Der Kommunismus ist tot, das Ideal lebt
EPA Kommunismus als Staatsform ist gescheitert. Die Utopie einer Gesellschaft ohne Armut und Ausbeutung lebt dennoch weiter. Freie Liebe ohne Eifersucht ist schwer lebbar. Das Ideal einer freien Liebe existiert trotzdem.
Vielleicht war er schon leicht abtrünnig, vielleicht sollte er auf orthodoxe Pfade zurückgeführt werden, vielleicht war er für höhere Weihen berufen. Jedenfalls schickte die Kommunistische Partei Österreichs ihr Mitglied Robert Sommer 1988 für ein halbes Jahr nach Moskau. Zwecks Kaderschulung. Doch die Partei hatte nicht wirklich mitgekriegt, was in Moskau los war.
„Die dogmatischen Kommunisten aus der Breschnew-Zeit waren weg aus der Schule“, erzählt Sommer. „Die neuen Lehrer waren gegenüber dem alten System total kritisch und erzählten Schauergeschichten darüber, was sich hinter den kommunistischen Fassaden wirklich abspielte.“ Es war die Zeit von Michail Gorbatschow, der als Generalsekretär der Kommunistischen Partei mit Glasnost (Transparenz, Meinungsfreiheit) und Perestroika (Erneuerung) die Sowjetunion umzubauen versuchte.
„Aus der geplanten Gehirnwäsche ist nichts geworden“, sagt Sommer. Stattdessen erlebte er eine Aufbruchsstimmung, wie es sie nur ganz selten gibt. „Es knisterte. Die Leute, die sonst eher resignativ sind, waren involviert und interessiert. Sobald eine neue Zeitung in einem Schaukasten aufgehängt wurde, bildeten sich Trauben von Menschen, die lesen wollten, was gerade wieder aufgedeckt worden war.“
Zurück in Österreich trat Sommer aus der KPÖ aus.
Hehre und furchtbare Ideale
Den Traum von einer Gesellschaft, in der Menschen frei von Zwang und Ausbeutung sind und mit ihrer Arbeit dem Gemeinwohl dienen, gibt es seit Langem. Zumindest seit zweitausend Jahren ist er dokumentiert. Die Versuche, den Traum zu realisieren, sind aber meist nur kurzlebig. Das 20. Jahrhundert war besonders reich an Versuchen, Utopien in die Wirklichkeit umzusetzen. Und besonders ernüchternd. Der Reihe nach scheiterten die hehren Ideale – aber auch die furchtbaren „Ideale“, etwa der Versuch von faschistischen Bewegungen, „rassen“-reine Menschen zu züchten.
Auch aus den Idealen, die die legendenumrankte Genera-tion der 68er entwickelte – eine freie Gesellschaft ohne Zwang und Ausbeutung, freie Liebe ohne Eifersucht und eine echte Gleichheit von Mann und Frau – ist bis auf Weiteres nichts geworden.
Das kommunistische Ideal, das keine Erfindung von Karl Marx war, sondern auch urchristliche Gemeinschaften erdacht hatten, ist nach 70 Jahren Sowjetunion wieder zur Utopie geworden. Millionen von Menschen wurden im Laufe der Jahre durch die kommunistische Realität in der Sowjet-union und in China ernüchtert, und die Hoffnungen der letzten Gläubigen zerbrachen bei der Auflösung der Sowjetunion.
Ernüchtert sind auch die Anhänger der freien Liebe. Im Zuge der sexuellen Befreiung ab den späten 1960er Jahren probierten viele Paare die Liebe ohne sexuelle Treue.
Anna war mit Peter zusammen. Und verliebte sich in Paul, Peters besten Freund. Die höchsten Werte der drei waren Offenheit und Vertrauen. Anna schlief mit Peter, und sie schlief mit Paul, und beide Männer wussten davon. Glücklich waren sie nicht darüber, aber sie machten keine Eifersuchtsszenen. Das wäre reaktionär gewesen. Eifersucht und Angst vor dem Verlassenwerden spürten die Männer dennoch. Manchmal gingen die beiden Freunde auch auf ein paar Biere, um zu reden, aber sie konnten es nicht wirklich. Denn Eifersucht, so ihre Überzeugung, war bürgerliches Besitzdenken und deshalb verwerflich, und wer sie dennoch spürte, musste sie bekämpfen und unterdrücken.
