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25. Juli 2024

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Die Bankomatkarte bekommt Konkurrenz

Die Bankomatkarte bekommt KonkurrenzVisa

Visa steigt in den Markt von sogenannten Debitkarten ein und hegt ehrgeizige Pläne für den hiesigen Markt.

Die Kreditkartenfirma Visa Europe wird auch in Österreich mit einer sogenannten Debitkarte an den Start gehen und damit dem einzigen Konkurrenten auf diesem Gebiet, Mastercard, Paroli bieten. Die V-Pay-Karte soll hierzulande ab Mitte 2010 an die Konsumenten ausgegeben werden.
Bisher haben österreichische Mitgliedsbanken zugesagt, 1,5 Mio. V-Pay-Karten auszugeben. Zum Vergleich: Der Konkurrent Mastercard hat über sieben Mio. Maestrokarten, vulgo Bankomatkarten, im Umlauf.
Erste Ausgeberin der V-Pay-Karte wird die Card Complete Service Bank sein, die mehrheitlich der Unicredit Bank Austria und Raiffeisen Zentralbank (RZB) gehört. Visa Europe selbst ist ein Mitgliedsverband im Besitz und unter Kontrolle von 4600 europäischen Banken und gibt keine Karten aus.
Ob die V-Pay-Karte dann automatisch beim Girokonto dabei sein wird, wie viel sie kosten und mit welchen Funktionen sie neben bargeldloser Zahlung und Geldbehebung ausgestattet sein wird, werde von den einzelnen Banken abhängen, sagte Card-Complete-Vorstandsvorsitzender Heimo Hackel. Technisch wäre es zum Beispiel auch möglich, Kredit- und Debitkarte in einem zu haben. Das sei momentan aber nicht angedacht. Ein anderes mögliches Zusatz-Feature sei eine elektronische Geldbörse, ähnlich dem Konkurrenzprodukt Quick. Laut Presseunterlage zählen gegenwärtig neben Card Complete auch der Anbieter Hobex, die Paylife Bank und die Raiffeisen-Bankengruppe zu den V-Pay-Serviceanbietern in Österreich.

Sicherer als Maestro
Die V-Pay-Karte basiere auf dem EMV-Chip mit PIN und entspreche damit dem höchsten verfügbaren Sicherheitsstandard – unabhängig vom Einsatzort, so Jutta Müller-Liefeld, Vice President und Head of Regional V Pay-Marketing bei Visa Europa, vor Journalisten. Im Gegensatz zur Maestrokarte seien die Kontodaten nicht zusätzlich auf dem (unsichereren) Magnetstreifen gespeichert.
Laut Müller-Liefeld ist die V-Pay-Karte als europäisches Produkt konzipiert – wegen des Sicherheitsstandards. Für den weltweiten Zahlungsverkehr gebe es ja die Kreditkarte. In Deutschland, Frankreich, Italien und Bulgarien habe die Ausgabe von insgesamt zugesagten über 40 Mio. V-Pay-Karten bereits begonnen. Derzeit sei bereits eine Million solcher Karten im Umlauf, bis Ende 2009 soll diese Zahl auf 16 Millionen anwachsen. Die Akzeptanzstellen soll heuer von vier (2008) auf sechs Millionen ansteigen.
In Österreich müssen die Terminals in den Geschäften erst umgerüstet werden. Von den rund 100.000 bis 110.000 Point of Sales akzeptieren derzeit rund 20.000 die V-Pay-Karte. In der zweiten Jahreshälfte 2010 sollen dann die sogenannten Acquirer (etwa Card Complete) die Automaten flächendeckend umgestellt haben, so Kurt Tojner, Country Manager Österreich und Ungarn bei Visa Europe. Die etwa 3500 Outdoor-Geldautomaten würden V Pay schon jetzt akzeptieren.

Economy Ausgabe 72-04-2009, 24.04.2009

Grundbuch statt Sparbuch

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Immobilien gelten derzeit als beliebte Anlageform. Unter den Investoren zeichnet sich ein Wechsel ab.

Es ist eine Trendwende, die sich mit der Finanzkrise auf dem Immobilienmarkt aufgetan hat. Waren im Dezember 2008 die Eigentümerwechsel gleich hoch wie ein Jahr zuvor, zeigt sich dabei jedoch ein wesentlicher Unterschied: Die Akteure haben sich geändert. Risikobereite Investoren werden weniger, dafür entscheiden sich laut Immobilienexperten immer mehr Menschen mit hohem Eigenkapital, dieses anstelle von Fonds oder Aktien in Immobilien anzulegen.
„Der Markt ist interessant. War vor einem Jahr noch die Rede, dass die Preisschnäppchen kommen werden, erleben wir derzeit das Gegenteil davon“, sagt Udo Weinberger, Präsident des Verbands der Immobilientreuhänder (ÖVI). Besonders gut vermietbare Eigentumswohnungen seien derzeit sehr gesucht. „Aber auch Zinshäuser sind wieder gefragt.“
Auf die Wohnungspreise hat die Finanzkrise bislang kaum Auswirkungen gehabt, so der Immobilienexperte: „Die Preise sind grundsätzlich stabil. Unter Druck geraten hingegen mäßige Lagen. Die berüchtigten Vorstadtschnäppchen mit Toi­letten auf dem Gang werden nachgeben.“ Wer in Immobilien investiert, entscheidet sich für fertig ausgebaute und sanierte Wohnungen. Interessant sind für Weinberger auch die Entwicklungen im Bereich der Zinshäuser. „Es kommen wieder gut entwickelte Zinshäuser in der Innenstadt auf den Markt –
das wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen.“

Stabile Preise

Wann das Interesse von kapitalstarken Anlegern erschöpft sein wird, ist derzeit ungewiss. Branchenkenner rechnen damit, dass es noch ein halbes Jahr dauern wird, bis die starke Nachfrage befriedigt sein wird. Was dann kommt, wird sich zeigen. Weinberger: „Man kann nicht sagen, was passieren wird. Ich rechne aber eher nicht damit, dass die Preise steigen werden. Wenn, dann nur geringfügig.“ Auch Michael Pisecky, Geschäftsführer der S-Real Immobilienvermittlung, sieht einen Trend zur Investition in Immobilien: „Die Angst vor einer Hyperinflation geht um. Menschen mit Eigenkapital überlegen sich vermehrt, in den sicheren Hafen einer Immobilie zu investieren, anstatt das Kapital auf einem Sparbuch zu parken, bei dem die Zinsen im Sinken begriffen sind.“
Besonders Vorsorgewohnungen sind seit der Finanzkrise vermehrt gefragt. Auf eigene Faust würden allerdings nur wenige eine Wohnung kaufen oder vermieten: „Immer mehr Menschen suchen Rat beim Makler, wie sie am besten vermieten können.“ In Hinblick auf die Finanzkrise sind Vorsorgewohnungen eine besonders empfehlenswerte Anlageform, wie Pi­secky meint: „Selbstverständlich zahlt sich das aus, auch wenn es sich um eine mittel- bis längerfristige Bindung handelt.“ Selbst wenn sich die Immobilienpreise nur langsam entwickeln, sind die Mieteinnahmen und damit inflationssichere Rendite gewiss.

