Gegen Diabetes und die Unlust
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Die Entwicklung von Medikamenten dauert lange, ist teuer und trägt das Risiko in sich, dass erhoffte Wundermittel nichts taugen. Boehringer Ingelheim entwickelt neue Mittel gegen Diabetes – und gegen sexuelle Unlust.
Das Phänomen ist bekannt: Je reicher ein Staat wird, desto dicker werden seine Bürger. Eine Folge der Wohlstandsbäuche sind unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ II-Diabetes.
Ein anderes Phänomen wird mit wachsender Sorge beobachtet: Wenn Menschen in armen Ländern wie Indien und China im Laufe der Industrialisierung wohlhabender werden und ihre Ernährung, ihren Lebensstil ändern, so ist ihr Risiko, Wohlstandskrankheiten wie Typ II-Diabetes zu bekommen, deutlich höher als bei Europäern und Amerikanern. Das ist zwar ungerecht, aber empirisch belegt. Die Vermutung von Medizinern: Wenn Körper über Generationen hinweg mit Hunger und Mangelernährung zurechtkommen mussten, können sie einen plötzlichen Nahrungs-überfluss nicht bewältigen.
Die Prognose des Internationalen Diabetes-Verbands für die nächsten 20 Jahre ist alarmierend: 2007 hatten rund 246 Mio. Menschen Diabetes. Die-se Zahl wird bis 2025 auf 380 Mio. Menschen steigen, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Die größten Wachstumsraten gibt es in Südostasien und im Westpazifik inklusive China. In Europa wird die Zahl der Diabetes-Kranken zwar auch steigen, aber langsamer: von jetzt 53 auf 64 Millionen. Solche Zahlen variieren zwar von Studie zu Studie, doch die Tendenz einer Diabetes-Epidemie ist eindeutig.
Neues Terrain betreten
Pharmaunternehmen, die gegen eine bestimmte Krankheit kein Kraut in ihrem Portfolio haben, müssen angesichts
einer Epidemie wie Diabetes entscheiden, ob sie sich den langen, sauteuren, risikoreichen Forschungsprozess antun und auf einem neuen Gebiet nach Medikamenten suchen. Der deutsche Pharmakonzern Boeh-ringer Ingelheim stand um das Jahr 2000 vor so einer Entscheidung: dort weiterzuforschen, wo man bereits stark ist. Oder gleichzeitig ein neues Terrain zu betreten. „Wir haben uns gefragt, wo wir den größten medizinischen Bedarf erwarten“, sagt Manfred Haehl, Vizepräsident für den Bereich Medizin bei Boehringer Ingelheim. „Und wo der größte klinische Fortschritt zu erwarten wäre, wenn wir etwas anbieten könnten. Fettleibigkeit ist ein großes Thema. Diabetes in China ist eines. Krebs ist offensichtlich eines.“
Seit 2001 hat man sich nun an die Diabetesforschung gewagt. Wenige Jahre später werden bereits mehrere neue Substanzen, die den Forschern vielversprechend erscheinen, getestet. Die aussichtsreichste Substanz ist bereits in Phase III der klinischen Entwicklung. Einige Sustanzen werden in Phase II-Studien getestet.
Boehringer Ingelheim zählt zu den 20 führenden Pharmakonzernen der Welt. 2007 erzielte das Unternehmen Erlöse von 10,9 Mrd. Euro und einen Gewinn nach Steuern von 1,8 Mrd. Euro. In Forschung und Entwicklung wurden 1,7 Mrd. Euro investiert. Die Forschungszentren des Konzerns sind in Deutschland, USA, Kanada und in Wien. Hier ist das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie angesiedelt, das Grundlagenforschung betreibt, hier ist auch die gesamte Krebsforschung des Unternehmens.
Pille gegen Lustlosigkeit
Das Phänomen ist bekannt: Ein Paar im Bett, er hätte gern Sex mit ihr, sie hat keine Lust. Sie hat schon lange keine Lust mehr. Obwohl sie ihren Mann eigentlich noch liebt. Nun leidet sie unter ihrem fehlenden sexuellen Verlangen oder unter der Belastung, die ihre Unlust für die Beziehung erzeugt. Psychologisch Versierte würden zu einer Psychotherapie raten. Oder zu einem entspannenden Urlaub. Oder – vielleicht – zu einem anderen Mann.
Die Pharmazeuten suchen nach anderen Lösungen. Boeh-ringer Ingelheim hat ein Medikament gegen vermindertes sexuelles Verlangen entwickelt. Hypoactive Sexual Desire Disorder soll eine medizinisch bisher unbeachtete Störung sein, von der Millionen von Frauen betroffen seien. Die Frauen hätten nicht einfach keine Lust, sondern würden unter ihrem fehlenden sexuellen Verlangen leiden. Derzeit laufen in den USA drei placebokontrollierte Phase-III-Studien mit knapp 4000 Patientinnen. Ein Zulassungsantrag bei der US-Zulassungsbehörde FDA ist für Ende 2008 geplant. Ob das Medikament an den Verkaufserfolg des Potenzmittels Viagra, das der Pharmakonzern Pfizer entwickelte, herankommen wird, lässt sich schwer abschätzen.
Wenn Hunderte Mio. Euro in die Entwicklung einer Anti-Unlust-Pille gesteckt werden, flammt eine alte Debatte wieder auf: Gegen westliche Wehwehchen gibt es viel Geld, doch gegen grausliche Krankheiten, die in abgelegenen Gebieten irgendwo in Afrika auftreten, gibt es keines. Geforscht wird dort, wo Pharmaunternehmen ein kommerzielles Interesse haben. „Man konzentriert sich auf Erkrankungen, wo ein spürbarer medizinischer Fortschritt zu erzielen ist“, sagt Haehl.
„Wenn es auch noch Millionen von Patienten betrifft, ist es noch attraktiver. Es ist richtig, dass diese Orphan Diseases, Tropenerkrankungen und solche Dinge nicht bearbeitet werden, weil sie viel Geld kosten, es aber keinen Markt dafür gibt. Da würde ich gar nicht drum herumreden.“
Ein HIV-Mittel, viele Preise
Es müsse gesellschaftliche Übereinkünfte für die Lösung solcher Probleme geben. Wie bei der globalen Bekämpfung von HIV/Aids, bei der intensiv um solche Lösungen gerungen worden ist.
Gegen HIV hat Boehringer Ingelheim das Medikament Viramune auf dem Markt. „Im Rahmen eines Schenkungsprogramms geben wir das Medikament zum Selbstkostenpreis her. Dabei arbeiten wir mit den Vereinten Nationen und der Bill-Gates-Stiftung zusammen“, sagt Haehl. „Das kann aber nur mit dem Hintergrund eines erfolgreichen Portfolios gemacht werden. Und der Akzeptanz in reichen Ländern, dass dort dieses Medikament nicht zum gleichen Preis erhältlich ist wie in den von der Weltbank als arm definierten Ländern.“