Weiß nicht mehr, was ich vergessen hab’
Photos.com Kopfarbeiter in der Leistungsgesellschaft brauchen ein kluges Gehirn. Forschung an Ratten zeigt, was Menschen für ihr Hirn tun können. Mit Sport und gesunder Ernährung lässt sich Demenz vielleicht im Zaum halten.
Es sind alte Ratten. Sie balancieren auf Schwebebalken, sie machen Männchen. Sie erinnern sich an Dinge. Sie führen Bewegungen aus, die sie zwei Monate vorher nicht konnten. Diese sensationelle Körperbeherrschung der betagten Tiere wurde nicht durch ein spezielles Rattensportprogramm gefördert, sondern durch ihr Futter. Es enthält Heidelbeeren.
Der US-Neurowissenschaftler James Joseph hat zwei Gruppen von Ratten getestet, die am Beginn des Experiments 19 Monate alt waren – das entspricht 65 Jahren bei Menschen. Eine Gruppe erhielt normales Futter. Die zweite Gruppe erhielt Futter, in das aus Heidelbeeren erzeugte Flocken gemischt waren. Zwei Monate später beherrschten die Heidelbeer-Esser Bewegungen, die sie vorher nicht konnten. Die Normalfutter-Esser durchliefen den normalen Alterungsprozess und wurden in ihren Leistungen schwächer.
Neue Neuronen bilden sich
Nach dem Versuch wurden die Ratten getötet und ihre Gehirne analysiert. Das Ergebnis: Die Heidelbeer-Diät führte zur Bildung neuer Neuronen.
James Joseph arbeitet für ein Forschungszentrum des US-Landwirtschaftsministeriums an der Tufts University in Boston. Josephs Studie wurde 2002 publiziert und ist ein Meilenstein der Hirnforschung. Seither haben Joseph und andere Forscher Versuche mit weiteren Nahrungsmitteln gemacht. Es sind die üblichen Verdächtigen – Erdbeeren und Spinat etwa. Als Regel gilt: Was fürs Herz gut ist, ist auch fürs Hirn gut.
Zuletzt fütterte Joseph seine Ratten mit Walnüssen, mit denselben positiven Ergebnissen. „Angesichts der zahlreichen in Walnüssen enthaltenen Verbindungen wie essenziellen Fettsäuren, pflanzlichen Omega-3 Alpha-Linolensäuren (ALA), Polyphenolen und Antioxidantien sind diese Ergebnisse nicht wirklich überraschend“, sagt Joseph. Was den Ratten guttut, wird auch den Menschen von Nutzen sein. „Sieben bis neun Walnüsse täglich würden helfen, die kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.“
Josephs Erkenntnisse sind wichtig in einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, in der Kopfarbeiter immer höhere Ansprüche erfüllen müssen. Und sie sind wichtig für alle, die mit zunehmendem Alter Vergesslichkeit an sich beobachten oder ihre älteren Angehörigen in Demenzerkrankungen wie Alzheimer verlöschen sehen. Die Angst, selber dement zu werden, ist nicht unbegründet. Neuere Forschungen deuten auf eine mögliche genetische Disposition für Alzheimer hin.
Aus diesem persönlichen Grund hat die Wissenschaftsjournalistin Sue Halpern eine Entdeckungsreise quer durch die amerikanische Neurowissenschaft gemacht und darüber ein spannendes Buch mit dem Titel Can’t Remember What I Forgot geschrieben. (Die eben erschienene deutsche Ausgabe trägt den nichtssagenden Titel Memory! Neues über unser Gedächtnis.) Halpern hat Kapazunder der Hirnforschung wie James Joseph ausfindig gemacht und jeden Hirnscan ausprobiert, der ihr angeboten wurde. Nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern aus Angst vor ihrer Zukunft: Ihr Vater litt an einer Demenzerkrankung. Auch Halpern hatte begonnen, jede Vergesslichkeit als Zeichen zu deuten. Das beruhigende Ergebnis der Hirnscans: alles ganz normal.
Das Rezept: Move your ass
Gene hin oder her – die Neurowissenschaftler sind sich einig, dass es wirksame Mittel zur Prävention von neurodegenerativen Erkrankungen gibt. Es sind die gleichen wie zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Neben gesunder Ernährung ist es vor allem Bewegung. Das hat eine Langzeitstudie des Karolinska Instituts in Stockholm ergeben. Rund 1500 Personen, die zum Stichtag der Studie mindestens 69 Jahre oder älter waren, sind seit 1972 alle fünf Jahre untersucht worden. Jene, die regelmäßig Sport betrieben, hatten eine um 50 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, keine Demenzerkrankung zu entwickeln. Personen, die eine genetische Disposition für Alzheimer hatten und Sport betrieben, konnten ihr Risiko noch stärker reduzieren. Also Grund genug, alle Couch Potatoes mit einer Vorliebe für Junk Food auf eine gründliche Änderung ihres Lebensstils einzuschwören.
Auf die massenwirksame Tour versucht es Gary Small, Neurologe an der University of California in Los Angeles. Da Menschen auf schnelle Ergebnisse stehen, verspricht er sie in seinem Buch The Memory Prescription: Dr. Gary Small’s 14-Day Plan to Keep Your Brain and Body Young. Das Rezept: Gedächtnisübungen, Bewegungen, Stressreduktion und eine Ernährung, die alle für das Hirn wichtigen Stoffe enthält.
Klar muss das Rezept länger als 14 Tage gelebt werden, gesteht Small seinen Verkaufstrick. Doch für den Einstieg sei der Plan hilfreich. In einer Studie mit 17 ausgewählten Personen, von denen eine Hälfte sein Aktivitätsprogramm durchführte und die andere so weiterlebte wie bisher, stellte Small tatsächlich messbare Unterschiede zwischen beiden Gruppen fest. Die Studie wurde im American Journal for Geriatric Psychiatry im Juni 2006 publiziert.
Ein ähnliches Rezept, aber leisere Töne beim Verkauf haben der Wiener Neurologe Udo Zifko und die Ernährungsexpertin Ingrid Kiefer mit ihrem Ratgeber Fit im Kopf.
Wie drängend das Problem von Demenzerkrankungen auf globaler Ebene ist, hat ein Team von zwölf Experten studiert und im Dezember 2005 in The Lancet publiziert. Ihrer Schätzung nach litten bereits damals 24 Mio. Menschen an Demenz. Im Jahr 2040 würden es 81 Mio. Personen sein.
Fieberhafte Forschung
Derzeit gibt es kein Medikament, das den Verfall des Gehirns von Alzheimer-Erkrankten verhindert. Angesichts des potenziellen Marktes wird fieberhaft geforscht. Einer der möglichen Kandidaten für einen Durchbruch ist das österreichische Biotechnologieunternehmen Affiris, das derzeit klinische Prüfungen von Impfstoffen durchführt. Der US-Neurologe und Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel erwartet, dass demnächst Medikamente auf den Markt kommen.
Doch unabhängig davon empfiehlt es sich, laufen zu gehen und Heidelbeeren zu essen.
Economy Ausgabe 75-08-2009, 21.08.2009