Ein Drittel Eigenkapital
Vom Erwerb einer Immobilie mit wenig Eigenkapital raten sowohl Weinberger als auch Pisecky ab. Mindestens ein Drittel an Eigenkapital sollte beim Kauf vorhanden sein, empfiehlt S-Real. „Es sollte möglichst wenig über Fremdkapital finanziert werden. Die Zinsentwicklung ist nicht vorhersehbar, das könnte sonst zu einem Boomerang werden“, so ÖVI-Präsident Weinberger.

Anna Weidenholzer, Economy Ausgabe 72-04-2009, 24.04.2009

Das Internet als Wissenschaft

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Web-Wissenschaften nähern sich dem Internet interdisziplinär. Bald soll es das Studium in Österreich geben.

Das Internet ändert sich. Vom eher statischen World Wide Web (WWW) hat es sich in den vergangenen Jahren hin zum dynamischen Web 2.0 entwickelt. Die Zahl derer, die selbst aktiv werden, steigt stetig. Ein neues Studium an der Linzer Johannes Kepler Universität (JKU) will nun das Internet mit all seinen Entwicklungen zur Wissenschaft machen.
Web-Wissenschaften heißt die Studienrichtung, an deren Konzept derzeit gearbeitet wird. Entstehen soll dabei ein interdisziplinäres Master-Studium, bei dem das Web auf rechtliche, gesellschaftliche, technische und künstlerische Aspekte hin beleuchtet werden soll.

Erfinder des Internets
Zumindest in Europa wäre diese Studienrichtung einzigartig, wie Thomas Gegenhuber, Vorsitzender der Linzer Hochschülerschaft und Mitinitiator, erklärt. Viele Unis würden sich zwar in Teilbereichen mit Aspekten des Internets beschäftigen, einen ganzheitlichen Ansatz gebe es bislang allerdings nicht.
Aufgekommen ist die Idee in Linz auf Initiative von Studierenden. Im Juni des Vorjahres wurde der Antrag für das neue Studium eingereicht und vom Senat der Uni einstimmig angenommen. Mittlerweile steht bereits das Studienplankonzept.
Angeregt wurde die Diskus­sion um ein Studium der Web-Wissenschaften allerdings schon vor drei Jahren. Tim Berners-Lee, der Erfinder des Internets, trat im Wissenschaftsmagazin Science für die Einführung eines Studiums ein, das das Internet in all seinen Facetten untersuchen soll. Ein Konzept, das auch den Entwicklern des Studienplans an der JKU vorschwebt. „Wir wollen ein Master-Studium für Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen anbieten, die sich dem Web interdisziplinär widmen“, so Gegenhuber.
Wer also sein Bachelor- oder Diplomstudium in Wirtschaftswissenschaften gemacht hat, wird sich beim Web-Wissenschaften-Master auf die Bereiche E-Business, E-Government oder Webmarketing spezialisieren. Studierende aus dem Bereich der Soziologie werden sich hingegen eher mit den Auswirkungen des Web beschäftigen. „Ab dem dritten Semester sollen die Studenten dann gemeinsam in Kursen sitzen und von ihrer Heterogenität profitieren“, sagt Gegenhuber.

Von Technik bis Kunst
Angeboten wird die Studienrichtung interdisziplinär von der Juridischen, der Technisch-Naturwissenschaftlichen und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Zudem werden auch Kooperationen mit dem Ars Electronica Center und der Kunstuniversität angestrebt. „Die breiten Anwendungsmöglichkeiten des Internets verändern gesellschaftliche Strukturen und Prozesse. Alle diese Felder kann die JKU abdecken“, sagt Johann Höller, Professor am Institut für Datenverarbeitung und Vorsitzender der Studienkommis­sion Web-Wissenschaften.
Umgesetzt werden könnte die neue Studienrichtung erstmals im Wintersemester 2010/11, wie Höller meint: „Alle Planungen sind darauf gerichtet, dass das Studium zu diesem Zeitpunkt starten wird. Wenn die gerade in Krisenzeiten oftmals verkündeten Botschaften von ‚Bildung als Investition in die Zukunft‘ tatsächlich ernst gemeint sind, darf das Projekt auch nicht an der Ressourcenfrage scheitern.“

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Anna Weidenholzer, Economy Ausgabe 72-04-2009, 24.04.2009

Buchtipp

BuchtippHachette Book Group

Der Titel ist Programm: Globality (be)trifft alle

Erschienen vor der großen Krise, beschreibt die von drei Beratern der Boston Consulting Group (BCG) vorgelegte, englischsprachige Publikation, für den Economist einer der besten Wirtschaftstitel 2008, die nächste Stufe der Globalisierung: Globality. Dieses Wort, 1989 vom Ökonomen Daniel Yergin kreiert, umschreibt, wie Unternehmen um Ressourcen, Mitarbeiter, Kunden, Vertriebskanäle, Partnerschaften, Schlüsseltechnologien, Kapital und vieles mehr konkurrieren. Die Autoren schwören den Leser auf ein Phänomen ein, das wie ein Tsunami mit unheimlicher Kraft und Intensität in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen, vor allem aber wirtschaftlichen Lebens hereinbricht.
Globality, so ihr Credo, wird jeden und alles berühren und überall sichtbar und spürbar sein. Zur Bewältigung neuer Realitäten geben die Analysten den Unternehmen mit nicht wirklich Neuem ein Sieben-Punkte-Programm mit auf den Weg: Minding the Cost Gap, Growing People, Reaching Deep into Markets, Pinpointing, Thinking Big, Acting Fast, Going Outside, Innovating with Ingenuity, Embracing Manyness.
Anschaulich, unterhaltsam und informativ wird der Leser auf spannende Art schon heute auf die Reise in die Welt von morgen begleitet, die ob ihrer Rasanz durchaus beängstigend wirkt.

Harold L. Sirkin, James W. Hemerling, Arindam K. Bhat­tacharya: Globality – Competing with Everyone from Everywhere for Everything
Hachette Book Group,
New York, 2008, ca. 20 Euro
ISBN: 978-0-446-17829-7

Economy Ausgabe 72-04-2009, 24.04.2009

Die intelligente Generation

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Unternehmen haben viele Möglichkeiten, ihre Performance zu steigern – eine davon ist Process Intelligence.

