweh Flügel bekommt, klingeln bereits in der Heimat die Kassen.
„Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede“, stöhnte Theodor Fontane 1873 und übertrieb natürlich maßlos. Für ihn schien die „goldene Zeit des Reisens“, die Chronisten zwischen 1850 und 1950 datieren und mit der Einführung der Luxus-Ozeanschiffe, der mit Dampf betriebenen Eisenbahn, der Erfindung des Automobils, der Nutzung der Zeppelin-Luftschifffahrt und allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten bei Art und Stil der Unterbringung in exklusiven, weltstädtischen Grand- oder Palasthotels verbinden, dem Ende geweiht.
Heute behielte der Romancier freilich recht. Für einen Großteil der Menschheit scheint das Sich-von-einem-Ort-zum nächsten-Bewegen zu dessen Lebenselixier schlechthin geworden zu sein. So nahm 2008 die Zahl der Reisenden um mehr als 16 Millionen auf 929 Millionen zu. Für 2020 prognostiziert der WTTC (World Travel and Tourism Council) gar 1,6 Milliarden.
K(l)eine Delle
Zugegeben: Die Wirtschaftskrise hat den Tourismus ordentlich in Mitleidenschaft gezogen. Nach Angaben der Welttourismusorganisation UNWTO ging die Zahl der Reisebewegungen rund um den Globus in den ersten beiden Monaten des Jahres um acht Prozent zurück. „Der Abwärtstrend, den wir schon Ende 2008 sahen, hält an“, so UNWTO-Generalsekretär Taleb Rifai. Vorläufig bleibt die UNWTO jedoch bei ihrer Prognose, dass der Reiseverkehr dieses Jahr nur um zwei bis drei Prozent schrumpfen wird, weil viele Staaten die Branche schon jetzt mit Mitteln aus ihren Konjunkturpaketen stimulieren würden und man auf die Wende im Sommer hofft. Zwei schwierige Jahre sieht auch der WTTC, er unterstreicht jedoch die Dynamik des Tourismus beim globalen Wachstum. Rund 594 Mrd. Euro Umsatz wurden im vergangenen Jahr weltweit in dieser Branche umgesetzt, 2007 waren es noch 434 Milliarden.
Platz zwei für Österreich
2008 bescherte Österreich, laut dem Travel & Tourism Competitiveness Report 2009 des Weltwirtschaftsforums auf Platz zwei der besten Tourismusdestinationen der Welt, mit 32,6 Mio. Ankünften (plus 4,7 Prozent) und Nächtigungen in Höhe von 126,7 Mio. (plus 4,3 Prozent) ein Rekordjahr. Während die Einnahmen in- und ausländischer Gäste auf insgesamt 22,7 Milliarden kletterte, beträgt die gesamte Wertschöpfung aus dem Tourismus nach Prognosen der Statistik Austria und des Wifo 2008 rund 23,5 Milliarden, was einem Beitrag von 8,4 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt entspricht. Der gesamte Bereich Tourismus und Freizeitwirtschaft umfasst 45,5 Milliarden. Hinter den Kulissen partizipieren viele vom Fernweh: vom Kofferhersteller bis zum Tropeninstitut.
Die Welt im Koffer
Reisen ist nach Guy de Maupassant „wie ein Tor, durch das wir von der Wirklichkeit in die Welt des Traumes eintreten“. Der Koffer ist ein Mittler zwischen diesen Welten, denn sein Anblick macht die Erinnerungen wieder lebendig, wenn die mitgebrachten Bilder sich schon mumifiziert haben. Während Massenhersteller dramatische Einbrüche konstatieren, sehen Produzenten exklusiven Reise- und Business-Gepäcks wie Rimowa oder Louis Vuitton der Zukunft gelassen entgegen. Gemäß dem Bonmot „Falls dein Leben eine Reise ist, mach sie erster Klasse“ konnte der im Premiumsegment etablierte deutsche Spezialist von Alu-Cases trotz Krise wie im Vorjahr 400.000 Koffer zum Stückpreis zwischen 250 und 800 Euro absetzen. Rückgänge in Exportmärkten wie Japan wurden durch Zuwächse im deutschen Heimatmarkt wettgemacht. Die Zahl der Liebhaber erlesener Equipage nimmt zu. Reisekultur ist in. Aus edlen Materialien maßgefertigt, haben die von fast vergessenen Manufakturen gefertigten Koffer und Taschen das Zeug, Generationen zu überdauern.
Genau das Richtige für Menschen, die Cruising nicht per Schiff, sondern per Flugzeug pflegen. Auf 120.000 Menschen wird das Potenzial im deutschsprachigen Raum geschätzt, für Reisen zwischen 26.000 und 40.000 Euro, etwa ab Wien mit einer Lauda-Air-Maschine und einem Do & Co-Koch an Bord.
Je exotischer die Destinationen, umso wichtiger wird die medizinische Vorsorge. Was vor hundert Jahren allenfalls für Phileas Fogg, den Helden in Jules Vernes Roman Reise um die Erde in achtzig Tagen, gegolten hat, nehmen heute Tausende in Anspruch. Allein im Institut für Tropenmedizin Wien werden jährlich 50.000 Impfungen vorgenommen. Auch die Apotheken verbuchen ein gerüttelt Maß an Umsatz mit individuell zusammengestellten Medikamenten, die einen unbeschwerten Urlaub garantieren sollen.
Die Bilder sind schon da
Wie es Leute gibt, die Bücher wirklich studieren, und andere, die sie nur durchblättern, gibt es Reisende, die es mit Ländern ebenso machen: Sie blättern sie nur durch. Mit seiner Sehnsucht nach Erholung und Abenteuer dreht sich der Urlauber im Kreis. Die Urlaubsreise dient weniger dazu, Neues zu erkunden, als dazu, die Bilder im Reisekatalog zu bestätigen und als Beweis fotografisch zu verdoppeln. Das ist das Dilemma des globalisierten Menschen: Egal wo er hinreist, die Bilder sind immer schon da.