,,Unheimlich viel verdienen"
www.syl-eckermann.net Sylvia Eckermann: „Das offizielle China nutzt zeitgenössische Kunst als Aushängeschild“
Fortschritt. Wandel. Utopie. Was bedeutet das in Europa, was in China? Die österreichischen Medienkünstler Sylvia Eckermann und Gerald Nestler ergründen mit ihrem Projekt „Breathe My Air“, wie sich China verändert – und wie statisch Österreich im Vergleich dazu ist. Ihr Projekt ist eine „unsichtbare Skulptur“: ein mit Sauerstoff angereicherter, abgegrenzter Raum, in dem sie die Zeugnisse einer intensiven Kommunikation präsentieren. Eckermann/Nestler haben europäische Künstler und Künstlerinnen interviewt, die Erfahrung mit China haben, sowie chinesische Künstler, die Erfahrung mit Europa haben. Im Mai 2009 wird der Diskurs von CPU:798, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Peking, präsentiert.
economy: Als Künstler brauchen Sie Freiheit zum Denken. Warum arbeiten Sie ausgerechnet in China?
Sylvia Eckermann: China als Staat, als politisches System, ist etwas anderes als die Menschen, die mit ihren Kulturen, Denkweisen, Identitäten in China leben, fühlen, Kunst machen und sehr wohl eine Stimme haben. Allein der Gedanke, man könne nicht nach China reisen, weil dort nicht gedacht werden darf, birgt viel westliche Arroganz in sich. Zensur und politische Einflussnahme gibt es auch in Österreich. Ich will damit nicht die groben Fahrlässigkeiten, Brutalitäten und Unmenschlichkeiten, zu denen das politische System in China fähig ist, unterschätzen oder kleinreden. Keineswegs. In China gibt es Menschen, die denken – so, wie es sie bei uns gibt. Und es gibt Menschen, die sich damit schwertun, genauso wie bei uns.
China steckt Blogger ins Gefängnis. Wie haben Sie da Luft zum Atmen?
Gerald Nestler: China ist das Land mit den meisten Bloggern der Welt – eine neue Statistik spricht von 60 Millionen. Die Regierung kontrolliert, zensuriert und sperrt immer wieder Seiten. Auch unsere Webseiten waren unlängst blockiert – aus uns völlig rätselhaften Gründen. Solche Blockaden werden aber mit Proxy-Tools umgangen. Es ist ein „Katz und Maus“-Spiel mit der Regierung, die natürlich auch bestraft. Meistens indirekt – man hat dann plötzlich eine Steuerprüfung. „Das Land ist zu groß“, meint eine Freundin, „um etwas von oben nach unten durchsetzen zu können.“ Blogger lösen Druck aus. Druck auf die Regierung, die dann Ventile öffnet. Das Nachgeben erfolgt natürlich gezielt und punktuell, und die Regierung ist extrem gewieft im Ausnutzen ihrer Möglichkeiten. Jede Freiheit birgt auch einen Vorteil für die regierende Schicht. Gleichzeitig geht China immer mehr in Richtung eines partizipativen politischen Systems. 60 Mio. Blogger, das sind fünf Prozent der Bevölkerung. Wie viele aktive Blogger gibt es in Östereich?
Keine Ahnung. Wie lebendig ist die Kunstszene in Peking?
Eckermann: Sehr lebendig, sehr veränderlich. Das offizielle China nutzt zeitgenössische Kunst als Aushängeschild. Einige Künstler können unglaublich viel verdienen – man muss nur die Preise ansehen, die bis vor Kurzem für zeitgenössische chinesische Kunst gezahlt wurden. Europäern würden die Augen herausfallen, wenn sie sähen, unter welchen Bedingungen nicht wenige Leute hier arbeiten – riesige Ateliers, luxuriöse Autos und eine große Zahl von Assistenten. Viele Arbeiten, die man hier sieht, sind im Westen gar nicht möglich oder extrem schwierig zu realisieren – weil sie einfach zu teuer sind. Größe, Material und Aufwand würden sich bei uns nie und nimmer rechnen.
Was ist in Peking Avantgarde?
Nestler: Zurzeit ist der diskursive Aspekt von avantgardistischen Bewegungen in den Hintergrund gedrängt. Der Markt, das Geldverdienen, beherrscht auch die Kunst völlig. Einer unserer Freunde hier hatte bis vor vier Jahren nichts außer einem winzigen Atelier. Heute fährt er im neuen BMW zwischen einem Computerstudio, wo etwa 15 Leute arbeiten, und dem Atelier hin und her, durch sich täglich ändernde Stadtlandschaften einer unglaublichen Dimension.
Werden Fortschritt und Veränderung in China intensiver erfahren als in Österreich?
Eckermann: Unsere Freunde hier in Peking erzählen, dass sich alles so schnell verändert, dass es unmöglich geworden ist, sich in der Stadt noch zurechtzufinden. Wenn man zwei Wochen später an denselben Ort kommt, ist alles anders. Den Ort, wo man aufwuchs, gibt es mit größter Wahrscheinlichkeit schon lange nicht mehr. Selbst der Ort, an dem man vor einem Jahr noch wohnte, ist einem anderen gewichen. Alles ist in Fluss. In Österreich gibt es Fortschritt und Veränderung nur in homöopathischer Dosis. Dagegen ist Veränderung das Prinzip Chinas geworden.
Kommunistische Utopien sind zerbrochen und über Bord geworfen worden. Was bedeutet das Wort „Utopie“ heute?
Nestler: So wie wir den Begriff im Westen verstehen, gibt es ihn in China nicht. Er war nie Teil der Philosophie. Es gibt kein Schriftzeichen dafür – das wurde erst erfunden, um den Begriff ins Chinesische zu übersetzen. Die Idee der Projektion auf einen „Nicht-Ort“ mit all seinen Möglichkeiten ist hier fremd. China benötigt keine Utopie, da seine Philosophie auf Fließen ausgerichtet ist. Es wird das getan, was jetzt getan werden muss. Alles passiert jetzt und hier. „Wir wissen zwar noch nicht, wohin, aber dafür sind wir schneller dort“ – dieses Zitat von Qualtinger als Devise unserer Elterngeneration trifft auch auf die Generation zu, die in China in den 1960er Jahren geboren wurde und nun mit Ehrgeiz und Fleiß und vielen persönlichen Opfern versucht, das Land aufzubauen.
Economy Ausgabe 67-12-2008, 01.12.2008