Viele Unternehmen haben erkannt, dass es neben dem eigentlichen Produktangebot für den finanziellen Erfolg in immer stärkerem Maße entscheidend ist, ob es gelingt, die Kunden­erwartungen bezüglich Reak­tionszeiten, Flexibilität und Servicequalität zu erfüllen.
Prozessmanagement wurde eingeführt, um funktionale Abteilungsgrenzen zu überwinden und den Einsatz der Mitarbeiter und Ressourcen auf die effiziente Bearbeitung der Kernprozesse des Unternehmens auszurichten. Neben der Ressourcen- und Kostenoptimie­rung führt die konsequente Ausrichtung der Prozesse nach den kritischen Erfolgsfaktoren eines Geschäftssegments im optimalen Fall zu einer Steigerung der Kundenzufriedenheit und damit der Erlösseite des Unternehmens. Mit Process Intelligence, der Verbindung analytischer Software-Systeme und Kennzahlen mit den Abläufen des Unternehmens, werden die Leistungsfähigkeit und Optimierungspotenziale der Prozesse und damit des operativen Geschäfts jederzeit transparent – weg vom Krisenmanagement hin zu einer Organisation, die Fehlentwicklungen vorausschauend korrigiert, bevor Probleme gravierend werden.

Prozesse managen
Business Intelligence (BI), die Aufbereitung und Analyse unternehmenskritischer Kennzahlen, wurde in vielen Unternehmen als Automatisierung des Berichtswesens eingeführt.
Wir erleben aber aktuell, dass sich die Anforderungen an analytische Systeme grundlegend ändern. Informationen über gelebte Prozesse und deren Bewertung sind ein wichtiger Frühindikator für die Leis­tung und Wertschöpfung eines Unternehmens. Gefragt sind Werkzeuge für das prozessorien­tierte Performance Management, die nahtlos eine strategische, taktische und operative Steuerung des Geschäfts ermöglichen. Die Integration der Themen Business Process Management und Business Intelligence bedeutet zum einen, dass analytische Komponenten als integraler Bestandteil bei der Ausführung von Prozessen eingesetzt werden, um die Prozess­ausführung möglichst effizient zu steuern und Entscheidungen zu unterstützen (Business Intelligence in Processes). Zum anderen ist damit die Nutzung von Analysetechniken gemeint, um die Prozesseffizienz zu messen und zu analysieren und Optimierungsmaßnahmen – zum Beispiel zur Reduzierung der Durchlaufzeit oder Fehlerquoten – einzuleiten (Business Intelligence about Processes).

Neue Technologien
Neue Anwendungskonzepte erlauben es Mitarbeitern der einzelnen Fachabteilungen, die Systeme auf ihren speziellen Informationsbedarf hin zu konfigurieren. Über das Internet sind Unmengen an Daten – wie Produkt-, Lieferanten-, Wettbewerber-, Preis-, Logistik-, Finanzinformationen – über Webservices oder RSS-Feeds verfügbar geworden. Mash-up-Technologien versprechen eine flexible Kombination von internen und externen Informationsquellen ohne Programmierung.
Unter den Schlagworten Event Processing und Business Activity Monitoring (BAM) werden Technologien subsumiert, die sich von der Analyse von Vergangenheitsdaten lösen. Der Fokus ruht hier auf dem Monitoring der aktuellen Situation, um bei drohenden Problemen sofort korrigierend eingreifen zu können. Technologiesprünge wie die Ablösung von traditionellen Datenbanksystemen durch effiziente In-Memory-Technologien unterstützen diesen Trend.
Das Management eines Unternehmens ist an klar zu interpretierenden Darstellungen interessiert und erwartet eine Sicht auf die Kernprozesse, kombiniert mit Ampeln, Trendverläufen und Planabweichungen der wesentlichen Kennzahlen wie Zeiten, Kosten, Qualität, Mengen und Risiken, um seine Entscheidungen zu treffen.
Typische Analysen zielen in der Regel darauf ab, Korrelationen zwischen Kennzahlen und Dimensionen zu erkennen.Um Optimierungspotenziale zu identifizieren, ist die reine Betrachtung von Kennzahlen in der Regel nicht ausreichend, vielmehr gilt es die Struktur des Ist-Prozesses zu visualisieren und zu analysieren, um das tatsächliche Verhalten der Organisation darzulegen.

Echtzeit-Analyse
Mittels Aris Process Performance Manager entsteht diese Prozessdarstellung automatisch durch Kombination aller Prozessinformationen. Somit erhält man ein umfassendes Leistungsbild der betrieblichen Abläufe. Um den Business-Modellen vieler Firmen in Richtung Echtzeit gerecht zu werden, ist mit dem Aris Process Event Monitor eine neue Technologie entstanden, um zeitnahe Analyse direkt mit den operativen Abläufen zu verknüpfen. Dieser ermöglicht dem Anwender, proaktiv kritische Situationen zu lokalisieren und entsprechende Aktio­nen einzuleiten.

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Economy Ausgabe 72-04-2009, 24.04.2009

Supermacht oder „Failed State“

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Vor den Europawahlen und der irischen Abstimmung über den Reformvertrag verleiht die Wirtschaftskrise der EU Rückenwind. Navigiert sie die Bürger nicht sicher durch die Turbulenzen, droht der Schiffbruch.

