Wörter, Fabriksbrände und Indianer
Wer kein Zyniker ist, wird der Aussage zustimmen: Wer spricht, denkt auch. Zu fragen, in welcher Reihenfolge das passiert, muss keineswegs sarkastisch gemeint sein – ein spannendes Forschungsfeld tut sich hier auf. Das Ausmaß, in dem sich Sprache und Denken gegenseitig beeinflussen, beschäftigt seit jeher die Wissenschaft.
Da Sprache aus dem Denken hervorgeht, manifestieren sich auch verschiedenste Denkschemata oder Weltanschauungen in der Sprache, die wiederum in weiterer Folge auf Denkmuster wirken können. Diese Wechselwirkung wird vor allem in politischer Propaganda ausgenützt.
Nie zuvor in der Geschichte wurde die Sprache im selben Ausmaß kontrolliert und verändert, um dem Volk gewisse Denkmuster einzuprägen,wie während des „Dritten Reiches“. Neue Begriffe sollten Dynamik und Stärke der nationalsozialistischen Bewegung ausdrücken, Menschen wurden in Neologismen zu Maschinen oder, im Falle der Juden, zu Unmenschen erklärt. Ausdrücke wie „entjuden“, „deportieren“ oder „Konzentrationslager“ sind bewusst vollkommen abstrakt und versuchen, über die Grausamkeit der damit (nicht) ausgedrückten Wirklichkeit hinwegzutäuschen und diese zu verharmlosen, um die Unterstützung des Volkes nicht zu verlieren.
Der Sprachforscher Viktor Klemperer zeichnete während der Nazidiktatur seine Analysen trotz ständiger Lebensgefahr auf und veröffentlichte sie nach Kriegsende unter dem Namen LTI – Lingua Tertii Imperii. Darin beschreibt er, wie die Sprache regelrecht als Gift wirken kann, falls sie in die falschen Hände gerät. Wenn ideologisch geprägte Ausdrücke in den eigenen Sprachgebrauch aufgenommen werden, beeinflussen sie den Sprecher bei jedem Gebrauch und können dadurch seine Einstellung verändern. Klemperer schrieb:„Die Sprache lenkt mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“
Da wir nur schwer bis unmöglich die nötige Distanz zu unserer eigenen Sprache und Denkmustern herstellen können, um diese objektiv zu betrachten, fällt uns selbst nur selten auf, wie die beiden Größen miteinander in Verbindung stehen. Dies kann unter gewissen Umständen, wie den oben genannten, katastrophale Folgen haben. Dabei funktioniert diese Wechselwirkung natürlich auch auf ungleich banalerer, alltäglicher Ebene. So werden etwa in der Werbung gezielt Begriffe wie „Diät“ oder „light“ eingesetzt, da die Leute das Produkt folglich als gesünder einstufen, ungeachtet dessen, dass sie zum Teil ungesunde Ersatzstoffe wie Aspartam enthalten.
Revolution der Linguistik
Die bahnbrechende Entdeckung, dass Sprache Einfluss auf unser Denken beziehungsweise unsere Wahrnehmung hat, geht auf die Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf zurück. Die sogenannte „Sapir-Whorf-Hypothese“ gilt als absoluter Meilenstein und revolutionierte die moderne Linguistik. Ihr zufolge haben die Strukturen der Muttersprache einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Sprecher. Sapir schrieb schon 1942: „Was wir sehen, hören oder anderweitig erfahren, ist zum größten Teil so beschaffen, wie es ist, weil die sprachlichen Gewohnheiten unserer Gemeinschaft bestimmte Interpretationswahlen prädisponieren.“ Whorf, der Versicherungsfälle in einem Chemiebetrieb bearbeitete, entdeckte gewisse Verhaltensmuster, deren Ursprung er in der Sprache vermutete. So wurden, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, Sicherheitsvorkehrungen neben dem Warnschild „Benzinfässer“ genau eingehalten, im Bereich mit dem Schild „Leere Benzinfässer“ wurde jedoch unbekümmert geraucht und Zigarettenstummel auf den Boden geschmissen.