Als Anna schwanger wurde und ein Kind zur Welt brachte, aber nicht wusste, wer der biologische Vater war, wurde alles noch ein wenig komplizierter. Ein Vaterschaftstest wäre erzreaktionär gewesen. Beide Männer waren als Papa glücklich. Irgendwann entschied sich Anna für Paul und die ganz normale Kleinfamilie. Weil ihr die eigene Zerrissenheit zwischen den zwei Männern zu schaffen machte. Die Namen der drei Personen sind geändert, aber die Geschichte ist wahr.
Viele Paare haben sich ernsthaft mit dem Konzept einer freien Liebe, einer offenen Beziehung auseinandergesetzt. Da geht es nicht um das Ausleben sexueller Fantasien durch Partnertausch oder Gruppensex. Das ist auch passiert, aber das ist nicht mit einer offenen Beziehung gemeint.
Das Konzept der freien Liebe geht tiefer. Es entsteht aus einer Philosophie der Freiheit. Ein Mann gesteht seiner Partnerin zu, sich in einen anderen Mann zu verlieben und mit ihm eine sexuelle Beziehung einzugehen. Er gesteht ihr das zu, weil er die Frau, die er liebt, nicht besitzen will. Sie soll frei sein, sich voll und ganz zu verwirklichen.
Unterfüttert wurden diese idealistischen Strömungen unter anderen vom Philosophen Erich Fromm, der mit seinem Büchlein Die Kunst des Liebens einen Millionen-Bestseller landete und mit seinem 1976 erschienenen Werk Haben oder Sein das Ideal einer seinsorientierten Lebensweise beschrieb. „Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen. (...) Wird Liebe aber in der Weise des Habens erlebt, so bedeutet dies, das Objekt, das man ‚liebt‘, einzuschränken, gefangen zu nehmen oder zu kontrollieren. Eine solche Liebe ist erwürgend, lähmend, erstickend, tötend statt belebend“, schreibt Fromm in Haben oder Sein.
Natürlich gab es auch Paare, bei denen ein Partner, meistens der Mann, unilateral die Beziehung für offen erklärte und es hemmungslos mit anderen trieb, während der/die andere, meistens die Frau, darunter litt. Die Eifersucht lässt sich nur schwer mit dem Kopf bewältigen, wenn sie im Herzen wehtut. Als Ideal für die gelebte Form einer freien Liebe galt lange Zeit, zumindest in Intellektuellenkreisen, die Beziehung zwischen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Bis nach ihrem Tod zahlreiche Biografen auch diese Beziehung entzauberten.
Die heute Zwanzigjährigen halten das sowieso für uncool. Die höchsten Werte sind Offenheit, Vertrauen und Treue. Die Experimente ihrer Eltern sind vorgestrig. Wer eine Freundin hat, aber mit einer anderen Frau schläft, ist ein fieser Kerl.
Heute leben die meisten, die früher mit freier Liebe experimentierten, die Monogamie, wenn auch oft eine serielle. Konsekutive Liebe scheint leichter lebbar zu sein als simultane Liebe. Die Jungen probieren es anscheinend gar nicht mehr. Das Pendel hat zurückgeschlagen.
Keine Hierarchie als Utopie
Manche Utopien leben weiter. „Meine Utopie ist dieselbe, die ich schon mit 16 hatte“, sagt Robert Sommer: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“ Die Ziele der Französischen Revolution. „Die Kommunisten haben vertreten, dass der Zweck die Mittel heiligt. Damit hatte ich immer schon Probleme.“ Er ist davon überzeugt, dass man mit Mitteln der Gewalt nicht die Gewaltlosigkeit erreichen kann.
Sein neuer Weg ist, sich jetzt schon seiner Utopie zu nähern und in seinem Lebensbereich eine hierarchielose Gesellschaft zu verwirklichen. Gemeinsam mit seiner Partnerin gründete Sommer vor 14 Jahren die Obdachlosenzeitung Augustin, die gleichzeitig ein Sozialprojekt ist. Sommer wäre wohl Chefredakteur, wenn es Chefs gäbe. Doch im 13-köpfigen Team gibt es strikt keine Hierarchien.
Economy Ausgabe 68-01-2009, 01.01.2009