Frühling 2014: Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen bevor. Den Zeitungen ist der Urnengang bestenfalls eine Randnotiz wert. Straßburg, Brüssel? Das war einmal, die Politik wird wieder in den Hauptstädten gemacht. Die mehrjährige Wirtschaftsdepression hat Europa aufgerieben. Dazu kam das zweite Nein der Iren zum Reformvertrag und die darauf folgende Totalblockade des Brüsseler Uhrwerks.
Nach fruchtlosen Hilfspaketen und Krisengipfeln in Brüssel haben sich zuerst Frankreich, dann Deutschland, Großbritannien und die Niederlande auf ihre eigenen Stärken besonnen. Das Geld, das sie früher in die EU-Kassen eingezahlt haben, verwenden sie nun zur Wiederbelebung ihrer Industrien und zur Rettung der Sozialsysteme. Erzwungen haben diesen Kurswechsel rechtsradikale Parteien, die wegen der grassierenden Arbeitslosigkeit massiven Zulauf erfahren haben.
Der Euro, das Symbol für die ökonomische Weltmacht Europa, ist weich geworden. In Griechenland und Italien gelten wieder Drachmen und Lire. Auch Portugal und Irland stehen kurz vor dem Austritt aus der Währungszone. Sie müssen ihre Währung abwerten, um die Exporte anzukurbeln und auf die­se Weise ökonomisch zu überleben. Die reichen EU-Länder sind nicht bereit, ihnen weiter mit Transferzahlungen unter die Arme zu greifen und sie auf dem Kapitalmarkt vor dem Staatsbankrott zu retten. Das Bröckeln der Eurozone schwächt den Kurs. Die Deutschen wollen ihre starke Mark zurück.
„Worst-Case-Szenarien“ durchzuspielen, ist derzeit besonders bei Banken beliebt; die österreichischen Insitute loten damit ihr wahres Osteuropa-Risiko aus (siehe Grafik). Obiges Szenario will sich aber wohl kein Stratege bei Erste Bank, Raiffeisen und Bank Austria ausmalen. Denn die jungen und besonders verwundbaren Demokratien Osteuropas wären die Hauptverlierer – und mit ihnen ihre Geldgeber, die heimischen Banken, deren Geldgeber im Fall von Pleiten wieder die österreichischen Steuerzahler wären.
2009 müssen in Brüssel, Straßburg und den Hauptstädten die Weichen gestellt werden, damit der Worst Case nicht eintritt – und die Ausgangsposition ist gut, zumindest, was den Rückhalt durch die Bürger betrifft. „Für die EU steht viel auf dem Spiel, jetzt ist ein Mondfenster offen. Jetzt kann die Union zeigen, was sie kann“, meint Meinungsforscher Peter Ulram vom Institut GfK im Gespräch mit economy.

Derzeit starke Zustimmung

Im traditionell europaskeptischen Österreich ortet Ulram drei Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament die stärkste Zustimmung zur Union seit zehn Jahren. 65 Prozent sagen laut seinen Umfragen, der Beitritt zur Union sei eine positive Sache gewesen, 35 Prozent verneinen das. „In der Wirtschaftskrise empfinden die Bürger die EU als eine Schutzmacht. Sie sehen ein, dass Österreich alleine die Probleme nicht lösen kann.“ Bei den Wah­len sieht Ulram die beiden Großparteien mit je deutlich über 20 Prozent fast gleich auf, mit einem schmelzenden Vorsprung der SPÖ. Die FPÖ kommt nach seiner Prognose auf neun, die Grünen hätten acht Prozent, und die Liste des EU-Kritikers, EU-Abgeordneten und Krone-Kolumnisten Hans-Peter Martin käme auf vier Prozent.
Allerdings meint Ulram: „Wenn all die Hilfspakete scheitern, kann die Stimmung schnell kippen.“ Dann könnten wieder Themen in den Vordergrund treten, die der Gemeinschaft schaden, etwa das Ausländerthema. Einen Vorgeschmack boten wütende Arbeiter in Großbritannien, die aus Furcht um ihren Arbeitsplatz gegen zugewanderte Arbeiter – auch aus der EU – protestierten.
Das nächste Eckdatum des Schicksaljahrs 2009 ist ein noch festzulegender Wahltag im Oktober. Bei diesem Urnengang werden die Iren ein zweites Mal über den Vertrag von Lissabon abstimmen. Kern des Vertrags sind schnellere, einfachere Entscheidungswege. Das soll die auf 27 Länder angewachsene Union davor bewahren, an der eigenen Behäbigkeit zu ersticken.
Schon nach dem ersten Nein der Iren zum Vertrag sahen Untergangspropheten die EU an ihr Ende gekommen. Von der „größten Krise der EU“ war die Rede, als sich der Kollaps des globalen Finanzsystems in amerikanischen Einfamilienhäusern gerade erst zusammenbraute. Es ist leicht vorstellbar, wie komatös ein zweites Nein der Iren wirken würde. Die seit 2002 laufenden Bemühungen um eine Reform der Europäischen Union wären endgültig gescheitert.
Doch auch hier steht der Mond günstig. Denn die Iren hat die Krise wie eine Keule getroffen, für Ressentiments gegen den bedrohlichen Zentralismus Brüssels bleibt mitten im Existenzkampf wenig Raum. Aus heutiger Sicht ist mit einem Ja zum Vertrag zu rechnen. Der Kampf gegen den Vertrag von Lissabon wäre für FPÖ, BZÖ und Hans-Peter Martin die Hauptbotschaft im Wahlkampf gewesen: eine Wahlkampfmunition, die jetzt nicht mehr so recht zündet. Die Menschen haben andere Sorgen als ein abstraktes Vertragswerk. „Den Schwerpunkt auf den EU-Vertrag zu legen wäre kontraproduktiv“, sagt Ulram dazu.
Die Suche nach Spitzenkandidaten für Parlament und Kommission hat die Krise jedenfalls erleichtert. Swoboda (SPÖ), Mölzer (FPÖ), vielleicht Karas (ÖVP) ins Parlament, Molterer oder Ferrero-Waldner in die EU-Kommission: Statt auf Fernsehstars setzen die Parteien auf erfahrene Europapolitiker. Zum Einarbeiten bliebe im Schicksalsjahr 2009 ohnedies keine Zeit.

Clemens Neuhold, Economy Ausgabe 71-03-2009, 30.03.2009

Europa ist nicht nur weiß

Europa ist nicht nur weißAndy Urban

Millionen von Menschen zieht es nach Europa. Es lockt die Vorstellung von Wohlstand und Sicherheit. Bei politischen Flüchtlingen ist das anders. Sie flüchteten, um ihr Leben zu schützen. Fünf Neu-Europäer erzählen, warum sie nach Europa kamen und wie sie ihre neue Heimat sehen.

Sie ertrinken. Sie ersticken. Auf ihrem Weg in das Traumland Europa gehen viele Menschen jedes Risiko ein. Und das ist hoch, seit sich Europa zur Festung ausgebaut hat. Jedes Jahr ertrinken Tausende Menschen im Mittelmeer, wenn ihr Boot zwischen Afrika und der italienischen Insel Lampedusa, dem südlichsten Punkt Europas, kentert. Immer wieder ersticken Menschen, wenn sie sich von Schleppern als Lastgut in Lkws über die Grenzen bringen lassen.
Nicht jede Flucht ist so dramatisch. Die Gründe, in Europa eine neue Heimat zu suchen, sind es oft schon. Sei es, weil sich Menschen aufgrund von Armut nicht mehr ernähren können, weil ein Krieg das nackte Überleben gefährdet, weil sie aus politischen, religiösen, ethnischen oder sonstigen Gründen bedroht werden. Menschen, die in Österreich Asyl erhielten oder sich aus anderen Gründen für ein Leben in Österreich entschieden haben, reflektieren ihr Bild von Europa.