Dies erklärte sich Whorf so: Da das Schild das Wort „leer“ enthielt, interpretierten es die Arbeiter gemäß der gängigen Wortbedeutung „leer, inhaltlos“ und zogen unbewusst den Schluss „gefahrlos, ungefährlich“. Dabei waren die Fässer nur leer von Benzin, aber voller hoch explosiver Gase.
Die Wortwahl „leer“ führte in diesem Fall zu einer gefährlichen Fehleinschätzung der Situation. Der in diesem Zusammenhang zu ungenaue Begriff legt eine Reihe von Deutungsmöglichkeiten nahe, welche die Realität, das heißt „benzinleer, aber voll von explosiven Gasen“ nicht exakt genug widerspiegeln.
Der Zusammenhang mag in manchen Fällen beinahe etwas banal erscheinen. Tatsächlich ist er aber der Ausgangspunkt für eine der einflussreichsten Entdeckungen des vergangenen Jahrhunderts. Auf weiterer Ebene werden nämlich durch sprachliche Strukturen gewisse Zusammenhänge schwerer oder einfacher erkennbar. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen zwei Bedeutungen suggeriert scheinbar inhaltliche Verwandtschaft oder verschleiert sie im umgekehrten Fall. Folglich werden gewisse Denkmuster zum Teil von der Sprache vorgefertigt. Das Wissen über diese Einflussnahme kann natürlich nicht nur wie in obigem Beispiel helfen, Fabriksbrände zu vermeiden, sondern auch auf alltäglicher Ebene neue Perspektiven schaffen.
Offene Zusammenhänge
Nicht nur die Bedeutung eines Wortes trägt zur Wirklichkeitswahrnehmung bei, sondern auch die Begriffsvielfalt eines bestimmten semantischen Feldes. So haben die Inuit, genauer gesagt die Yupik, mehrere Dutzend Begriffe für „Schnee“. Dies erlaubt feinere Abstufungen, genauere Beschreibungen und hat folglich eine andere, detailliertere Realitätswahrnehmung zur Folge.
Zur Verdeutlichung stelle man sich folgende Situation vor: Ein Fußballkenner geht mit einem Laien zu einem Fußballspiel. Der Laie, dem das Fachvokabular völlig fehlt, sieht, wie 22 Leute einen Ball irgendwie hin- und herbewegen. Der Experte sieht Außen-, Innen- und Vollrist, Volleyschuss, Kurzpass, Laufpass, Steilpass, Flanke, Abstoß, Ausschuss oder Abseits. Es stellt sich also die Frage, ob die zwei tatsächlich dasselbe Spiel verfolgen. Theoretisch, das heißt rein visuell, sehen sie natürlich dasselbe. Die Erfahrung ist jedoch eine gänzlich unterschiedliche.
Bisher wurde diese Theorie teils heftig angefochten. Der Sprachforscher Peter Gordon glaubt jetzt jedoch, einen Beweis für deren Richtigkeit gefunden zu haben. Er untersuchte Numeralien, das heißt Zahlwörter, in der Sprache der Pirahã-Indianer, einem Stamm im Amazonasbecken. Diese unterscheiden nur zwischen „ein“, „zwei“ oder „vielen“ Gegenständen. In einem Experiment sollten die Testpersonen verschiedene Anzahlen von Gegenständen duplizieren, also ein, zwei oder mehrere Gegenstände zusammenlegen, abhängig von der Anzahl der Gegenstände im Versuchsmuster. Dies gelang bei bis zu zwei Gegenständen problemlos. Ab drei Gegenständen stieg die Zahl von Fehlern rapide an. Da ihre Sprache nur exakte Zahlenangaben bis zu zwei Gegenständen kennt, wurden, laut Gordon, größere Gruppen von Objekten nicht mehr als genaue Anzahl, sondern nur noch als Menge wahrgenommen.
Auch wenn wohl noch weiter über das Ausmaß gestritten werden wird, so liegt der Zusammenhang selbst auf der Hand. Wer sich dieser Wechselwirkung bewusst ist, ist unter Umständen resistenter gegen äußere Einflussnahme, kann Fehlschlüsse vermeiden oder neue Perspektiven auf die Wirklichkeit erlangen.