Simon Inou, Journalist
„Die Berggasse kannte ich aus dem Geschichtsunterricht“, sagt Simon Inou. „Sigmund Freud, Berggasse, die Hofburg-Familie, Schönbrunn – lauter barbarische Namen, die wir in der Schule nicht verstanden.“ Er hatte, so wie alle Schüler in Kamerun, intensiv europäische Geschichte gelernt. Und gerätselt, wie sich Schnee anfühlt.
Doch es war nie sein Traum, nach Europa zu gehen. Er wollte gegen die Diktatur, die Korruption in Kamerun anschreiben. Er war Journalist, hatte bereits eine Zeitschrift für junge Leute gegründet. Als er zu einem Journalistenkongress nach Graz eingeladen wurde, sagte er seiner Mutter, er würde in zwei Wochen wieder zurück sein. Das war vor 13 Jahren. Während der Konferenz erfuhr er, dass er nach der Rückkehr wegen seines En­gagements für Minderheiten und Umweltschutz verhaftet werden würde. Journalisten in Graz rieten ihm, um politisches Asyl anzusuchen. „Asyl, was ist das?“, fragte er.
Das Innenministerium, damals von Caspar Einem geleitet, prüfte den Fall und erkannte Inou nach relativ kurzer Zeit als Flüchtling an. Er könnte längst die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Aber: „Ich bin immer noch ein Flüchtling. Ich bin noch nicht bereit, Österreicher zu sein. Da habe ich ein Identitätsproblem.“ Seine wahre Identität hängt sowieso nicht an einer Nationalität, sondern an einem Beruf. „Ich will schreiben. Ich will mich engagieren. Das mache ich nicht aus Karrieregründen, sondern von Herzen.“ In Kamerun hätte er gegen die politischen Zustände angeschrieben und wahrscheinlich öfters sein Leben riskiert. In Österreich hat Inou die rassistische, oberflächliche oder unsensible Berichterstattung über Afrikaner in österreichischen Medien aufgedeckt. Etwa, wenn Medien Afrikaner pauschal mit Drogendealern gleichsetzen.
Inou hat die Online-Infoplattform Afrikanet gegründet, wirkt bei Radio Afrika mit und koordiniert seit eineinhalb Jahren eine jeden Mittwoch in der Tageszeitung Die Presse erscheinende Seite, auf der Journalisten und Journalistinnen mit Migrationshintergrund schreiben.
In anderen Lebensbereichen wirkt er im Augenblick resignativ. „Ich gehe nicht mehr tanzen. Weil ich vermeiden will, dass mir der Türsteher einer Diskothek sagt: ‚Keine Schwarzen.‘ In Wien gibt es Lokale, wo ich nicht essen darf. Ich werde nicht bedient. Aber ich lasse mich nicht unterdrücken.“ Viele Leute, die diskriminieren, würden eines Tages bemerken: Das war falsch. Zum Glück hätten seine Kinder in der Schule keine Probleme. Sie gehörten aber auch zu den Besten.
Keine Identitätsprobleme gibt es bei Loyalitäten im Sport: „Wenn es um Fußball geht, unterstützen meine Kinder und ich immer Kamerun oder ein anderes afrikanisches Team. Wenn es um Skifahren geht, sind wir für Österreich. Denn Kinder wollen immer die Sieger sein.“

Aftab Husain, Literat
Der pakistanische Literaturprofessor Aftab Husain hatte es so gut gemeint. Zwischen Pakistan und Indien gab es gerade ein Lüfterl Entspannung. Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee stattete 1999 Pakistan einen Staatsbesuch per Autobus ab, um die Grenze der verfeindeten Staaten zu öffnen. Husain wollte ein Zeichen setzen, übersetzte Gedichte, die Vajpayee geschrieben hatte, von Hindi in die pakistanische Nationalsprache Urdu und präsentierte dem Premier das Büchlein.
Dann brachen wieder Spannungen aus, und Pakistans Premier Nawaz Sharif wurde gestürzt. Husain bekam Besuch vom pakistanischen Geheimdienst ISI. Er möge doch bestätigen, dass die Übersetzung im Auftrag von Sharif erfolgte. Als Husain dem ISI nicht zu Diensten sein wollte, wurde sein Haus geplündert und seine Familie misshandelt. Husain flüchtete nach Indien. Doch die indische Regierung zögerte, ihm Asyl zu gewähren. Der internationale Schriftstellerverband PEN hörte von den Troubles des Gedichteübersetzers und lud Husain nach Deutschland ein. Später kam Husain als „Writer in Exile“ nach Wien. Aus Sicherheitsgründen wollte er sich nicht fotografieren lassen.
„Österreich ist ein sehr netter Ort“, sagt Husain. Sehr ruhig sei es halt. Der Literat fühlt sich in der fremden Kultur
etwas verloren. „Ich vermisse Bücher auf Urdu. Ich bin mit der Urdu-Sprache, mit der Literatur aufgewachsen. Englisch ist die Sprache unserer intellektuellen Gedanken. Aber nicht unseres emotionalen Lebens.“
Bestimmte kollektive Vorurteile über Europa würde Husain gern zurechtrücken: „In Süd­asien halten wir uns für Bewahrer der menschlichen Werte, als Ort der Poesie und Kunst und meinen, die Europäer würden nur an sich und Geld denken. Würden sie uns aber fragen, mit welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen wir zum Wohl der Menschheit beitragen, stünden wir mit leeren Händen da.“

Béatrice Achaleke, Aktivistin

„Oh Gott“, sagt Béatrice Achaleke auf die Frage nach ihrer Herkunft – und dann ziemlich forsch: „Ich komme aus Breitenfurt. Nach Wien ging ich, um zu studieren.“ Die ständige Fragerei, woher sie denn komme, geht ihr auf die Nerven. Deswegen verweigert sie oft die Antwort. Es ist ihre Strategie, mit der Doppelbödigkeit umzugehen, der sie sich als Migrantin ausgesetzt fühlt. Die Gesellschaft fordert, dass sie sich integriert, behandelt sie aber dennoch als eine „sichtbar Andere“. „Ich bin österreichische Staatsbürgerin und möchte auch als solche behandelt werden.“
Die Entscheidung, Österreicherin zu sein, hat Achaleke auch wegen ihrer hier geborenen Kinder getroffen. „Ich möchte nicht, dass sie irgendwann das Gefühl haben, ihre Mama sei immer die Ausländerin. Den Gastarbeitern warf man vor, zwischen zwei Welten zu leben. Ich habe für mich gewählt: ‚Hey, Kinder, wir sind hier zu Hause!‘“ So sollen ihre Kinder besser damit umgehen können, wenn man ihnen sagt, sie seien Ausländer, weil sie anders als die klassischen Österreicher aussehen.
Zu ihren Wurzeln steht sie dennoch. „Meine Kinder haben afrikanische Namen, ich kleide mich kamerunisch, ich koche kamerunisch. Aber ich wähle aus, welche Identität ich wann benutzen will.“
Achaleke ist politisch aktiv. Sie leitet die Organisation Afra (International Center for Black Women’s Perspectives) in Wien. Sie engagiert sich für ein Antidiskriminierungsgesetz, das seinen Namen verdient, für Chancengleichheit und Mitbestimmung schwarzer Frauen in der Europapolitik. „Ich möchte dorthin, wo die Entscheidungen getroffen werden. Ich möchte mich einmischen. Aber nicht als schwarzes Aushängeschild und Alibiprojekt österreichischer oder europäischer Politiker.“
Die politischen Parteien und Institutionen müssten sich öffnen, um Chancengleichheit aller Bürger und Bürgerinnen zu ermöglichen. Allein zu sagen, man sei gegen Rassismus, genüge nicht. Wiens Politiker beteuern „Wien ist eine offene Stadt“ oder „Wien braucht euch“, um Migranten für die Polizei anzuwerben. Gleichzeitig wird ein Schwarzer in der U-Bahn von Polizisten brutal niedergeschlagen. „Daran zeigt sich, dass die propagierte Öffnung und das Streben nach Vielfalt bloße Lippenbekenntnisse sind.“
Dasselbe gilt für Schlagworte wie „grenzenloses Europa“. „Ich kenne Europas Grenzen genau“, sagt Achaleke. „Man braucht nur an die Grenzen von Italien und Spanien schauen und beobachten, was auf hoher See passiert.“ Die EU wisse genau, warum so viele Afrikaner aus Afrika flüchten. Weil die Lebensgrundlagen von Afrikanern von der EU-Politik systematisch beschnitten werden. In der Fischerei etwa. Seit 15 Jahren fischen europäische Schiffe ganze Küstenstreifen, beispielsweise an der Küste Senegals, leer. Für die einheimischen Fischer in ihren kleinen Booten bleiben kaum mehr Fische übrig.
Trotz dieser ökonomischen Realitäten, die den Afrikanern bewusst sind, ist das Europa-Bild in Afrika noch immer viel zu positiv. Wer es nach Europa schafft, erreicht Wohlstand. Das stimme mit der Realität nicht überein.
Was bewirkte die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten? „Es gab eine Euphorie“, sagt Achaleke. „Und mein siebenjähriger Sohn möchte eines Tages österreichischer Verteidigungsminister werden.“

Bahram Parsa, Regisseur
Er steht jeden Morgen um fünf Uhr auf. Um diese Zeit gibt es via Satellit die besten TV-Nachrichten aus dem Iran. Er schreibt einen Blog. Auf Farsi. Seit sieben Jahren lebt Bah­ram Parsa in Wien. Doch ein Teil seines Ichs ist in Persien geblieben. Aufgrund seiner Arbeit als Künstler war er vom Mullah-Regime immer wieder verhaftet und gefoltert worden. Nach seiner Flucht aus dem Iran lebte er in Pakistan, Indien, Thailand, China, der Türkei. Überall fühlte er sich verfolgt. Er ging nach Sarajewo, nach Slowenien. Er benutzte gefälschte Pässe und verkleidete sich, je nach Bedarf, als belutschischer Bauer oder italienischer Mafioso. Die Rollenspiele beherrscht er. Bahram Parsa ist Schauspieler, Regisseur, Drehbuchschreiber. Und Anhänger des altpersischen Weisen Zarathustra. Damit stand er in Fundamentalopposition zum Regime der Mullahs im Iran.
2002 kam er nach Österreich und erhielt drei Jahre später politisches Asyl. Österreich ist seine neue Heimat. Er schätzt das Land, die Kultur, die gute medizinische Versorgung. Er hat Theaterstücke für Kinder geschrieben und inszeniert. Und er deckt Scheinheiligkeit auf, wo immer er sie sieht. Vor allem auch bei Flüchtlingen – wie jenem Tschetschenen, der in einem Supermarkt etwas gestohlen hatte. „Um vier Uhr morgens betest du zu Allah, um neun Uhr, zu Mittag, und jetzt stiehlst du?“, stellte Parsa ihn zur Rede. „Das sind ja Ungläubige“, erwiderte jener. „Diese Leute haben dir die Freiheit gegeben!“, rief Parsa. Empfindlich reagiert er auch auf islamische Vorstellungen von Sitte. „Das ist nicht richtig, dass sich ein Mädchen und ein Bursch auf der Straße küssen“, meinte eine Frau. Er sagte ihr: „Du bist in ihr Land gekommen. Wenn es dir nicht passt, geh zurück.“

Ghousuddin Mir, Jugendbetreuer
Auch Ghousuddin Mir ist vor radikalen Islamisten geflohen. Als Politiker in Afghanistan hatte er Konflikte mit islamistischen Kämpfern, den Mudschahedin. Ghousuddin war früher dem ÖVP-Politiker und Völkerrechtsexperten Felix Ermacora begegnet und bat ihn angesichts seiner Probleme um Hilfe. Durch diesen Kontakt gelang es ihm, nach Österreich zu kommen, seine Familie nachzuholen und politisches Asyl zu bekommen.
Jetzt arbeitet er als Jugendbetreuer in einem Don-Bosco-Heim – und hat dort immer wieder mit flüchtenden Afghanen zu tun. Auch privat prägt das Land seine Aktivitäten. Ghousuddin gründete einen afghanischen Kulturverein in Wien und schaffte es, die vielen Ethnien, die einander oft feindselig gegenüberstehen, zu gemeinsamen Feiern zu motivieren. Das war nicht selbstverständlich. Als einige Paschtunen ihren Führungsanspruch auch nach Österreich verlegen wollten, beschied er ihnen: „In Österreich sind wir alle Ausländer. Wir sind alle gleich. Also hört mit euren Kämpfen auf.“
Am Neujahrsfest „Nauroz“ nahmen kürzlich an die tausend Menschen teil. Als Star des Abends lud Ghousuddin eine berühmte Sängerin ein. „Ein afghanisches Neujahrsfest mit einer Sängerin als Star. Auch das ist ein Akt des Widerstands.“ Schließlich hatten die Fundamentalisten die Frauen aus der Gesellschaft ausgeschlossen und wollten die 5000 Jahre alte Kultur der Afghanen zerstören, indem sie traditionelle Feste verboten.

Astrid Kasparek, Margarete Endl, Economy Ausgabe 71-03-2009, 27.03.2009

Zwischen großem Geld und Gemeinwohl

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Die USA trauen sich an die Förderung früher klinischer Phasen heran, Europa weniger. Neben dem hohen Risiko ist es vor allem die Interessenabwägung hinter den Forschungsprojekten, die als längst nicht trivial gilt.

800 Mio. Dollar kostet die Entwicklung eines modernen Medikaments im Durchschnitt. Um schließlich zum Patienten zu gelangen, müssen vorklinische und klinische Studien erfolgreich abgeschlossen sein. An die zehn Jahre dauert dabei alleine das vorklinische Prozedere. Erst danach kommen Tests an Menschen ins Spiel.
In der ersten klinischen Phase wird die Sicherheit des Medikaments überprüft. Danach gilt es die Dosierung zu testen, die Phase III führt schließlich zur Markteinführung des Arzneimittels. Je näher die Zulassung rückt, desto umfangreicher und teurer werden die Studien. Wer es einmal in den klinischen Bereich geschafft hat, hat laut Statistik der US Food and Drug Administration (FDA) auch nur eine zehnprozentige Chance, dass am Ende eine Zulassung herausschaut. Konzerne wie Bayer haben laufend an die 50 Projekte in den klinischen Phasen. Nahezu 50 Prozent der Forschungs- und Entwicklungskosten der Pharmaunternehmen gehen hier auf.
Die Pharmariesen flüchten sich vor den explodierenden Kosten in die Globalisierung. Die teuren Phasen II und III, bei denen vor allem Ausgaben für medizinisches Personal anfallen, verlegen etwa US-Unternehmen mit Vorliebe nach Indien oder Südamerika.

Frühförderung in den USA

Medikamentenentwicklung findet freilich nicht nur bei Pharmakonzernen, sondern auch an Universitäten und in Krankenhäusern statt, die allesamt auf die finanzielle Hilfe von außen angewiesen sind. In den USA werden dabei typischerweise auch frühe klinische Phasen gefördert. Tendenziell ist dies mit einem höheren Risiko verbunden, zumal der Wirkstoff von seiner Markteinführung noch ein gutes Stück entfernt ist. Gleichzeitig ist auch die Phase III vor Überraschungen nicht gefeit. Zuletzt holte sich etwa die University of California in San Diego eine Finanzierung der National Institutes of Health (NIH) über 5,4 Mio. Dollar ins Haus. Das Projekt ist ein Phase-II-Test eines Wirkstoffs gegen Alzheimer. Finanzierungen wie diese räumen zwar auch in den USA die Kritik nicht aus, dass sich die NIH lieber auf kurzfristige Projekte verlegen, die mehr Sicherheit versprechen. Für europäische Verhältnisse würde eine solche Finanzierung zumindest als wichtiger Schritt in die richtige Richtung gelten.
Da sich Pharmakonzerne in der Regel eher die Rosinen aus dem Kuchen picken und an Arzneimitteln für seltene Krankheiten wenig Interesse zeigen, gewährt der US-Staat steuerliche Nachlässe für all jene, die sich der Herausforderung doch stellen. Damit haben auch Studien an Unis gute Chancen. Wer Medikamente für Krankheiten beforscht, die weniger als 200.000 US-Amerikaner betreffen (Orphan Drug Indication), erhält bis zu 50 Prozent der Studienkosten vom Finanzamt erlassen sowie das Recht, das Produkt sieben Jahre lang exklusiv zu vertreiben. Zudem wird die Zulassung zumindest administrativ etwas erleichtert.
Einen nur geringen Anteil machen klinische Studien bei der Projektvergabe des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF aus. „Das kann bei manchen Kollegen den Eindruck erwecken, klinische Studien würden vom FWF prinzipiell nicht unterstützt“, schreibt dieser zum Thema. Vielmehr sei richtig, dass man sich groß angelegte klinische Studien schlicht nicht leisten könne. „Vielversprechende, klar umgrenzte“ Projekte hingegen, die einen entsprechenden Neuheitscharakter aufweisen, würden durchaus in Betracht gezogen.

Weniger Anträge

Bei einer Veranstaltung zum 30-jährigen Bestehen der Ethikkommission am Allgemeinen Krankenhaus und der Medizinischen Universität in Wien verliehen Mediziner ihrem Unmut über die Förderungssituation im Land Ausdruck. Es gebe so gut wie keine Forschungsgelder für unabhängige Arzneimittelstudien, insbesondere im Grundlagenbereich, hieß es. Gerade für diesen ist es traditionell besonders schwierig, Geld von Pharmafirmen einzuwerben. Entsprechend sei die Zahl der nicht vonseiten der Wirtschaft bezahlten Anträge, die bei der Ethikkommission in den Jahren 2003 bis 2008 eingingen, von 100 auf die Hälfte gefallen.
Als zusätzliches Erschwernis, insbesondere für akademische Forschung, galt zunächst auch die EU-Richtlinie 2001/20/EG, die für Genehmigung und Aufsicht klinischer Studien einen europäischen Standard herausbilden sollte. Die Hauptforderung: Projekte müssen einen einzigen Sponsor haben, bei dem Verantwortung und Haftung liegen. Für Unis, wo im Gegensatz zur industriellen Medikamentenentwicklung Finanzierung und Verantwortung auf eine Handvoll Partner verteilt sind, schien dies kaum umsetzbar.
Auch geht es in diesem Bereich oftmals um Vergleiche und Optimierungen von Therapien. Das vorgeschlagene Rahmenwerk wäre dafür schlicht überdimensioniert. Für die britische Krebsforscherin Sue M. Richards scheint der Unterschied klar: „Studien der Pharmaindustrie richten sich letztlich am Gewinn aus, öffentliche am Erfolg bei den Patienten.“ Die entschärfte Version der Direktive (2005/28/EG) folgte rasch. Diese brachte unter anderem Erleichterungen in der Dokumentation und die Lockerungen gewisser Details der sogenannten guten klinischen Praxis.
Wie sich das neue Regelwerk auf die Anzahl der Projekte auswirkt, versuchte das British Medical Journal (BMJ) herauszufinden. So sei bei der Medikamentenentwicklung an Unis in ganz Europa ein Rückgang zu verzeichnen. Dieser habe jedoch bereits Anfang der 1990er Jahre eingesetzt. Sonst hätte die Direktive in Europa keine nennenswerten Auswirkungen. Anders jedoch in Österreich. Hier soll es laut BMJ einen Einbruch nicht industriell finanzierter Uniprojekte von 66 Prozent geben. Die Zahl industriell bezahlter Vorhaben blieb gleich. Das Fazit der Autoren: In Österreich habe sich das Thema der guten medizinischen Praxis einfach noch nicht entsprechend durchgesetzt.

Economy Ausgabe 71-03-2009, 27.03.2009

Wo steht die Forschung?

Wo steht die Forschung?Ruhr-Universität Bochum

Beachtliche 90 Prozent der Grundlagen­forschung finden hierzulande an den Universitäten statt. Darüber, wie diese Forschungsarbeit künftig gefördert werden soll, wird derzeit heftig debattiert.

Eigentlich ist die Sache denkbar einfach: Wissenschaftliche Exzellenz beginnt bei der individuellen Leistung jeder einzelnen Forscherin und jedes einzelnen Forschers, aus eigenem Antrieb den Stand der Forschung aktiv und hoch ambitioniert voranzutreiben.
Relevant wird diese Feststellung, wenn man berücksichtigt, dass Österreichs Universitäten mit dem Universitätsgesetz aus dem Jahr 2002 die Möglichkeit und die Verpflichtung bekommen haben, sich in ihrer Autonomie in Forschung und Lehre zu positionieren, aber auch sich zu profilieren.
Fragt sich nur: Worin besteht nun konkret die Profilierung einer einzelnen Universität? Was genau kennzeichnet exzellente Forschungsleistungen? Und vor allem: Wie kann letztendlich die Qualität von universitärer Forschung bewertet und gegebenenfalls verglichen werden?
Das Thema „Hochschulforschung in Österreich“ war Gegenstand einer Konferenz des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, die dieser Tage in Wien über die Bühne ging. Diskutiert wurde dabei unter anderem darüber, wie man methodisch ein Bild der Forschungslandschaft der heimischen Hochschulen veranschaulichen könne und welchen Einfluss internationale Entwicklungen auf die Ausrichtung der österreichischen Hochschulforschung hätten.

Forschung und Lehre
Wissenschaftsminister Johannes Hahn (ÖVP) betonte in seinem Eingangsstatement einmal mehr, dass auf die Universitä­ten des 21. Jahrhunderts eine Vielzahl von Herausforderun­gen zukommen würde, die es zu meistern gelte. Auch wenn man sich der gro­ßen Tradition des humboldtschen Ideals von der Einheit von Forschung und Lehre verpflichtet fühle, müsse man künftig verstärkt dem Bereich „Bildung und Ausbildung“ an den Unis Rechnung tragen. „Wir müssen mit Humboldt brechen, um ihn neu definieren zu können“, so Hahn.
Im Fokus der Veranstaltung befanden sich in weiterer Folge die Ergebnisse einer Input-Output-Analyse der öster­reichischen Universitäten. Durchgeführt wurde die Auswertung von Marcus Hudec, der an der Universität Wien am Institut für Scientific Computing tätig ist, und seiner Firma Data Technology, die bereits früher im Auftrag von Ministerien und öffentlichen Institutionen statis­tische Daten aufbereitet und analysiert hat. Methodisch wurde dabei so vorgegangen, dass die wissenschaftlichen Stellen der jeweiligen Universität in sogenannten Vollzeitäquivalenten als „Input“ genommen und in Relation zum Output, in diesem Fall Publikationen in Zeitschriften und Fachbüchern und Vorträge auf internationalen Konferenzen, gesetzt wurden. Keine Berücksichtigung fand der Output der Lehre, also etwa, wie viele Absolventen die Uni aufzuweisen hat.
Demnach haben Naturwissenschaftler der Universitäten Graz und Innsbruck in puncto Publikationen österreichweit die Nase vorne. Unter dem Durchschnitt liegen die Wissenschaftler der Technischen Universität Graz und der Universität für Bodenkultur in Wien. In den Sozialwissenschaften wiederum wird an den Universitäten Wien und Innsbruck mit Abstand am meisten publiziert, bei den Medizinern ist es so, dass die Innsbrucker sowohl bei Veröffentlichungen als auch bei internationalen Vorträgen überdurchschnittlich präsent sind.

Diskussionsgrundlage

Freilich sei, betonte Hudec, bei der Interpretation all dieser Daten Vorsicht geboten. Schließlich würde eine derartige Auswertung lediglich die Forschungsseite berücksichtigen, nicht aber die unterschiedliche Lehrbelastung der Professoren in den jeweiligen Fachbereichen. Eine gründliche Evaluation der Unis könne durch diese Auswertung jedenfalls nicht ersetzt werden. Einen Zweck hat die Input-Output-Studie jedoch: Sie dient als eine Grundlage für die Verhandlungen über die Leistungsvereinbarungen zwischen dem Ministerium und den Universitäten für die kommende Periode.

Economy Ausgabe 71-03-2009, 27.03.2009

Forschung mit staatlichem Beistand

Forschung mit staatlichem Beistand

Im Wissenschaftsministerium sorgt eine Abteilung dafür, dass Forschungsleistungen dokumentiert werden.

Die Abteilung für forschungspolitisches Hochschulwesen und Programme wurde etabliert, weil es bedingt durch die Autonomie der Universitäten lange Zeit eine Lücke zwischen der Sektion „Hochschulen“ und der Sektion „Forschung“ gab. Mit der neuen Abteilung nimmt das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung nunmehr auch die Aufgabe wahr, Forschung an den Universitäten und Fachhochschulen entsprechend zu betreuen.
Neben der Koordination der periodisch ausverhandelten Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten hat sich das Team rund um Abteilungsleiter Günter Burkert-Dottolo zur Aufgabe gesetzt, in den nächsten Jahren eine Art Forschungslandkarte der österreichischen Universitäten und Fachhochschulen – einschließlich der Privatuniversitäten – zu erstellen. Andere Länder wie zum Beispiel Deutschland verfügen bereits seit geraumer Zeit über eine derartige Auflistung.

Sichtung von Daten
In Österreich ist man derzeit damit befasst, entsprechendes Datenmaterial ausfindig zu machen. Erschwert wird dieses Unterfangen dadurch, dass durch die Auto­nomie der Unis das bislang im Ministerium gesammelte Material mittlerweile obsolet wurde, weil eben in den letzten Jahren keine neuen Unterlagen hinzugekommen sind. Tatkräftige Unterstützung bei der Eruierung kommt hierbei aber von den Universitäten selbst, schließlich haben auch diese ein vitales Interesse daran, sich in diesem Bereich einen entsprechenden Überblick zu verschaffen. Parallel zum Tagesgeschäft veröffentlicht die Abteilung für forschungspolitische Hochschulfragen und Programme ein 14-tägiges Journal, in dem ein aktueller Überblick über die weltweite
Diskussion im Bereich der Forschungs- und Bildungspolitik gegeben wird. Ebenfalls angedacht ist darüber hinaus ein regelmäßiger persönlicher Erfahrungsaustausch mit vergleichbaren Einrichtungen in Europa. sog

Economy Ausgabe 71-03-2009, 27.03.2009

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